Yanis Varoufakis, Finanzminister und Shootingstar der Syriza-Regierung, bezeichnet sich selbst als unorthodoxen Marxisten und macht sich für die Rettung des Kapitalismus stark. Woher kommt diese marxistisch dekorierte Verteidigung des Kapitalismus? Spurensuche in einem mittlerweile berühmt gewordenen Essay.
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Nach dem grossen Wahlsieg der Syriza hat nun vorläufig wieder das Realitätsprinzip, verkörpert von EU, EZB und IWF, Einzug in Griechenland gehalten und die Illusionen mancher Linker hierzulande und anderswo zerstört. In wichtigen Punkten hat die griechische Regierungspartei nachgegeben: Alle Staatsschulden werden zurückbezahlt; die Troika wird nicht abgeschafft, sondern lediglich umbenannt; die «Kreditvereinbarung» wird nicht aufgehoben, sondern um vier Monate verlängert; die Regierung kann keine unilateralen Massnahmen ergreifen, also nichts umsetzen, das von der umbenannten Troika nicht abgesegnet wurde. Diese praktische Umsetzung der Anforderungen der frisch getauften Troika und der ökonomische Kontext sind zu analysieren, um die kaum vorhandenen Spielräume der griechischen Regierung offenzulegen. Schliesslich lässt sich Syriza nicht am antikapitalistischen Ideal blamieren – das hatte sie schon vor den Wahlen aufgegeben – sondern bloss an der tatsächlichen Unmöglichkeit, im Krisenkontext die griechische Ökonomie wieder auf Vordermann zu bringen und das Lebensniveau der Proletarisierten anzuheben. Natürlich lassen sich die möglichen Perspektiven von Syriza nur aus den praktischen Anforderungen und Entwicklungen der Gesellschaft bestimmen. Doch wie wird eine solche Politik theoretisch rationalisiert? Das soll im Essay «Rettet den Kapitalismus!» von Yanis Varoufakis unter die Lupe genommen werden.
Unorthodox oder Marxist?
Varoufakis nennt sich im zuerst auf Deutsch in der WOZ – wo auch sonst – veröffentlichten Essay einen «dezidierten Marxisten», um aber zu relativieren, dass er eben ein ganz und gar «unorthodoxer» Denker seiner Zunft sei. Man könnte ausführlich über die Marx-Rezeption von Varoufakis schreiben und etwa seine recht blumig-abstruse Auslegung des Doppelcharakters der Arbeit im Kapitalismus problematisieren, die darin mündet, dass der Kapitalismus untergehen müsse, wenn jemals «alle Arbeit erfolgreich in Waren verwandelt» worden sei. Oder man könnte auf die Feststellung eingehen, dass Marx «jedes Axiom von Adam Smith und David Ricardo» akzeptiert hätte, um zu zeigen, dass «im Rahmen ihrer Annahmen der Kapitalismus ein widersprüchliches System» sei. Die eigenartige Behandlung des Widerspruchs der abstrakten und konkreten Seite der Arbeit und das Ignorieren des systematischen Bruchs von Marx mit dem theoretischen Feld der politischen Ökonomie böten einigen Ansatz, um Varoufakis’ Marxauslegung zu kritisieren.
Andererseits hat der gelernte Wirtschaftswissenschafter aber auch seine ökonomische Perspektive aus der marxschen Theorie übernommen: «Die glänzende Einsicht von Marx in das Wesen der kapitalistischen Krise war genau dies: Je erfolgreicher der Kapitalismus Arbeit in eine Ware verwandelt, desto weniger Wert besitzt jede produzierte Einheit, desto tiefer ist die Profitrate und desto näher die nächste hässliche Rezession der Wirtschaft als eines Systems.» Was Varoufakis hier wiedergibt, ist seine Version des bekannten tendenziellen Falls der Profitrate. Auch diese Bestimmung ist etwas schief geraten, schliesslich geht es im marxschen Gesetz um das Verhältnis von angewandter Arbeitskraft und Auslagen im konstanten Kapital (Maschinen, Rohstoffe) und nicht um die erfolgreiche Verwandlung der Arbeit in eine Ware. Aber das entscheidende Moment der Krisenimmanenz des Kapitalismus hat Varoufakis offensichtlich von Marx entlehnt. Doch interessanter als die recht dröge Frage, ob er nun mehr unorthodox oder mehr marxistisch ist, sind die Fragen danach, wo und wie er Marx kritisiert und welche politischen Schlussfolgerungen er daraus zieht.
Varoufakis’ Marx-Kritik
Varoufakis kritisiert an Marx insbesondere zwei Momente. Marx’ Theorie sei «diskursiv aussergewöhnlich kraftvoll» und darum könne man sie gut benutzen, um die «eigene Machtbasis auszubauen und einflussreiche Positionen zu gewinnen». Marx sei anzulasten, dass er sich dieses Problems nicht bewusst war. Damit ist nach Varoufakis gewissermassen die Linie bis Stalin schon in der Geschlossenheit des marxschen Theoriegebäudes selbst angelegt. Das ist eine altbekannte Kritik und sie trifft wohl etwas in der Lehrbuchverwurstung von Marx durch die zweite und dritte Internationale, an der die politisch-programmatischen Schriften von Marx nicht ganz unschuldig waren. Doch Marx’ Werk selber ist bei weitem nicht so hermetisch wie die Weltanschauungs-TheoretikerInnen es später darstellen sollten. In Marx’ Werk finden sich allerhand Brüche und widersprüchliche Momente und Marx zweifelte im Alter wiederum an Erkenntnissen, etwa was den Königsweg zur Revolution angeht, und damit implizit auch an einer bestimmten Geschichtsauffassung, die später zum Histomat eingedampft wurde. Die Kritik von Varoufakis trifft Marx also weit weniger als den Marxismus als Ideologie, wie er auch heute leider noch unter etwas denkfauleren ZeitgenossInnen konserviert wird.
Den zweiten Vorwurf hält Varoufakis aber für schlimmer. Marx sei davon ausgegangen, dass die «Wahrheit über den Kapitalismus in den mathematischen Formeln seines Modells entdeckt werden könne.» Als Beweis für diesen Vorwurf führt Varoufakis die Reproduktionsschemata aus dem zweiten Band des Kapitals an. Varoufakis unterläuft hier aber eine kategoriale Fehlinterpretation der Reproduktionsschemata. Damit wollte Marx bei weitem nicht die «Wahrheit über den Kapitalismus» finden. Die Schemata sind Modelle auf der Ebene des «Kapitals im Allgemeinen», die eine mögliche Reproduktion des Gesamtsystems unter bestimmten Gleichgewichten darstellen sollten. Darin wird der Kapitalismus auf die Basiskategorien der Wertproduktion und Reproduktion reduziert und völlig von Konkurrenz, Kredit, Geld und vielem mehr abstrahiert. Der Fairness halber muss man sagen, dass Varoufakis mit dieser Fehleinschätzung nicht allein dasteht. Ganze Generationen von TheoretikerInnen haben aus den Schemata reelle Entwicklungen und Krisentendenzen des Kapitalismus ableiten und die Wahrheit des Kapitalismus darin entdecken wollen. Dennoch: Das Unorthodoxe an Varoufakis ist bei näherer Betrachtung seine Fehlinterpretation bestimmter Teile der marxschen Theorie und seine Vorwürfe an die Adresse des alten Herrn.
Den Kapitalismus retten
Der zweite Fehler von Marx, nämlich über eine «geschlossene Geschichte oder ein Modell zu verfügen 615-544-0612 , das letzte Wort zu behalten» sei «verantwortlich für eine grosse Zahl von Irrtümern und bedeutsamer noch für Autoritarismus». Und darum sei die Linke heute unfähig «eine Kraft für das Gute und ein Hindernis gegen den Missbrauch der Freiheit und der Vernunft zu sein». Man sieht, der Vorwurf wiegt – kombiniert mit dem ersten Fehler – schwer und verlängert die Linie Marx-Stalin zur heutigen Schwäche der Linken. Das ist eine gnadenlose Überschätzung der Kraft der Theorie. Genauso wie man die Politik von Syriza aus den gesellschaftlichen Umständen erklären muss, und nicht aus dem hier behandelten Essay, muss man die grausame Politik der stalinistischen Ära und ihre fatale Auswirkungen auf die globale proletarische Bewegung aus den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen erklären.
Hier könnte man aber noch am ehesten einen Zusammenhang zwischen der bestimmten Marxinterpretation – oder eher der Marxkritik – und der politischen Perspektive Varoufakis’ sehen; nämlich der Rettung des Kapitalismus. Doch grundsätzlich steht diese Perspektive etwas unvermittelt im vorliegenden Essay und ist kaum aus der Erkenntnis des kapitalistischen Totalitätszusammenhangs abgeleitet. Muss man auch nicht: Revolution und Konterrevolution sind schliesslich keine feinsäuberlich aus der Lektüre des Kapitals ableitbare Folgeerscheinungen der ökonomischen Logik sondern immer mit einer bestimmten Kontingenz versehen. Darum ist der Nachweis der logischen Notwendigkeit der Revolution genauso zu kritisieren wie sein Gegenteil, die Erklärung etwa, dass mit der «reellen Subsumtion» die Revolution nicht mehr möglich, sondern das kapitalistische Verhängnis hermetisch geworden sei. Es gibt für beide Deduktionen genügend Beispiele in der Geschichte des marxistischen Denkens. Dennoch sollte man sich bemühen, für die politische Perspektive eine theoretische Begründung zu liefern. Wenn Varoufakis also schreibt, dass es anstehe, «den freien Fall des europäischen Kapitalismus zu stoppen», dann ist das theoretisch eigenartig unvermittelt und abgeleitet bloss aus der historischen Konstellation der 80er Jahre.
Die wiederkehrende Katastrophe
Unter dem Titel «Die Lektion von Margaret Thatcher» legt Varoufakis dar, wie ihn die 80er Jahre – als er in England lebte – geprägt haben. «Je schlimmer, desto besser» hatte er ganz in der Tradition der banalsten Verelendungstheorie gedacht und gehofft, dass nach dem scharfen Schock der Thatcher-Regierung eine «progressive Politik» wiederbelebt werde. Doch nichts da, erklärt er: «Mrs. Thatcher erteilte mir eine harte Lektion darüber, dass eine lang andauernde Rezession jede progressive Politik zu untergraben und die Menschenfeindlichkeit ins Gewebe der Gesellschaft zu tragen vermag», darum müsse man den Kapitalismus retten, um «Zeit [zu] bekommen, um eine Alternative zu formulieren».
Nun lässt sich kaum bestreiten, dass die 80er Jahre in England eine Zeit der gesellschaftlichen Brutalisierung waren und dass mit der Zerschlagung des Minerstrike 1985 die institutionelle Bewegung der ArbeiterInnen auf ganzer Linie besiegt war. Ebenso war etwa die soziale Bewegung nach 1968 keine Erscheinung, die aus der Verelendung in der Krise geboren wurde. Aber das sind spezifische historische Situationen Reverse Phone Lookup , die auch Gegenbeispiele kennen. Man denke da etwa an die proletarischen Massenbewegungen nach den Verheerungen des ersten Weltkriegs. Revolution – oder bei Varoufakis halt eher «progressive Politik» – lässt sich aus einer vergangenen historischen Konstellation ebenso wenig ableiten, wie sie aus den marxschen Schriften deduziert werden kann.
Schwerer wiegt aber etwas anderes: Was Varoufakis und andere verschämte VerteidigerInnen des Bestehenden als Rettung der Menschheit verkaufen, ist ihr schlichtes Gegenteil. Die temporäre Rettung des Kapitalismus ist höchstens denkbar mit massiver Kapitalvernichtung und entsprechenden sozialen Verwerfungen und nicht, wie das die keynesianisch verbrämten Theorien behaupten, als Beglückung der Proletarisierten. Und das ist die wichtige Lektion, die sowohl aus der Geschichte als auch aus der Theorie gezogen werden muss: Die Rettung des Kapitalismus ist nicht die Verhinderung der Katastrophe, sie ist die immer wiederkehrende Katastrophe.
* Dieser Beitrag erschien zuerst in der sozialistischen Zeitung vorwärts und stellt eine kritische Replik auf den Text «Rettet den Kapitalismus!» des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis dar, der in deutscher Fassung erstmals in der WOZ – Die Wochenzeitung Nr. 9/15 vom 26. Februar 2015 publiziert wurde.