Walter Benjamin veröffentlichte 1921 sein Fragment «Kapitalismus als Religion». Dirk Baecker publizierte dazu 2003 als Herausgeber einen gleichnamigen Sammelband, eine hervorragende Anthologie, in welcher aus unterschiedlicher Sicht diskutiert wird, ob der Kapitalismus eine Religion sei oder nur wie eine Religion wirke. Diese Fragen sollten auch heutige Geldreformer bzw. Kapitalismuskritiker interessieren. Seit dem Zusammenbruch des «Realsozialismus» und seiner Ideologie einer bürokratisch gesteuerten Zentralverwaltungswirtschaft glaubt die grosse Mehrheit in der Welt nur noch an den «heiligen Markt» des Kapitalismus bzw. an Gott Mammon. In Zentraleuropa bezeichnen sich zwar immer weniger Menschen als Gläubige bzw. als Mitglieder einer Kirche. Man sieht sich als aufgeklärt oder religionsfern. Selbst ein reformierter Pfarrer wie Peter Ruch gibt seinen evangelischen Kirchen keine Zukunft mehr. Dennoch positionieren sich die herrschenden Eliten (und etwa Banker in Freikirchen) als Christen. Auch die 1999 revidierte Bundesverfassung (BV) der Schweizer Eidgenossenschaft beginnt weiterhin mit der Präambel «Im Namen Gottes des Allmächtigen!»
Der Kultursoziologe Dirk Baecker führt diesen Widerspruch auf die heutige Unbekümmertheit, Komplexität und Unsicherheit in unserer auf Wachstum und Geldakkumulation fixierten Gesellschafts-Ideologie zurück. In der säkularen, aufgeklärten Welt gibt es keine absolute Wahrheit mehr, weshalb viele Gläubige diese «Sicherheit» in Jesus oder einem Geld-Propheten suchen. «Man nimmt zur Kenntnis, dass die Strukturen dieser Gesellschaft … ohne einen Apparat theoriegeleiteter und theoriegeleitet modifizierbarer Vorannahmen, weder erkannt noch beobachtet werden können. … Die Geschichten, die wir uns erzählen, leben davon, dass wir andere Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen, ausblenden.» Das gilt speziell für den herrschenden Neoliberalismus und seine Finanzgläubigen.
Typischerweise ist den meisten Zeitgenossen nicht bewusst, dass die im Christentum zentrale Schuld-Annahme und die den Kapitalismus prägenden Mechanismen von Schuldnern und Gläubigern sich fundamental ergänzen. Im Kapitalismus glaubt und verlangt der Gläubiger als der systembedingt Stärkere, dass der kreditbedingte Schuldner seine Geld-Schuld mit einem höheren, zinsbedingten Betrag in unserer Welt entschulde. Das führt in der heutigen Finanzgesellschaft zwingend zu einer zunehmenden, unlösbaren Verschuldung. In allen Religionen und insbesondere im Christentum, kann man von der weltlichen Ur-Schuld nur durch den Glauben an den Allmächtigen und seine jenseitige Ent-Schuldung erlöst werden. Max Weber hat deshalb auch den Kapitalismus mit dem protestantischen Glauben verknüpft, wonach Reichtum gottgefällig sei. Nur so konnte erklärt werden, dass die ur-christliche Forderung nach Armut und Solidarität nicht mehr gelte.
Nach Benjamin dient der Kapitalismus existenziell der Befriedigung derselben Sorgen und Beunruhigungen 615-544-2210 , auf welche die Religionen Antwort gaben: «Erlöse uns von den Schulden … denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit.» Benjamin bezeichnet den Kapitalismus als «reine Kultreligion, vielleicht die extremste die es je gegeben hat. … Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêves et sans merci.» In diesem Kult steckt ein unlösbares Schuldbewusstsein. Nur Gott kann uns entschulden. Im Kapitalismus fällt diese göttliche Transzendenz. «Aber Gott ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. … Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste, der die kapitalistische Religion zu erfüllen beginnt. … Der Kult wird von einer (verheimlichten) ungereiften Gottheit (Mammon) zelebriert.» Aber auch mit Nietzsches (atheistischem) Übermenschen bleibt die Verschuldung!
Auch nach Marx wird der «nicht umkehrende Kapitalismus» mit Zins und Zinseszins für die Schuld (man beachte die Zweideutigkeit dieses Begriffs) zu einer Kultreligion ohne Dogma. Bemerkenswert ist hier auch der Vergleich der Glaubenserzeugung zwischen Heiligenbildern und Banknoten wie dem Glaubensdogma der weltweit dominanten Währung des US-Dollar «In God we trust». Jede doppelte Buchhaltung erzeugt schliesslich in ihrer Bilanz der Schulden und Guthaben mit einer Geld-Währung auch die Fiktion eines Ausgleichs zwischen Schuldnern und Gläubigern. Es erscheint somit in dieser fiktiven Geldwelt alles in finanzieller und geglaubter Ordnung!
Das «Finanzrequiem» des Zürcher Chors kultur und volk plant die Glaubensdogmen von Geld und Religion Ende 2015 zur Aufführung zu bringen, und die «Vollgeld-Initiative» möchte dazu einer zu re-reformierenden Nationalbank die Kompetenz über das heute von den Banken per Kredit aus dem Nichts geschaffene Buchgeld zur Finanzierung und Entschuldung unseres Staates verschaffen.
Unser Glaube an eine gerechtere, lebenswerte Welt verspricht jedenfalls keine Jenseits-Erlösung.
Dirk Baecker (Hrsg.): Kapitalismus als Religion. Kulturverlag Kadmos. Berlin 2003/2009. 312 Seiten.
Franco Bellettini
Der Beitrag blendet die neuen faschistisch- nationalen
Bewegungen aus . Abgesehen davon dass Gott
in neoevangelikalen , fundamentalistischen Bewegungen wieder auferstanden ist . ( Sowie im Hindunationalismus in muslimischen Staaten , bis zur russisch- orthodoxen Kirche ) . Abgesehen von persöhnlich- privaten New Age Mixturen bis zu abstrusen Verschwörungstheorien . Nicht zu vergessen den Kulturalismus der Linken , der
eine ähnliche Funktion erfüllt , beziehungsweise
die Illusion des ” freien ” Individuums .