Nur wer das Neueste als Gleiches erkennt, dient dem, was verschieden wäre. Theodor W. Adorno
Theodor W. Adorno gehört zu den Denkern, die in der Beurteilung der Nachgeborenen zwischen Stuhl und Bank gefallen sind. Den Linken ist er zu elitistisch, den Rechten zu marxistisch; den Konservativen zu kritisch, den «Progressiven» zu verstaubt. Das mag die Strafe sein, die einen ereilt, wenn man es mit dialektischer Differenziertheit und begrifflichen Hochseilakten zu weit treibt.
Doch auch wer sich mit den technischeren Hauptwerken («Negative Dialektik» und «Ästhetische Theorie») nicht befassen mag und ganz unsystematisch vorgeht, findet bei Adorno Analysen, die kaum Patina angelegt haben – Gesammelte Schriften als «Werkzeugkiste», wie Foucault forderte. Dies liegt wohl ein wenig daran, dass fruchtbarem Denken in Adornos Augen immer etwas Übertriebenes, ja Kindliches eignet. Wer zum Zeitpunkt x übertreibt, hat bessere Chancen, zum Zeitpunkt y einmal Recht zu kriegen. Damit ist es allerdings nicht getan, wie das Beispiel Baudrillards zeigt, dessen Buch zur Konsumgesellschaft («La société de consommation», 1970) noch immer ein Referenzpunkt ist, der sich seine Gedankengänge danach aber so stark von einem imperialen Simulationsbegriff eskamotieren und aufsaugen liess, dass kaum mehr vor plumpestem Relativismus zurückgeschreckt wird.
Voraussetzung für jede Beschäftigung mit Adorno ist heute das Ablegen der angstvollen Ablehnung von Kulturkritik. Von Vulgärpostmodernisten und Poptheoretikern wird letztere als linkskonservativer, moralisierender Kulturpessimismus taxiert. In der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche sehen sie nicht Unterjochung unter das Diktat des kapitalistischen Verwertungsprozesses, sondern egalitäre Austauschbarkeit oder gar ungeahnte Wege zur Dissidenz: «Gefällt Dir nicht, was Du bist? Kaufe andere Marken! Kaufe einen neuen Lifestyle!», fordert James Twitchell, der amerikanische Professor für Kommunikation, die Verschmelzung von Werbung und Soziologie inaugurierend – und meint es ganz ernst. Diedrich Diederichsen gilt der Begriff der Entfremdung als «erzdumm».
Doch es geht eben nicht um modernitätsfeindliche, «unermüdliche Anklage von Verdinglichung» (Adorno, Gesammelte Schriften 6, 192), zwecks Gegenüberstellung mit «vergangenen vorarbeitsteiligen Formen der Vergesellschaftung, […] erschlichen selbst als ewige.» (GS 6, 452f.) – «Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.» (GS 3, 15).
Güterkonsum ist nicht in sich verdinglichend und entfremdend, sondern im Kontext der Ausdehnung des Kapitalverhältnisses auf das Alltags- und Familienleben der Menschen. Während die Individuen sich nur noch als austauschbare Waren- und Geldbesitzer gegenüberstehen, nehmen umgekehrt die Gegenstände, deren Gebrauchswert längst sekundär geworden ist, als Marken mit Images gleichsam menschliche Züge an.
Adornos «Kulturpessimismus» ist mithin weit entfernt von demjenigen der (aufklärungsfeindlichen) Konservativen, die den Verfall von Sitte, Moral und Bildung denunzieren, dabei aber eisern an der Maschinerie festhalten, die solche «Zustände» erst ermöglichen. Letzteren stellen sie die legitime Kultur und den approbierten Lebensstil gegenüber, die am gesamten Wirkungszusammenhang genauso beteiligt sind – ähnlich den reaktionären Ökonomen, die schaffendes gegen raffendes Kapital ausspielen. Bei Adorno geschieht Kulturkritik im Bewusstsein, dass «die Verstümmelungen, welche der Menschheit von der gegenwärtigen partikularen Rationalität angetan werden, Schandmale der totalen Irrationalität sind.» (GS 10, 17) Keine altbackene, resignative Weisheit also, sondern ein Denken als permanenter Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen: «Wer es sich nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert.» (GS 10, 799)
Manches bei Adorno entfaltet sich erst im zeitgenössischen Neoliberalismus richtig, ist mithin von brennender Aktualität und «politisch», sofern eben das Kulturkritische vom Politischen nicht wegamputiert wird. In der «Philosophischen Terminologie I» etwa höhnt er über den Bewussteinsstand des «Konkretismus, um nicht zu sagen Konkretinismus» (199). Damit ist, auf jetzige Verhältnisse extrapoliert, beispielsweise das Gebaren von Deutschschweizer TV-Moderatoren gemeint, die jede ausschweifende Rede mit einem tückischen «aber jetz emol kchonkchret!» unterbrechen und damit das Primat von kontextlosen, unreflektierten Einzelfakten etablieren. Bei Hegel hiessen die noch «abstrakt».
Konkret … Adorno hatte das Aggressiv-Schneidige des Wortes erfahren, das inzwischen zum Diskussions-Holzhammer avanciert ist: «Die falsche Klarheit ist nur ein anderer Ausdruck für den Mythos. Er war immer dunkel und einleuchtend zugleich.» (GS 3, 14) – Ein Lieblingswort derer, die es mit den «nackten Tatsachen» halten und die elitistische Nüchternheit pflegen. – «Das direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zögern […] dem anderen die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos […]» (GS 4, 46)
Ebenfalls aus der Gegenwart könnten die Ausführungen über Statik und Dynamik aus dem Jahre 1961 stammen. Davon, dass wahre Dynamik der Vergegenwärtigung von Gewesenem bedarf, weil sie sonst auf das öde Fortschreiten des Ewiggleichen regrediert, ist dort die Rede: «Geschichtslos aber ist das ziellos in sich kreisende, dynamische Wesen.» (GS 8, 237) Lockern wir den damaligen fachsoziologischen Kontext dieses Beitrags, so scheint geradezu eine Besprechung des neoliberalen Aktivismus und der dazugehörigen Geschichtsvergessenheit («Just do it.»; «Nach vorne schauen!»; «Taten statt Worte!») vorzuliegen. Die in Workshops für Führungskräfte katalysierte «Energy» für eine «dynamische, fitte Wirtschaft» mag noch so sophistiziert daherkommen; sie kann im Rahmen des Zwangs, Mehrwert abzuwerfen, gar nicht anders, als die Ausbeutung von Mensch und Natur fortzusetzen. – «Vorstellbar wäre ein verändertes Wesen von Statik nicht weniger als von Dynamik: gestillter Drang, der es lässt, wie es ist.» (236) Dem «Trendforscher» und Globalisierungspropheten Matthias Horx hingegen war die New Economy in den Neunzigern Anlass, mit sozialer Gleichheit aufzuräumen, als habe das Recht des Schwächeren geherrscht und müsse nun endlich sistiert werden: «Ein gewisses Mass an ‹dynamischer› Ungleichheit ist wie ein Luftzug in einem Raum mit verbrauchter Luft.» («Das Zukunfts-Manifest», 1999, 242)
In Adornos «Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute» heisst es: «Die Ideologie duldet nicht einmal den Anschein von Faulheit.» (GS 8, 192) In der Tat, und das gilt für die nuller Jahre noch mehr als für die Fünfziger. Ganz egal, ob es in deutschen Talkshows um Alkoholismus, Schwulsein, Kriminalität oder Drogensucht geht: Hauptsache Arbeit. Vom Sozialamt leben ist schlimmer als weiland Ehebruch, und wem die von den exorbitant verdienenden Showmastern/-mistressen in Aussicht gestellten Billiglohnjobs nicht behagen, wird vom Publikum ausgebuht und niedergebrüllt. Trotz finanzieller Sorgen viele Kinder auf die Welt zu bringen, widerstrebt ebenfalls dem gesunden Talkerempfinden – bei offenen Rufen nach Sterilisation wird zwar (noch?) verbal eingegriffen.
Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Die Talkshows sind die Schulen der jungen Deutschen, denen auf die Blairschen und sozialdarwinistischen Sprünge geholfen werden soll. Bei manchen älteren, keynesianisch verdorbenen Semestern ist da Hopfen und Malz verloren – sie empfinden Lohnarbeit noch als Anstrengung und Zumutung statt als Abenteuer und «Challenge».
Es wird zu untersuchen sein, welche Pathologien bei einer Generation auftreten, die in der Schule unentwegt dazu angehalten wurde, initiativ, selbstständig und kreativ zu sein, und aus der Sicht der neokonservativen pensée unique nun auch in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit für ihren Werdegang selbst die Schuld trägt. Wie der Ukas einer Schizo-Stimme wirkt es, wenn die Individuen in Zeiten der Oligopole «ihre eigenen Unternehmer» zu sein haben. – «Gleiches Recht und gleiche Chance der Konkurrierenden ist weithin fiktiv.» (GS 8, 378) Was bleibt, ist die Zunahme der Disparitäten und der widersinnige Einsatz von Produktionsmitteln und Produktionskräften: «Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht länger das Mass aller Dinge sein müsste.» (GS 8, 236)
Der «gängigen Psychoanalyse» kreidete Adorno an, sie gewöhne den Menschen die Liebe und das Glück ab, zugunsten von «Arbeitsfähigkeit und healthy sex life» (GS 8, 60). Genauso wie die gängige Esoterik-, Freizeit- und Fitnessindustrie, liesse sich ergänzen. Das 5-Sekunden-Breakfast in flüssiger Form schafft Zeit für ausgiebiges morgendliches Training, mit dem man sich auf den Arbeitsalltag einstimmt. Ist Kicking angesagt, empfiehlt die TV-Vorturnerin: «Stellen Sie sich vor, Sie würden jemanden richtig feste kicken!» Das hätte empfindliche Gemüter ehedem vielleicht noch erregt – Überempfindlichkeiten, die wir als Mief abgelegt haben? – «Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen.» (GS 4, 43)
Hat sich der Geist einmal zur realitätsgerechten Zweckrationalität zusammengezogen, wird er erst recht empfänglich für die «gierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aberglauben» (GS 3, 13). Die Beobachtung, dass spekulationsfeindliche, instrumentelle Vernunft den Obskurantismus nicht ausschliesst, sondern fördert, gehört zu den grossen Verdiensten Adornos. Würde das Individuum seine existenziellen Fragen im Rahmen einer konkreten Durchleuchtung realer sozialer und ökonomischer Bedingungen stellen, so opponierte es bereits dem «Verblendungszusammenhang» – eine Haltung, die täglich mehr Kraft und Leidensfähigkeit erfordert.
Die seit der Späthippie-Zeit rasant zunehmende Wirkungsmacht der Esoterik ist unbedingt mit der Schwächung aller denkerischen Approaches zu parallelisieren, die den Menschen primär als soziales und geschichtliches Wesen und nicht als a priori egoistische und/oder biologisch determinierte Monade betrachten: «Unausdrücklich bleibt vorausgesetzt, dass alle Schwierigkeiten, die aus objektiven Verhältnissen erwachsen […] durch private Initiative oder psychologische Einsicht ohne weiteres sich meistern liessen. Popularpsychologie wird zum sozialen Opiat. Den Menschen wird zu verstehen gegeben, dass das Übel an ihnen liege; mit der Welt selber sei es nicht so schlimm bestellt.» (GS 8, 157)
Im Laufe der achtziger Jahre begann die Ausbreitung von Esoterik und Psychagogie in den Workshops der ökonomischen Eliten. Das klingt dann etwa folgendermassen: «[…] das Spiel: die Möglichkeit, Handlungen im Bewusstsein zu erleben und zu erkennen. […] Duale Wissenschaft hat ausgespielt. […] Duale Partnerschaft (Ying-Yang-Zeichen) ist das östlich-philosophische (sic!), einbezügliche Modell. […] Seit mehr als 700 Jahren dringt das östliche ‹Soft-Factor-Konzept› (sic!) in die westliche Polar-Welt (sic!) ein. […] Die Wirtschaft hat sich mit ihrem Global Play zur Anführerin bei der Einführung und Durchsetzung des partnerschaftlichen Konzepts spielerischen Denkens und Handelns gemacht.» («Alpha», 6.5.2000) Solch groteske Rabulistik könnte als Erguss eines Verwirrten abgetan werden, würde es sich nicht um die Seminargrundlage eines «Kommunikationsforschers und -machers» (sic!), publiziert in einer Kader-Zeitung, handeln. Offensichtlich lassen sich die Flexibilitäts-Ritter der Jetztzeit in ihren Managerkursen zuweilen einen Schmonzes vorsetzen, der nicht einmal mehr den Vorsichtsregeln einfachster bürgerlicher Alltagsskepsis genügt. So verwundert es denn auch kaum, dass weite Teile der ökonomischen Elite sich von Internet allein einen neuen Akkumulationsschub erwarten und im grenzenlosen Aufblähen fiktiver Börsenwerte ohne gleichzeitiges Realwachstum kein Problem sehen – Hauptsache, die Inflation ist gebändigt. – «Schliesslich ist unter den Bedingungen des Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden.» (GS 3, 223)
Kommunikationsspezialisten aller Couleurs nehmen in dem Mass zu, wie interesselose Kommunikation als Selbstverständlichkeit verschwunden ist. Sie injizieren den artifiziellen human touch. Wo das tägliche Psychodrama noch auf Plätzen und Strassen stattfindet, etwa in der Dritten Welt, wären viele froh, das Nötigste zu haben. Während der öffentliche Raum in den westlichen Metropolen nur noch zum hastigen Durchqueren taugt, sorgen «Transparenz», Überwachungs- und Kontrolldispositive an den Arbeitsplätzen für Unterbindung störender Gespräche: «Auch auf Ämtern ist der Steuerzahler nun vor Zeitvergeudung der Besoldeten geschützt. Sie sind im Kollektiv isoliert.» (GS 3, 252) Das individualisierende «Create Yourself!» führt zu Pseudo-Differenzierung innerhalb des massenkulturellen Koordinatensystems, statt zu gelungener Individuation: «Die Kommunikation besorgt die Angleichung der Menschen durch ihre Vereinzelung.» (ibd.)
Das Leben ist in den Takt von Warenproduktion und -konsumtion eingespannt: «Trieb und Gefühl sollen nicht von der ernsthaft vernünftigen Arbeit ablenken; kein Schatten von Pflicht soll die Ausspannung trüben.» (GS 8, 159). Lust ist Freizeit-Arbeit geworden, deren Intensität am Fun-Factor gemessen wird. Je mehr das Spötteln über hedonismusfeindliche Konservativität Pflicht ist, desto mehr unterliegt dem Meinungsterror, wer ausspricht, dass wir in Wirklichkeit die Ausdehnung des protestantischen Puritanismus auf vormalige Musse-Bereiche erleben: «Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.» (GS 3, 158) Die brüchigen sozialen Beziehungen werden durch emotional aufgeladene Relationen zu Waren und die «Loyalität» von Marken kompensiert. Das Switchen innerhalb des kulturindustriellen Zeichensystems erfordert die Aneignung von kurzfristigem Signalwissen: «[…] anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft.» (GS 3, 181) Sogar der Kneipenbesuch wird zum Eintritt in die Welt von «erlebnisgastronomischen Philosophien», meist untermalt vom ewiggleichen Pop-Stampfen.
«Interdit de séjour!», persona non grata sei Adorno an den französischen Universitäten auch in den späten 60er Jahren noch gewesen, versicherte dem Autor René Riesel, 1968 Situationist und Philosophiestudent in Nanterre und heute Schafzüchter in der Lozère und (militanter) Spezialist für Gentechfragen. Die Poststrukturalisten hielten es tatsächlich eher mit Heidegger. Derridas Nichtbegriff «différance», ein metaontologisches Geschehen, das Identität und Differenz erst ermöglicht, hat mit Heideggers spätem «Seyn» mehr Ähnlichkeit, als die Apologeten wahrhaben möchten. Foucault deklarierte kurze Zeit vor seinem Tod, er hätte vieles anders gemacht, wenn er die Frankfurter früher studiert hätte.
Ahistorische Tendenzen, forcierte Textimmanenz, Zeichenfetischismus, Antimaterialismus, einseitige Überhöhung der Differenz – die bekannten Schwächen des Postmodernismus wurden bis zu einem gewissen Grad von Adorno durchaus antizipiert und thematisiert: «Denken, das an Identität irre ward, kapituliert leicht vor dem Unauflöslichen und bereitet aus der Unauflöslichkeit des Objekts ein Tabu fürs Subjekt, das […] nicht an das rühren soll, was ihm nicht gleicht.» (GS 6, 163) – «Heute bereits ist erkennbar, dass die immanente Analyse, einmal Waffe künstlerischer Erfahrung gegen die Banausie, als Parole missbraucht wird, um von der verabsolutierten Kunst die gesellschaftliche Besinnung fernzuhalten.» (GS 7, 269)
Die Härte und Schwere des fundamentalontologischen Raunens Heideggers wurde, differenzphilosophisch aufgetunt, aus Frankreich reimportiert. Sehr zur Freude der Philister, die sich den Kapitalismus enthemmt und den Geist, ganz nach der Art des Weimarer Mandarinentums, von apolitischen, antiintellektuellen Intellektuellen besorgt wünschen. Dass Positivismus und Elitismus zusammengehören wie Pech und Schwefel, war nie wahrer als heute: «Tatsachenmensch oder Luftmensch, das ist die Alternative.» (GS 11, 10). Wir verweigern sie und überwintern mit Adorno.
Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970-1986.