Als das Credo der Ausländerintegration das historisch gefestigte Narrativ der Überfremdungsgefahr auf den Kopf stellte, war die Euphorie all jener Kreise gross, die jahrzehntelang auf eine gesellschaftliche und politische Anerkennung der Ausländer gehofft hatten. Die ersten sozialwissenschaftlichen Analysen zur offiziellen Ausgestaltung des Ausländeraufenthalts in der Schweiz beschrieben denn auch einen politischen Emanzipationsprozess – von der abwehrlogisch konfigurierten Fremdenpolizei hin zu einer neuen Migrationspolitik der Chancengleichheit 615-544-1960 , der Toleranz und rechtlichen Besserstellung. Ich selbst traute zunächst meinen Ohren nicht, als der Bund in den 1990er Jahren dazu überging, von Mitbürgern zu sprechen, statt sich auf die Verwaltung von marginalisierten Gastarbeitern zu konzentrieren. Eine Dekade später war der im Integrationsdiskurs mitschwingende „drohende Unterton“ allerdings nicht mehr zu überhören. Die Irritationen liessen sich etwa am Prinzip Fördern und Fordern festmachen. Während die Förderpolitik eine freiheitlich-emanzipative Stossrichtung vorgab, schrieben sich mit dem Fordern restriktiv-verpflichtende Verfahrenselemente in das gross angelegte Partizipationsprojekt ein. Wollte man mit dem marketingaffinen Potentialansatz den historisch verankerten negativen Stereotyp des Ausländers überwinden, so liess die Fordern-Logik erneut ein defizitäres Ausländersubjekt sichtbar werden. Kontrolle und Zwang im Zeichen einer politischen Solidarität mit den ehemals Fremden: Wie sollte das zusammenpassen? Die politische Mission der Integration trug ein regressives Moment in sich, womit sie sich selbst zu destabilisieren schien.
Die Modellierung von Integration als Zwang und Sanktion bildete aber nur die eine Seite der Irritation. Denn schon bald wurde klar, dass auf dem Altar der Integration nicht alle ausländischen Menschen gleich waren. Auch wenn die gesellschaftliche Teilhabe aller – egal ob einheimisch oder ausländisch – gepredigt wurde, so liess die Fordern-Politik der letzten Chance eine markante Ungleichbehandlung sichtbar werden. Die Chancengleichheitspolitik der Integration spaltete die Zugezogenen in zwei Subgruppen: EU-Menschen zum einen und Menschen aus Drittstaaten zum anderen. Nüchtern stellte Hans-Rudolf Wicker Anfang der 2000er Jahre fest, dass die Öffnung gegenüber der ausländischen Bevölkerung auf die Bürger (west-)europäischer Staaten abzielte. Diese strukturelle Zäsur war bereits im „dualen Zulassungssystem“ angelegt. Während die Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum wirtschaftsliberal geregelt wurde (Freizügigkeit), unterwarf man Drittstaatsausländer einer rigorosen Kontrolle. Rechtlich gesehen konnten auch nur sie zur Integration gezwungen werden.
Mit dem Auftauchen der Integrationspolitik manifestierten sich ganz offensichtlich konzeptionelle Widersprüche und Diffusitäten. Aber gerade aus dieser programmatischen Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit schien das Integrationsprojekt seine grosse Wirkmächtigkeit zu gewinnen. Denn der Fördern- und Fordern-Komplex der Integration erlaubte es, die unterschiedlichsten politischen Haltungen, Problemhorizonte oder Massnahmen in sich zu vereinen. Die Politik der Integration amalgamierte die ehemals (rechts-)konservativen Positionen des Forderns und die ehemals linken Positionen des Förderns und brachte so eine gemeinsame politische Agenda hervor, die die unterschiedlichsten, bisweilen auch gegensätzlichen Interessen und Forderungen miteinander verbandelte. Erst dadurch schien das Integrationsideal eine äusserst robuste politische Stellung zu erlangen. Mittlerweile wird das Hohelied des Förderns und des Forderns von allen politischen Lagern gesungen – egal ob Links oder Rechts, alle wollen Fordern und fordern Fördern ein.
Diese Lesart der zunächst einmal völlig undurchsichtigen Mechanismen der Integrationspolitik gewann ich erst vor dem Hintergrund des analytischen Instrumentariums, das Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrem Buch Hegemonie und radikale Demokratie ausbreiten. Sie zählen zu den wichtigsten Vertretern einer poststrukturalistisch informierten politischen Theorie, die sie selbst als post-marxistischen Ansatz ausweisen. Mit ihrem Opus Magnum verfolgen sie das ambitionierte Ziel einer „Reformulierung der sozialistischen Ideale“ unter Berücksichtigung jener zentralen Lektion, die der Sozialismus sowjetischen Typs der Linken erteilt hatte: nämlich, dass es „keinen Sozialismus ohne Demokratie und ohne Respekt vor den Menschenrechten geben kann und dass liberale politische Institutionen die notwendige Bedingung für einen wirklichen Pluralismus sind.“ Laclau und Mouffe ent-universalisieren die politischen Subjekte, verwerfen in ihrer Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse die marxistische Vorstellung vordiskursiv bestehender Klassen und Klassensubjekte, die von ökonomischen Verhältnissen her gedacht werden. Indem sie sich von der „monistischen Sehnsucht“ der marxistischen Theorie verabschieden und nicht mehr das Wesen oder die eigentliche Bedeutung der Geschichte zu erfassen versuchen, bewegen sie sich auf ein post-marxistisches Terrain, auf dem sich nunmehr poststrukturalistisch informiert solche Kategorien wie Klassen, Ökonomie, Ideologie oder Politik nicht mehr als objektiv gegeben, sondern als Produkte sedimentierter Diskurse begreifen lassen. Die Subjekt- und Klassenkonzeption des klassischen Marxismus, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung wie auch die Konzeption des Kommunismus als eine von Antagonismen befreite Gesellschaft erscheint demzufolge nicht mehr a priori möglich. Sie brechen mit allen Formen des Essentialismus und prä-konstituierter Identitäten (deren Rechte dann verteidigt werden sollten), um Politik als Konstituierung jener Identitäten selbst in einem prekären und jederzeit anfechtbaren Terrain zu verstehen: „Eine Konzeption, die jede essentialistische Betrachtungsweise sozialer Verhältnisse verwirft, muss auch den prekären Charakter jeder Identität und die Unmöglichkeit der Festlegung einer ein für allemal gültigen, buchstäblichen Bedeutung der ‚Elemente‘ erklären“. Um Gesellschaft „jenseits der Positivität des Sozialen“ theoretisch fassen zu können, werden zwei zentrale Begriffe theoretisch fruchtbar gemacht: der Begriff des Antagonismus und der Begriff der Hegemonie. Laclau und Mouffe knüpfen in ihrer politischen Analyse an Gramscis Begriff der Hegemonie an, um ihn einer poststrukturalistischen Überarbeitung zu unterziehen. In ihrem Verständnis bildet Hegemonie nicht mehr das Komplement der Basiskategorien marxistischer Theorie, sondern sie führt eine damit letztlich unvereinbare Logik des Sozialen ein. Das Soziale wird als das Diskursive schlechthin konzipiert. Eine diskursive Struktur wird hier aber nicht bloss als „‚kognitive‘ oder ‚kontemplative‘ Entität“ verstanden, sondern als „eine artikulatorische Praxis, die soziale Verhältnisse konstituiert und organisiert“. Was uns als Objektivität erscheint – die Mehrheitsgesellschaft, die einheimische Bevölkerung oder das ausländische Subjekt – wird in Diskursen hergestellt, als relationale Verknüpfung diskursiver Elemente. Es gibt keine Objektivitäten jenseits des Diskursiven. Gesellschaft, Identitäten werden über Sinnprozesse hergestellt und sind diskurstheoretisch als „partieller Versuch“ zu begreifen, Gesellschaft oder Identität zu konstruieren, indem Bedeutung fixiert wird: „Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fliessen der Differenzen aufzuhalten“, indem um einen privilegierten Signifikanten herum ein diskursives Zentrum konstruiert wird. Laclau und Mouffe sprechen hier von „Knotenpunkten“, die die Bedeutung einer „Signifikantenkette“ zu stabilisieren vermögen. Auch wenn eine endgültige Fixierung von Sinn nicht möglich ist, der Diskurs also immer unvollständig, instabil, dynamisch bleiben muss, so finden doch Versuche statt, Identitäten, Naturalitäten, Objektivitäten zu schaffen. Jede Realität oder Objektivität ist kontingent und reversibel – und daher politisch, weil sie im Feld des Sozialen aus einer Menge diskursiver Praktiken (das Soziale) gebildet werden muss. Die Konstruktion von Objektivitäten vollzieht sich immer in Form von politisch-diskursiven Kämpfen, Konflikten, Auseinandersetzung. Objektivität und Macht stehen daher in einem wechselseitigen Verhältnis, denn Bedeutung, Wirklichkeit müssen als dominanter Horizont sozialer Orientierung errungen, durchgesetzt, aufrechterhalten werden. Hegemonial wird ein politisches Projekt, die Formation des Diskurses oder eine Auffassung von Gesellschaft dann, wenn es gelingt, das Spiel der Differenzen zu fixieren, die diskursiven Elemente auf einen Bedeutungshorizont hin zu fixieren. Laclaus und Mouffes Begriff der Hegemonie bezieht sich auf diesen Prozess der diskursiven „Schliessung“, der temporären Schaffung von Realität und umkämpfter Objektivität. Hegemonie meint eine politische Logik, „ein[en] politische[n] Typus von Beziehung“, konkreter noch eine Form der Artikulation, die „durch Konfrontation mit antagonistischen artikulatorischen Praxen erfolgt […] und deshalb Äquivalenzphänomene und trennende Grenzeffekte voraussetzt.“ Gesellschaft, die Einheimischen, die ausländische Bevölkerung, sie erscheinen dann als umkämpftes Projekt ihrer Konstituierung, die notabene nur teilweise gelingen kann, immer brüchig bleiben muss. Denn Bedeutung wird, wie sogleich aufgezeigt, relational hergestellt und ist in grundlegender Weise konfliktiv strukturiert – politisch eben. Die endgültige Festlegung, die der Strukturalismus nahelegen würde, ist vor dem Hintergrund des poststrukturalistischen Verständnisses von Laclau und Mouffe nicht denkbar. Kein ultimativer Grund kann eine Fixierung von Differenzen leisten, Bedeutung endgültig festlegen.
Als Totalität (ergo Diskurs) konstelliert sich Gesellschaft ex negativo, durch eine radikale Grenzziehung, die die Gesellschaft von der Nicht-Gesellschaft abgrenzt: „etwas zu sein, heisst immer, etwas anders nicht zu sein“. Und weiter heisst es, nur durch „Negativität, Spaltung und Antagonismus kann sich eine Formation als totalisierender Horizont konstituieren.“ Gesellschaft beruht folglich auf ihre antagonistische Konstitution, wobei sich der Antagonismus nicht auf die vielfältigen Konflikte innerhalb einer Gesellschaft bezieht (Logik der Differenz), sondern auf die Grenze von Gesellschaft an sich: „Der Antagonismus als die Negation einer gegebenen Ordnung ist ganz einfach die Grenze dieser Ordnung“. Erst der Antagonismus vermag eine radikale Grenze einzuführen, die Gesellschaft (als ein bestimmtes System von Differenzen) von Nicht-Gesellschaft (als ihr konstitutives Aussen) zu unterscheiden. Im Hinblick auf all das, was jenseits des totalisierenden Horizontes von Gesellschaft liegt, bildet sie nun ein „systematisches Ensemble von Differenzen“ (Gruppen, Agenten, Forderungen, Elementen). Der Antagonismus entsteht aber nicht nur in dem ihn konstituierenden dichotomisierenden Raum (Gesellschaft/Nicht-Gesellschaft). Erst die Logik der Äquivalenz etabliert Differenzen innerhalb einer Äquivalenzkette, die gemeinsam ein diskursiv-materielles Geflecht bilden. Die Logik der Äquivalenz stellt für Laclau und Mouffe die allgemeinste Existenzbedingung einer bestimmten Formation, eines relativ stabilen Systems von Differenzen dar. Dieses Gemeinsame, die Totalität der Gesellschaft in radikaler Abgrenzung zur Nicht-Gesellschaft etwa, wird weiter dadurch stabilisiert, dass die diskursive Praxis „Knotenpunkte instituiert, die in einem organisierten Differenzsystem die Bedeutung des Sozialen teilweise fixieren“. Eine hegemoniale Artikulation erfordert also eine antagonistische Grenzsetzung, die sich aus einer partiellen Äquivalenzierung aller Elemente oder Differenzen nährt, die sich „innerhalb der Grenze“ konstellieren und von einem privilegierten Signifikanten (Knotenpunkt) als Totalität repräsentiert werden. So konstituiert sich der politische Raum der Integration als „Ensembles von Praxen und Diskursen“ wie die Integration der Ausländerinnen und Ausländer in den Arbeitsmarkt, der Kampf gegen Parallelgesellschaften, Engagements gegen migrationsbezogene Diskriminierung im Schul- und Ausbildungsbereich, soziale Integration in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus, kulturelle Teilhabe distinkter Migrationsgruppen etc. Erst die hegemoniale Praxis einer Verknüpfung von Differenzen zu einer Äquivalenzkette mittels eines Knotenpunktes (Integration) über den Bezug auf das negative Aussen der Nicht-Integration etabliert die partielle Ordnung der Integrierten als ein relativ stabiles System von Differenzen.
Spätestens seit den 1990er Jahren ist mit der hegemonialen Formation der Ausländerintegration eine markante Verschiebung der antagonistischen Kräfte und der Differenz- und Äquivalenzlogiken zu beobachten: Als konstitutives Aussen konstelliert sich nicht mehr das antagonisierte Ausländische, sondern das Nicht-Integrierte. Dieser politischen Logik folgend entsteht Identität nicht mehr aus der alten Zweiteilung einheimische/ausländische Staatsbürgerinnen und -bürger, sondern aus der radikalen Abgrenzung der Integrierten von den Nicht-Integrierten. Ein Teil der ausländischen Bevölkerung – jene, die zu den Integrierten zählen – verknotet sich in dieser Formation mit der einheimischen Bevölkerung (Äquivalenzkette). Im Horizont der Integration erlangt die Einheit der Integrierten (Ausländerinnen und Schweizer) ihre politische Identität in Abgrenzung zu den Nicht-Integrierten. Damit eröffnet sich ein neues politisches Kräftefeld. Denn die neue hegemoniale Logik äquivalenziert kreuz und quer zur alten nationalstaatlichen Logik: alle Integrierten versus alle Nicht-Integrierten. Nun werden sich also nicht nur integrierte Schweizerinnen in Abgrenzung zu nicht-integrierten Ausländern definieren können („die belasten unsere Sozialwerke“), sondern auch integrierte Ausländerinnen in Abgrenzung zu nicht-integrierten Ausländern („die sind kulturell rückständig“) – und vielleicht auch in Abgrenzung zu nicht-integrierten Schweizerinnen („denen fehlt der Wille zur Leistung“). Nicht-Integrierte Schweizer werden ihre Identität nicht mehr ohne weiteres aus einer Abgrenzung von integrierten Ausländerinnen beziehen können („die nehmen uns die Arbeit weg“) – und vielleicht auch nicht mehr in Abgrenzung zu nicht-integrierten Ausländern („der Staat hilft ihnen statt uns“). Wie dieses hegemoniale Tableau politischer Identitäten in demokratietheoretischer Hinsicht zu beurteilen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Auch dazu würden wir aus Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemonie und radikale Demokratie vielversprechende Einsichten gewinnen.
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen.
oeffentlicheverwaltung.net
Ich wollte einfach einen netten Gruss da lassen. Bin gerade auf eure Homepage
gestossen.