Am 5. April 1942 erscheint in der New York Times ein Artikel mit der Überschrift An Anti-Nazi of 1548. Vorgestellt wird ein Text aus dem 16. Jahrhundert, nämlich der Discours de la servitude volontaire ou le Contr’un von Etienne de La Boétie (1530-1563), und er wird als Antwort auf die Verhältnisse in Nazi-Deutschland gelesen. Der Verfasser, ein gewisser Harry Kurz, hat die kleine Schrift eben aus dem Französischen ins Englische übersetzt und unter dem den Zeitumständen angepassten Titel Anti-Dictator herausgegeben. Immerhin ist es der einzige Text aus dem 16. Jahrhundert, der von der nationalsozialistischen Zensur in Deutschland und im besetzten Belgien verboten worden ist. Was ist das für ein Text, der über die Jahrhunderte hinweg erinnert und in einer solchen Situation zu Hilfe gerufen wird? Was ist das für ein Text, der trotz seines Alters die Aufmerksamkeit der Nationalsozialistischen Partei auf sich zu lenken vermochte?
Als ich das Büchlein zu Beginn der 1980er-Jahre in einem Antiquariat in Berlin zum ersten Mal in der Hand hielt, war ich mir der Geschichte seiner Wirkung noch nicht bewusst. Ich lernte sie erst später kennen, als ich die von Horst Günther minutiös zusammengetragenen Dokumente im Anhang der in der Zwischenzeit leider vergriffenen Neuedition bei der Europäischen Verlagsanstalt studierte. Fasziniert war ich zunächst vom paradoxen, aber eingängigen programmatischen Titel. Und dann war da der Kupferstich von Juste de Juste (1505-1559) als Illustration auf dem Cover. Beides zusammen versinnbildlichte Boéties Aussage: «Man wird es mir nicht glauben, aber es ist wahr; vier oder fünf Leute sind es immer, die den Tyrannen stützen». Ich war knapp zwanzig Jahre alt und die Analyse der Herrschaftsstrukturen, wie sie von Boétie vorgenommen wurde, schien mir aktuell zu sein. Zwar merkte ich dem Text an, wie er in seiner eigenen Zeit verhaftet war; dass sich die Analyse frühmoderner Herrschaftsverhältnisse nicht direkt auf spätkapitalistische Demokratien übertragen ließ, wusste ich – wenn auch mehr intuitiv als mit guten Gründen. Aber ich hatte das deutliche Gefühl: Hier geht es um etwas Zentrales. Darüber hinaus faszinierte mich der Umstand, dass ein Text über die Jahrhunderte hinweg eine Wirkung entfalten konnte, wenn er – wie im Fall von Harry Kurz’ Intervention – auf produktive Art neu gelesen und präzise in einen bestimmten Kontext platziert wurde.
Der Grundgedanken, der auf den knapp 50 Seiten entwickelt wird, ist schnell auf den Punkt gebracht: Wir, denen unsere stumme Zustimmung zur zweiten Natur geworden ist, sind es, die die Verhältnisse stützen. Wir sind weniger Opfer, als wir nur allzu schnell anzunehmen bereit sind. Vielleicht war es, wie Montaigne suggeriert, tatsächlich ein einziger Satz von Plutarch, der Boétie inspiriert hatte: «Die Asiaten waren die Sklaven eines Mannes, weil sie die eine Silbe ‹Nein!› nicht auszusprechen vermochten». Es sind also nicht, so Boétie, die «Hellebarden und Garden und das Aufstellen von Wachen, die die Tyrannen schützen, denn sie bedienen sich ihrer … mehr der Form wegen und als Vogelscheuchen, als dass sie ihr Vertrauen darauf setzen». Das ist das «Geheimnis der Herrschaft, die Stütze und Grundlage der Tyrannei». «Theater, Spiele, Possen, Schauspiele, Wettkämpfe, Tiergefechte, Gedenkmünzen, Gemälde und andere dergleichen Gaukeleien waren für die Völker der Antike der Köder der Knechtschaft, der Preis der Freiheit und das Werkzeug der Tyrannei. Durch solche Machenschaften und Verlockungen schläferten die antiken Tyrannen ihre Untertanen unter dem Joche ein.» Solche Passagen las ich als Vorwegnahme von Adornos und Horkheimers Analysen der Kulturindustrie in deren Dialektik der Aufklärung (1944) oder von Guy Debords Societé du spectacle (1967). Dass man mit einem lauten Nein nicht nur etwas stoppen, sondern auch etwas ins Rollen bringen konnte, bestätigte sich wenig später in den Leipziger Montagsdemonstrationen, die zum Inbegriff einer friedlichen Revolution wurden. Der Ruf «Wir sind das Volk» klang wie das entfernte Echo auf Boétie.
Meist begegnet man Texten ja mehrmals im Leben, nicht selten unter gänzlich veränderten Bedingungen. Man kann dann die Erfahrung machen, dass sie sich nicht nur über die Jahrhunderte hinweg in ihrer Wirkung verändern, sondern auch in Bezug auf die eigene intellektuelle Biographie. Das zweite Mal stieß ich auf den Discours de la servitude volontaire ou le Contr’un von Etienne de La Boétie im Zusammenhang mit Louis Althusser (1918-1990), über den ich einige Jahre später meine Doktorarbeit schrieb. Er verdanke Boétie beinahe mehr als Marx, gesteht Althusser ein, wenn er die Leerstellen im Marx’schen Werk in Bezug auf den Begriff der Ideologie beklagt. Dazu gehört vor allem die Einsicht, die die Grundlage seiner eigenen Ideologie-Theorie bildet. Im Text Idéologie et appareils idéologique d’Etat (1970) entwickelt Althusser den Begriff des «assujetissement»: Boéties lose Aufzählung von Brot und Spielen vermag nämlich noch nicht die konkrete Wirkweise des Ideologischen zu fassen. Deshalb führt Althusser einerseits den Begriff des «ideologischen Staatsapparates» ein, um die materielle Existenz der ideologischen Anrufung zu fassen; darunter versteht er Institutionen im weitesten Sinne. Andererseits macht er die Doppeldeutigkeit des französischen Begriffs «sujet» als ‹Untertan› und ‹selbstbestimmtes Subjekt› fruchtbar: In dem Moment, in dem ich als Subjekt angerufen werde, findet schon ein Moment der Unterwerfung (assujetissement) statt. Wenn ein Polizist, so Althusser, ein konkretes Individuum auf der Straße mit einem «He, Sie da!» anruft und dieses sich umdreht, so ist das die Ur-Szene dieser Subjektwerdung im doppelten Sinne. Wie Althusser zeigt, repräsentiert, als Folge dieser Anrufung, die Ideologie das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen.
Ein drittes Mal stieß ich auf Boétie im Zusammenhang mit den philosophischen Gedanken zur Freundschaft bei Jacques Derrida (1930-2004). Im Buch Politiques de l’amitié (1994), das kurz vor seinem Tod ins Deutsche übersetzt wurde, unternimmt er es, die Demokratie zu denken, resp. das, was sie sein könnte (à venir). In diesem Zusammenhang steht die Erzählung der wunderbaren Freundschaft zwischen Michel de Montaigne (1533-1592) und dem nur drei Jahre älteren Boétie: Montaigne, damals 24-jährig, wie Boétie in Bordeaux wohnhaft und wie jener in einem politischen Amt tätig, hatte den späteren Freund über die Schrift von der freiwilligen Knechtschaft kennengelernt. Elektrisiert von der Lektüre, suchte er ihn sofort auf. In seinem Essay De l’Amitié (1580) zeichnet er in eindringlichen Worten, fast zwanzig Jahre nach Boéties Tod, im Rückblick seine Freundschaft mit ihm nach und macht sie zum Inbegriff dessen, was zwischen Freunden möglich ist.
Derrida wird von der Frage umgetrieben, wie man den Raum des Politischen gedanklich erschließen kann, ohne in die alten Denkformen des Blutes wie Nation, Familie oder Brüderlichkeit zu verfallen. Die Figur des Freundes wird ihm zum Inbegriff dieser Möglichkeit: «Wann werden wir für eine Erfahrung der Freiheit und der Gleichheit bereit sein, die auf diese Freundschaft, aus Achtung vor ihr, die Probe macht und schließlich gerecht, gerecht jenseits des Rechts, das heißt dem Maß ihres Unmaßes gemäß wäre? O Freunde, Demokraten …» Dieses emphatische Verständnis der Demokratie ruft uns eine im französischen Sprachraum wichtige Unterscheidung in Erinnerung, jene zwischen dem Politischen (le politique) und der Politik (la politique), die für verschiedene Autorinnen und Autoren (etwa Nancy, Mouffe oder Laclau) wichtig ist. Uns im deutschsprachigen Kontext kann sie helfen, uns aus der Fixierung auf die institutionelle Seite der Politik zu befreien.
Auf meinem weiteren Denkweg wurde zunehmend die Frage wichtig, wie ein und derselbe Text so unterschiedlich wirken kann. Ein Text ist nicht eine feste Einheit mit einem definierten Sinn und starren Begriffsunterscheidungen, sondern konstituiert und rekonfiguriert sich in der jeweiligen Lektüre. Wo diese fruchtbar ist, ist sie das Resultat einer Aneignung, die ihn verwandelt, das Ergebnis einer Anverwandlung, die aus aktuellen Fragen und Interessenlagen heraus erfolgt. Walter Benjamin hat für dieses Zusammenspiel in seinem Passagen-Werk ein sehr schönes Bild gesetzt: «Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, macht sie zum Begriff» (PW, I, 591: N9, 6).