Stefan Howald: Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen

Stefan Howald hat mit seinem Buch „Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen“ sich einem Thema gewidmet, das heute angesichts des zunehmenden Rechtstrendes, oder als Gegenstück zu der Forderung nach „Professionalisierung“ der Politik an Bedeutung gewinnt. Denn aus der Optik von „Professionalisierung“ und „Rechtstrend“ ist das Volk entweder „rechts“ oder aber muss es durch Fachleute bevormundet werden. Howald handelt den Zwiespalt, in dem jede demokratische Ordnung im Rahmen des Gegensatzpaares „Jedem das Seine“ und „Allen das Gleiche“ drinsteckt, zuerst theoretisch ab, um dann die Bedeutung der Bürgerrechte zu betonen – ein Eckpfeiler funktionierender Demokratien; und keineswegs eine Selbstverständlichkeit, da sie immer wieder gegen den Bedarf nach Verflüssigung jeglichen Widerstandes oder deren Kanalisierung durch das ökonomisch bestimmte bürokratische System (auch der Behörden) durchgesetzt werden müssen.

Interessant und auch amüsant ist Howalds Buch vor allem da, wo er all die Versuche der Auseinandersetzung, aber auch der Integration von unterschiedlichen Kulturen aufzeigt. Dass beispielsweise verschiedene jugendliche Migranten oder auch Secondos sich sehr pointiert mit dem kulturellen Gefälle zwischen der satten Schweiz, beziehungsweise deren Identitäten, und jenen ihrer Herkunftsländer auseinandersetzen, verweist auf eine Kraftquelle namens Differenz jenseits verwaltungstechnischer Organisation, die auf weitere Entwicklungen hoffen lässt. Howalds Hinweise auf die verschiedenen Fernsehserien, von den in vergangenen Jahren aktuellen familiären Samstagabendamüsements „Spiele ohne Grenzen“ über die verschiedenen anderen Eurovisionsausstrahlungen („song contests“ etc.) bis hin zu den verschiedenen grenzüberschreitenden Krimis (vom „Tatort“ bis zu „Die Brücke“, oder auch die Politserien „Borgen“ bzw. „Yes Minister“), zeigen auf, wie unterhaltsam Unterschiede, deren Darstellung und deren allfällige Überwindung zumindest auf kultureller Ebene sein können.

Die Verantwortung dafür, dass den kulturellen Spielen in der Realität Grenzen gesetzt werden, trägt nach Howald der Neoliberalismus, der sich auf die blosse Verteidigung der Eigentumsverhältnisse und des Gefälles zwischen Arm und Reich kapriziert. Leider wird in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung und die Wurzeln dieser Phase des Kapitalismus verzichtet und damit auch die Chance vertan, dieses in seinen Ursprüngen durchaus auch progressive Aspekte beinhaltende ökonomische System in seiner Bedeutung zu würdigen, läutete die Marktwirtschaft der 60er und 70er Jahren doch zugleich das Ende des vom „rheinischen Kapitalismus“ mit dem „guten Patron“ geprägten Systems (wie es sich heute noch viele Gewerkschafter in nostalgischer Verklärung der Vergangenheit zurückwünschen) ein. Diese Nostalgie mag, nebenbei gesagt, auch ein Grund dafür sein, dass aus dieser mangelnden Freude an Auseinandersetzungen es auch nicht gelingt, eine einigermassen zukunftsträchtige Perspektive für die Investitionspolitik eines der letzten Überbleibsel des Kooperatismus, die Pensionskassen, zu finden.

Auf der Suche nach einer Lösung des Dilemmas, wie die Menschen sich organisieren können, um ihren Willen durchzusetzen, während zugleich gegensätzliche Standpunkte ihr Recht finden, verweist Howald einerseits auf eine Art von „Schwarmintelligenz“, bei der die Betroffenen ihr Verhalten nach einem erweiterten System von Nähe und Distanz regulieren, anderseits aber auch auf die im Zusammenhang mit der Occupy-Bewegung erarbeiteten Verhaltens-Grundsätze: Ausgehend von der Bedeutung, die jemand einem Vorschlag einräumt, soll die entsprechende Meinung auch gewürdigt werden; auch Abweichungen müssten berücksichtigt werden. Wenn Grundprinzipien tangiert werden, müsse ein entsprechendes Vetorecht bestehen, und wenn jemand mit etwas nicht einig gehe, müsse die Möglichkeit bestehen, sich zu distanzieren. Hinter diesen Vorschlägen steht die alte Philosophie der Toleranz, wie sie Lessing bereits in seinem Stück „Nathan der Weise“ entwickelt hat. Howald zitiert in diesem Zusammenhang die Politologin Chantal Mouffe: „Die Frage, die wir stellen müssen, lautet daher, ob andere Kulturen auf dieselbe Frage (nach der Würde des Menschen) andere Antworten geben.“ Howalds Buch ist vor allem als Diskussionsgrundlage für eine Weiterentwicklung der Ideen rund um eine Form eines übernationalen „Bürgerrechtes“ wichtig, das die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe berücksichtigt und der Widerständigkeit ihren Platz einräumt. Etwas gefehlt hat mir aber die Auseinandersetzung mit direktdemokratischen Ansätzen, die häufig einen eigensinnigen Charakter haben, trotzdem aber unter Umständen Breitenwirkung entfalten können. Ein Beispiel: Anlässlich einer Mahnwache im Zusammenhang mit einer Stillegung des AKW Beznau vor dem Ensi kam einmal ein Passant zu uns und meinte: „Ich bewundere euch! Ihr seid stur wie die Zeugen Jehovas!“ und drückte allen eine Flasche Wein in die Hand. Vielleicht macht das Beispiel Schule …


Stefan Howald: Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen. Rotpunkt Verlag, Zürich 2014.


Wolfgang Hafner, Wirtschafts- und Sozialhistoriker, Wanderer, lebt in Italien. Letzte Publikation: Pädagogik, Heime, Macht – eine historische Analyse.




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