Es soll hier eine kleine Phänomenologie des Zeithofs von mehrfach Exkludierten entfaltet werden. Unter mehrfach Exkludierten sind zu verstehen prekarisierte Individuen, die aus dem Erwerbsprozess herausgefallen sind und auch wenig Hoffnung haben, darin wieder integriert zu werden, die pekuniär sehr limitiert sind und auch auf soziale Nahbeziehungen kaum mehr zurückgreifen können, also zugleich von Isolation bedroht sind.
Die Systemtheorie Niklas Luhmanns betont, was angesprochene Exkludierte angeht, vor allem die starke Ausgerichtetheit auf das Körperliche und das Haften am Territorial-Räumlichem, auch wenn die «kurzfristigen Zeithorizonte» und der Zerfall von «Zeit ausdehnenden Reziprozitätserwartungen»[1] erwähnt werden. Ansatzmässig macht dieses Manko Pierre Bourdieu in seinen «Meditationen» wett, wo er den Zeitbezug thematisiert und von «Grenzerfahrungen der Zukunftslosen»[2] spricht. Es geht um den Bezug zur Zeit von Menschen, die mehrfach exkludiert sind. Diese Situation der Isolation und Zukunftslosigkeit lässt sich gedanklich weiterspinnen:
Ein als mehrfach exkludiert chartakterisiertes Individuum schaut in eine völlig offene Zukunft, aber nicht im Sinne einer bewussten Vorschau auf eine Auswahl von potentiell sich erfüllenden Zielen, Curricula, Projekten usf., sondern im Sinne einer Projektion der Gegenwart hinaus in die endlose Leere des Selben und Gleichen. Dieser hoffnungslose Blick nach vorne ist aber nicht nur ein beliebiger Gedanke, der leicht abgestreift werden kann. Genau weil solch ein Mensch so gut wie nie etwas Dringliches zu tun hat, geht er der täglichen, kurz- oder mittelfristigen Prospektion oder Retrospektion, der Betriebsamkeit der täglichen Habitualitäten, die den Blick vom «Existenziellen» ablenken könnten, verlustig.
So ist die desolate Stimmung im Blick auf die Zukunft eigentlich identisch mit der Stimmung in der Gegenwart. Auch die Erinnerungen verbinden sich womöglich mit wenig Erfreulichem. Das Individuum kann weder in eine Tätigkeit, noch räumlich oder zeitlich «flüchten».
Zugleich ist seine Alltagsverbringung in einem perversen Sinn vollständig selbstbestimmt. Denn mit Ausnahme vielleicht von einigen trivialen Gewohnheiten (Frühstück, Einkauf etc.) würde bei ihm überhaupt nichts mehr geschehen, wenn es nicht vorsätzlich und selbstbestimmt geschähe. Da es aber kaum die Möglichkeit hat, mehrere Einzelhandlungen so zu kumulieren oder zu koordinieren, dass mittelfristig etwas «Neues», «Anschlussträchtiges» (im praktischen oder sozialen Sinn) entstehen könnte, bescheidet es sich nolens volens mit sinnentleerten Beschäftigungen.
Eigentlich bildet dieses Individuum das «Korrelat» zu einem nicht in Lohnarbeit stehenden mit grossem Vermögen. Es ist ein zwangloses Leben, aber die Zukunft des Armen ist nicht mit Optionen, sondern mit Monotonie gefüllt, weil nur äusserst beschränkte Möglichkeiten zur Ablenkung bestehen. Dieses subjektive Nichts-Erleben und -Erhoffen ist ganz anders als die Erfahrung von Armut im Rahmen der klassischen Industriegesellschaft. Der nachindustrielle, postfordistische, ohne Verpflichtungen und familiale Einbettung lebende Exkludierte muss jeden Tagesablauf immer wieder neu gestalten, obwohl es kaum etwas zu gestalten gibt. Er ist ohne Aussichten, muss aber in jedem Moment die ganze Last seiner Existenz tragen, eben weil sich keine entlastenden kulturellen, sozialen, familialen Routineaktivitäten ergeben. Er hat alle Zeit, eine Wahl zu treffen, aber er hat keine Wahl. Er hat alle Zeit der Welt, aber sonst nichts. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Zeit totzuschlagen.
In «Entweder Oder» unterscheidet Sören Kierkegaard die Menge, die andere langweilt, von den Edlen, die sich selber langweilen.[3] Mit dem sich langweilenden mehrfach Exkludierten tritt sozusagen eine dritte Option auf die Bühne. Seine Depression ist keine Lust am Schmerz, kein sich Laben an der Melancholie wie die Schwermut, Langeweile und Leere des Kierkegaardschen Ästheten.
Dies ist wohl eine noch verhältnismässig wenig erforschte Situation, die eigentlich übermenschliche Kräfte erfordert. Denn im Gegensatz zu einem voreiligen Urteil handelt es sich ja nicht um eine Art bewusstlosen Vegetierens. Vielmehr entfällt die gewohnheitsmässige Tätigkeit, die Routine in der Arbeit, institutionell oder in einem sozialen Rahmen. Deshalb müsste eigentlich von Bewusstheitsüberschuss gesprochen werden. Erfüllende Habitualitäten bleiben aus, so dass die Last der eigenen Existenz täglich vollumfänglich getragen werden muss. Es liegt Distress durch Fehlen jeden Stresses (im medizinischen Sinn) vor.
Zu fragen ist, welche Pathologien sich aus dieser Situation, die nicht mehr nur auf dem Ausschluss aus dem Erwerbsleben fusst, ergeben. Philosophen denken spontan an Heideggers Angst aus «Was ist Metaphysik». Bei aller Vorsicht ist eine solche Annäherung nicht ganz verkehrt. Der mehrfach Exkludierte fristet, wenn auch gezwungenermassen, ein Dasein, dem es aus Mangel an sinnvoller Beschäftigung permanent um sein eigenes Sein geht, das nichtig ist. Heidegger grenzt die Angst von der Furcht vor diesem oder jenem bestimmten Seienden ab. Diese Furcht kennt der mehrfach Exkludierte nur zu gut. Aber die darüber hinausgehende Angst, ebenfalls nicht auf ein Objekt im engeren Sinn bezogen, ist doch dem Umstand geschuldet, dass die Zukunft in ihrer Perspektivenlosigkeit eigentlich mit der Gegenwart zusammenfällt. Alles Zukünftige droht nämlich zu einer variantenlosen Fortsetzung der gegenwärtigen Situation zu werden. Auf seine nackte und geschichts-, weil zukunftslose Existenz zurückgeworfen, enthüllt sich das Weiterleben als ein Nichts, insofern die Fülle an Zeit mit der Monotonie der täglichen Fortsetzung des Gleichen auf fatale Weise verzahnt ist. Nun entspricht dies nicht genau der Charakteristik, die Heidegger von der Angst und ihren Ursachen gegeben hat. Und dennoch: «Das Nichts ist uns zunächst und zumeist in seiner Ursprünglichkeit verstellt. Wodurch denn? Dadurch, dass wir uns in bestimmter Weise völlig an das Seiende verlieren.»[4] Dieses sich Verlieren in der Betriebsamkeit des Alltags ist es genau, woran es dem mehrfach Exkludierten gebricht.
Gefragt werden müsste auch, ob die neuartige monotone Existenz des mehrfach Exkludierten nicht auch einige Aspekte der Husserlschen Zeitphänomologie affiziert. Husserl schreibt: «Nur wo ein Anschauungsverlauf uns wieder Neues darbietet, haben wir nicht eins, sondern mehreres und so vieles, als verschiedenes Neues besonders aufgefasst wurde. Wo wir aber immer ‹dasselbe› wiederfinden, da haben wir eben objektiv eines.»[5] Zudem: «Reduziert ergeben sie das evidente Jetzt, Vergangen und Künftig: ferner evidente Möglichkeiten der Phantasie, der reproduktiven Erinnerung, der reproduktiven Erwartung und der dadurch bedingten evidenten Zusammenhänge.»[6] Die Frage sei angebracht, ob solche Bestimmungen für die monotemporale Existenz des mehrfach Exkludierten noch ihre volle Gültigkeit bewahren, ob bei ihm nicht ein ausgedehnter Jetztpunkt mit havarierten (weil neuheitslosen) Protentionen und Retentionen vorliegt.
[1] N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft 2, Frankfurt a. M. 1998, p. 633. Luhmann erkennt, dass ein Faktor der Exlusion einen Rattenschwanz anderer Exklusionen nach sich zieht: «Die Exklusion integriert viel stärker als die Inklusion. – Integration (…) verstanden als Einschränkung der Freiheitsgrade für Selektionen.» A. a. O., p. 631
[2] P. Bourdieu, Meditationen, Frankfurt a. M., pp. 283ff.
[3] S. Kierkegaard, Entweder – Oder, Hamburg 1975, pp. 335ff.
[4] M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt a. M. 1986, p. 36
[5] E. Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitgefühls, Hamburg 1985, p. 15 (Text nach Husserliana X)
[6] A. a. O., p. 35