«Es gibt nach wie vor eine grosse narzisstische Arbeitsteilung, die ich in keinem Gleichstellungsprogramm thematisiert sehe.» – Ein Gespräch mit Tove Soiland über das Geniessen in Zeiten des Neoliberalismus, die patriarchale Dividende und die Psychoanalyse als subversive Praxis.
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Heute werden wir ständig dazu aufgefordert zu konsumieren, unser Leben zu geniessen, uns selbst zu verwirklichen. Leben wir in einer Zeit des Imperativs des Geniessens – wie Slavoj Žižek behauptet? Und um was für ein Geniessen geht es hier überhaupt?
Das ist eine wichtige Frage, weil es ja nicht einfach so ist, dass wir lustbetont leben. Man muss also wissen, was Žižek mit dem Begriff des «Geniessens» meint. Žižek übernimmt diesen Begriff von Lacan, der die protestierenden Studenten in den 60er-Jahren davor warnt, dass sie mit der Abschaffung sämtlicher Autoritäten einer neuen Herrschaftsform unterstellt werden, der sie mit ihren Liberalisierungsforderungen zudienen. Nach Lacan ist die 68er-Bewegung Ausdruck einer Veränderung in der Triebstruktur der Subjekte. Die Zeit bis zur Fordismus-Krise mitte der 70er-Jahre ist die Zeit der bürgerlichen Kleinfamilie, in der der Vater noch, mehr oder weniger, die patriarchale Autorität besitzt. Eine Zeit also, in der sich die psychische Struktur entlang eines Verbots herausbildet. Mit der antiautoritären Bewegung und der sexuellen Befreiung tritt an die Stelle des Verbots ein Gebot, das zwar, weil es ein Gebot ist, auch eine repressive Form hat, aber viel schwieriger zu durchschauen ist. Und weil es kein Verbot, keinen strengen Vater mehr gibt, bin ich selbst schuld, wenn ich mein Glück nicht erreiche.
Žižek bringt folgendes Beispiel, um diesen Übergang zu beschreiben: Ein Kind möchte nicht mit zur Grossmutter und lieber zu Hause spielen. Während der Patriarch dem Kind verbietet zu Hause zu bleiben und mit Konsequenzen droht, sagt der antiautoritäre Vater zum Kind: «Das musst du selbst entscheiden. Du musst einfach bedenken, dass deine Grossmutter sehr enttäuscht wäre, wenn du nicht mitkommst» – was für das Kind natürlich fatal ist, weil es nicht einmal mehr wütend auf seinen Vater sein kann.
Ja, es ist wichtig zu sehen, dass dies auch eine Herrschaftstruktur ist. Es handelt sich um eine neopatriarchale Struktur, die sich entpersonalisiert hat – weil die Autoritätsperson verschwunden ist. Die Instanz, die dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass ich mein Glück nicht finde, ist verschwunden. Dennoch finde ich das Glück natürlich nicht. Das gehört zum menschlichen Wesen.
Und es wird schwieriger subversiv zu sein? Gegen wen soll man sich denn noch auflehnen?
Ja, ich glaube, das ist das Problem, das heute vor allem auch junge Frauen betrifft. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Matura für uns Frauen als überflüssig angesehen wurde, weil wir ja sowieso heiraten. Wir konnten wenigstens gegen den Lehrer oder die Eltern opponieren. Heute hingegen werden junge Frauen überall gefördert. Und wenn du dann als Frau mit Dreissig merkst, dass du doch nicht erreicht hast, was dir in Aussicht gestellt wurde, dann kannst du die Ursache dafür nur noch in dir selbst sehen. Darum ist es für junge Frauen heute auch so schwierig zu verstehen, was überhaupt mit ihnen passiert.
Dennoch gab es auch vor der Abschaffung der Autoritäten kein ungebrochenes Geniessen.
Nein. Im menschlichen Geniessen gibt es immer etwas, das unmöglich ist. Diese Unmöglichkeit, das sagt sowohl Lacan wie auch Freud, ist konstitutiv dafür, dass der Mensch nicht einfach Nutzenmaximierer ist. Der Mensch wäre unglücklich, wenn es diese konstitutive Unmöglichkeit nicht gäbe.
Das heisst es gibt ein Geniessen, aber keine eigentliche Befriedigung?
Doch. Es gibt sogar eher eine Befriedigung, wenn es diese konstitutive Unmöglichkeit gibt. Wir kennen das, wenn wir beispielsweise schwierige Texte verstehen wollen. Es befriedigt uns nicht, wenn diese Texte in ein bachelorisiertes Modulwissen übersetzt werden. Damit fehlt das eigentlich Interessante: das Hindernis. Mit dem Jenseits des Lustprinzips meint die Psychoanalyse nicht etwas Unlustvolles, sondern das, was wir letztlich in einer Liebesbeziehung suchen und nicht zu haben ist. Wir kennen beispielsweise die Enttäuschung darüber, dass in einem Geschenk nicht das ist, was wir darin suchen – den Liebesbeweis. Aber wie soll man die Liebe beweisen?
Und trotzdem suchen wir danach. Ist dieses Hindernis, diese Unerfülltheit also letztlich unser eigentlicher Antrieb?
Ja, doch ich würde nicht vom Unerfüllten, sondern von etwas Geheimnisvollem sprechen. Und nun ist der Imperativ des Geniessens genau der Imperativ, dieses Rätselhafte unseres Begehrens – wie Lacan sagt – aufzuklären. Das heisst: die neoliberale Gesellschaft legt uns nahe, dass wir das Rätselhafte unseres Begehrens nicht nur vollständig aufklären können, sondern auch müssen.
Welche Funktion nehmen Waren in diesem, nennen wir es «neoliberalen» Geniessen, ein?
Die Konsumkritik, die die Frankfurter Schule für die fordistische Gesellschaft geleistet hat, ist immer noch gültig. Was nun aber Lacan, Žižek und die Schule von Ljubljana dieser Analyse hinzufügen, ist, dass wir nicht nur im Konsumieren von Waren einem gesellschaftlichen Imperativ folgen, sondern auch dann, wenn wir unseren «ureigensten inneren» Werten folgen, also einen Yogakurs machen oder etwas ähnliches. Selbst wenn wir auf Konsumgüter verzichten, folgen wir dem Befehl unser wahres Selbst, den richtigen Partner, ein erfülltes Liebes- und Sexualleben zu finden – was natürlich eine Illusion ist.
Nun unterstellt etwa Robert Pfaller unserer Gesellschaft mit ihren Geboten gesund, schön, erfolgreich zu sein gerade eine Lustfeindlichkeit. Man soll geniessen, ja, aber nicht zuviel und nicht so, dass man damit Gesundheitskosten verursacht. Wie geht das mit dem Imperativ des Geniessens zusammen? Ist das überhaupt ein Widerspruch?
Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch, denn das «richtige Geniessen» ist ja auch ein Optimierungsangebot. Denken wir an die Einschränkungen wie vegane Ernährung, Redeverbote, Political Correctness, die sich vor allem die junge Generation selbst auferlegen. Dabei geht es letztlich um eine Optimierung des Geniessens. Und das kann auch lustfeindlich sein.
Man muss also wegkommen davon «Geniessen» als etwas Unproblematisches, stets Angenehmes zu denken.
Ja. Wenn ich eine Wurst esse, ist das vielleicht noch lustvoll, das Essen der zweiten ist schon weniger lustvoll und das Essen der dritten und vierten ist es definitiv nicht mehr. Die Lust hat also etwas Problematisches an sich.
Nun gibt es ja gemäss Lacan verschiedene Arten des Geniessens. So unterscheidet er das «phallische Geniessen» vom «Geniessen des Anderen», das er auch das «weibliche Geniessen» nennt. Bis anhin haben wir über das «phallische Geniessen» gesprochen, richtig?
Ja. Der Ausdruck «phallisches Geniessen» kommt daher, dass die Libido gemäss Freud männlich ist. Das phallische Geniessen entspricht einem auf ein Objekt gerichtetes Geniessen. Von daher auch die feministische Kritik: Das Phallische braucht immer ein Objekt, macht also jemanden, meistens die Frau, zum Objekt. Nun gibt es bei Lacan ein Konzept, das das Geniessen von der Seite des Objekts her denkt, das einem nicht-zielgerichteten Geniessen entspricht. Und dieses Geniessen wird – vielleicht auch etwas idealisierend – der Frau zugeschrieben.
Frauen hätten also, obwohl sie natürlich auch phallisch geniessen, einen privilegierten Zugang zu diesem anderen Geniessen.
Ja. Wobei es wichtig ist zu betonen, dass Lacan Frau- und Mann-Sein nicht biologisch definiert, sondern aufgrund der Begehrensposition. Was Lacan als «Frau» bezeichnet, ist die Position, die zu einem nicht-phallischen Geniessen Zugang hätte, was, wie du richtig sagst, nicht heisst, dass Frauen nicht phallisch geniessen. Das ist gerade das Emanzipationsversprechen unserer Gesellschaft: dass Frauen in die Position des Männlichen gelangen können. Lacan fragt zu Recht, ob es wirklich das ist, was Emanzipation genannt werden kann oder ob es nicht darum ginge eine andere Form des Geniessens zu finden.
Und gibt es sie, diese andere Form des Geniessens?
Ich denke, dass dieses andere Geniessen, das Lacan im Seminar Encore, ausarbeitet, eine Antwort auf Irigarays Speculum ist: Ihr Denken eines nicht eingelösten Potentials, einer Form des nicht-objektgerichteten Geniessens. Das Problem mit dem objekt-gerichteten Geniessen ist seine Struktur des Verbots: das Verbot des Zugangs zum Körper der Mutter in der ödipalen Struktur, oder eben die Suggestion in der neopatriarchalen Gesellschaft, dass dieses Verbot aufgehoben ist – was genauso problematisch ist: in beiden Fällen wird suggeriert, dass es diesen Zugang überhaupt geben könnte. In diesem Sinn verbietet das ödipale Verbot etwas Unmögliches und lässt damit den Glauben an dessen Existenz entstehen. Was Irigaray deshalb versucht zu denken, ist eine andere Form der Begehrensstruktur, in der die für den Menschen konstitutive Unmöglichkeit nicht von einem Verbot herkommt. Konkret: dass nicht der Vater dem Kind den Zugang zum Körper der Mutter verbieten muss, sondern, dass die Frau selbst dem Kind eine Struktur und damit eine Grenze geben kann, mit der ihre Subjektivität ins Spiel kommt. Dies würde ein ganz anderes Begehren, sowohl für das Mädchen wie für den Jungen, ermöglichen.
Das ist schwierig sich vorzustellen. Das väterliche Gesetz bei Lacan steht ja für die ganze Kultur, Sprache, Sozialisation. Kann man sich denn überhaupt noch ein Subjekt denken, wenn es sich diesem Gesetz nicht unterwirft?
Der späte Lacan versucht eine andere Subjektstruktur zu denken. Eine Struktur, in der eine unmittelbare Konfrontation mit dem Realen, ursprünglich dem Körper der Mutter, möglich ist. Irigaray hat diesbezüglich eine andere Haltung. Das Reale ist für sie ein rückprojiziertes Phantasma einer allumfassenden Erfüllung, letztlich der Verschmelzung mit dem Körper der Mutter, und es ist ein Problem unserer Kultur, dass dieser Körper im Dunkeln bleibt. Denn die Verrätselung des weiblichen Körpers lässt das Reale erst entstehen. Irigaray sagt: Wenn der Status der Frau und der Mutter in unserer Kultur ein anderer wäre, würde diese Vorstellung des Realen, der verheissungsvollen Verschmelzung gar nicht entstehen. Letztlich ist es das Inzestverbot, das die Vorstellung des Inzests überhaupt erst hervorbringt. Und dieses Verbot verunmöglicht es der Frau, und der Mutter, als Subjekt überhaupt in Erscheinung zu treten.
Kann man sich unter diesem anderen Geniessen etwas Konkretes vorstellen? Lacan spricht in diesem Zusammenhang meines Wissens von Kunst oder den Erfahrungen der Mystikerinnen.
Ja, wobei diese Mystikerinnen ja wiederum von Männern erfunden wurden oder in einer sehr männlichen Tradition des Christentums stehen. Irigaray versucht das anders zu denken: mit der Vorstellung, dass sich diese Funktion des Verbots, von dem wir gesprochen haben, auf die Begegnung zweier Subjekte verschiebt. Konkret, dass diese Grenze – und es braucht diese Grenze beim menschlichen Geniessen – nicht von einer äusseren Instanz kommt, sondern dass sich die beiden Subjekte diese Grenze gegenseitig geben.
Und das würde auch eine ganz andere Form der Liebe und Erotik implizieren.
Ja. Das Liebesobjekt würde in die Position des Subjekts geraten. Irigaray hat eine Menge Bilder für diese intersubjektive Konstellation gefunden, für die sie sehr kritisiert wurde, weil man diese Bilder stets biologistisch gelesen hat. Eine Metapher ist das Muköse, die Schleimhaut. Irigaray spielt damit, dass die Schleimhaut der Frau, also der Vagina oder dem Inneren der Gebärmutter zugeschrieben wurde. Die Schleimhaut ist gleichzeitig Wand und durchlässig und damit Metapher für die Möglichkeit einer durchlässigen Grenze. Auch das Bild der Schamlippen, die sich gleichzeitig berühren und begrenzen, ist ein solches Bild. Es impliziert das Denken einer Erotik, in der kein Objekt mehr im Spiel ist. Man darf dies jedoch nicht als Urverschmelzung denken, denn ohne Zwischenraum gibt es keine Begegnung. Auch Mutter und Tochter könnten sich, gemäss Irigary, in einer je mütterlichen und je töchterlichen Liebe lieben, wenn es eine Sprache zwischen ihnen gäbe. Wenn diese Sprache also nicht durch eine Vatersprache ersetzt worden wäre, die ein Verbot einführt, das wieder das Paradox des Verbots des Unmöglichen mit sich bringt.
Gibt es Möglichkeiten Räume zu schaffen, in der solche intersubjektiven Begegnungen eher möglich sind?
Das ist eine schwierige Frage. Ich bin jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass Frauenräume wichtig sind und einen Austausch unter Frauen ermöglichen – jenseits des Imperativs zu der von der Gesellschaft definierten Emanzipation. Heute wird es als grosse Emanzipation gefeiert 615-544-6765 , dass Mädchen forscher sind, wie Jungs auftreten und das tun, was sie vorher erlitten haben, also beispielsweise einen jungen Mann betrügen. Ich glaube diese Errungenschaft beschränkt sich darauf, dass junge Frauen gelernt haben, die männliche Position einzunehmen. Hinter diesem männlichen Verhalten verbirgt sich letztlich eine grosse Unsicherheit und eine Frage, die das Begehren betrifft. Das eigene Begehren der Frau ist unter all den Angeboten der Gleichstellung und der Work-Life-Balance aus dem Blick geraten – Angebote, die letztlich wieder Imperative des Geniessens und Optimierens sind. Es ist ein Tabu geworden zuzugeben, dass wir in diesem Punkt immer noch sehr ratlos sind. Und dieses Tabu ist genau Ausdruck des Imperativs zum Geniessen. Junge Frauen müssen heute sehr früh Sexualität nachweisen können, sie müssen sexy Kleider tragen und sie müssen auch noch so tun, als ob sie sich darin wohl fühlten.
Du sagst, dass sich Frauen, was die Sexualität betrifft, den Männern anpassen. Aber ist es nicht auch hier dasselbe: Ja, seid forsch, seid aktiv, aber nicht zu sehr. Ein Mann, der viele Frauen hat, wird noch immer bewundert. Eine Frau, die viele Männer hat dagegen nicht.
Ich weiss nicht, ob das so ist. Und selbst wenn eine Frau sehr viele Männer hat, zweifle ich daran, dass es das ist, was sie befriedigt. Was ich vor allem erlebe, ist, dass es für Frauen sehr schwierig ist, beruflichen Erfolg und Liebesleben zu verbinden. Die meisten Frauen, die ich kenne und die beruflich erfolgreich sind, sind single. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass Frauen eher eine narzisstische Stütze für den Mann sind als umgekehrt der Mann für die Frau. Hier gibt es also nach wie vor eine grosse narzisstische Arbeitsteilung, die ich in keinem Gleichstellungsprogramm thematisiert sehe.
Du redest vom Leiden und der Ratlosigkeit der Frauen. Aber leiden nicht auch Männer unter dieser Vorherrschaft des phallischen Geniessens?
Ich glaube nicht, dass sie leiden, denn sie haben die patriarchale Dividende – so hat das Raewyn Connell genannt. Die Männer haben etwas von dieser Geschlechterordnung. Ansonsten wäre die ganze Geschlechterdebatte von den Männern und nicht von den Frauen ausgegangen. Ich bin gegen diese These, dass Männer darunter leiden, dass sie die Kinder nicht hüten können. Sie könnten sich das einrichten, wenn sie das wirklich wollten.
Wie steht es mit der Analyse der Linken, was diese Problematik betrifft?
Gerade in linken Kreisen geht man oftmals immer noch davon aus, dass wir uns gegen normative Zuschreibungen wehren müssen – die ganze Diskriminierungsdebatte. Dies rennt offene Türen ein, weil das wirkliche Problem schwer fassbar ist. Selbst wenn alle Diskriminierung aufgehoben wäre, bin ich überzeugt, dass junge Frauen weiterhin gehindert sind. Weil die grundlegende Frage nach einer anderen Begehrensstruktur, einer anderen Form von Liebe und Sexualität nicht gestellt wird.
Ist eine andere Begehrensstruktur für die Frau überhaupt denkbar in Beziehung mit Männern?
Ich denke schon. Und das kann man sich ja auch nicht aussuchen, wenn man einmal positioniert ist. Vielleicht wäre das die Aufgabe eurer Generation. Wir haben damals gedacht, das ginge nicht und dies war auch eine Sackgasse der zweiten Frauenbewegung. Die heterosexuellen Frauen sind auf diesen Queer-Zug aufgesprungen, der, glaube ich, keine Antwort ist auf dieses Problem. Für andere Formen des Begehrens und der Begegnung in einer intimen Beziehung gibt es einfach noch keine kulturellen Formen. Man hat gedacht, wenn die Frauen in die männliche Position gelangen, sei das Problem gelöst.
Ist die Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, wie sie paradigmatisch ist, auch Stütze dieser Subjekt-Objekt-Begegnung?
Ich glaube nicht. Was Irigaray mit einer intersubjektiven Beziehung beschreibt, ist auch eine Zweierbeziehung. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es notwendig ist, die Zweierstruktur aufzulösen, um zu einer anderen, für Frauen weniger problematischen Form von Sexualität und Begehren zu gelangen. Ich glaube das Konzept der Polyamorie ist keine Lösung für die Mehrheit der Menschen. Und ich glaube auch nicht, dass Kinder, die in einer WG mit mehreren Elternteilen aufgezogen werden, deshalb polyamouröser werden als andere – im Gegenteil.
Lacan spricht von vier Diskursen: Dem Diskurs des Herrn, dem Diskurs der Hysterikerin, dem Diskurs der Universität und dem Diskurs des Analytikers. Der Diskurs der Hysterie ist die Infragestellung des Diskurses des Herrn, also der patriarchalen Logik. Mit dem Ende der klassisch-patriarchalen Gesellschaft ist wohl auch das subversive Potential der hysterischen Position verschwunden?
Freud hat seine Theorie über die Position des Vaters nur schreiben können, weil diese Position bereits unter Druck geraten ist. Die Väter der Frauen, die Freud analysierte, sind sehr oft bereits geschwächte Väter. Diese Väter sind herausgefordert durch die hysterische Position. Das, was Lacan später als Wandel in der Triebstruktur beschreibt, das was zum Diskurs der Universität geführt hat, ist verursacht durch die Infragestellung der väterlichen Autorität durch die Hysterikerin. Eine Leseart ist, diese vier Diskurse historisch zu lesen. In diesem Sinne hat der Diskurs des Herrn eine Infragestellung erfahren durch die hysterische Position. Die Hysterikerin zweifelt an der Autorität. Und das ist sowohl für sie wie für die väterliche Position ein Problem. Faktisch ist aus dieser Situation der Diskurs der Universität entstanden. Wenn die Position des Herrn entthront wird, dann ist an die Stelle dieser Autorität ein Wissen getreten, das uns verspricht den richtigen Zugang zum Geniessen erlangen zu können. Eine andere Option wäre der Diskurs des Analytikers, der eine unmittelbare Konfrontation mit dem Realen ermöglicht. Historisch gesehen hat aber diese Wendung nicht stattgefunden. Die wirkliche kritische Position heute ist nicht mehr die der Hysterie, sondern der Diskurs des Analytikers.
Auf die Gefahr hin zu vereinfachen: könnte man im Diskurs des Analytikers auch dieses andere Geniessen situieren?
Eine interessante Frage. Ja, vielleicht könnte man das. Weil dort aufgrund der Konfrontation mit dem Realen der Trieb freigesetzt wird und dieser Trieb nicht mehr objektal ist und der Logik von Verbot und Überschreitung gehorcht, sondern einer anderen Logik, die mit dem Realen zu tun hat.
Sollten wir alle, aber insbesondere junge Frauen, eine Psychoanalyse machen?
Auf jeden Fall. Aber bei einer aufgeklärten Analytikerin. Es gibt sowohl konservative Strömungen wie auch sehr fortschrittliche Positionen in der Psychoanalyse. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Praxis anders funktioniert als in der Theorie, dass also die Analytikerin es anders macht, als es festgeschrieben steht – vielleicht ohne es zu wissen, einfach aufgrund dessen, dass sie selbst in einer weiblichen Position ist. Und das ist gut so. Gerade Frauen waren mehrheitlich in dem, was Freud Laienanalyse genannt hat, tätig. Ich glaube, dass daraus eine Art subversive Praxis entstanden ist, die sich nie in einer Theorie niedergeschlagen hat – und das ist vielleicht ihre Chance, weil sie sonst wieder zurückgeführt würde auf gewisse patriarchale Grundannahmen. Ich glaube aber, dass Lacan an diesen patriarchalen Grundannahmen sehr viel verschoben hat. Es gibt also durchaus feministische Anschlussmöglichkeiten an Lacan. Ich halte die Psychoanalyse für ein gutes Mittel für eine feministische Bewegung, weil damit das Begehren ins Spiel kommt. Wobei Mittel das falsche Wort ist, weil es gerade nicht um ein instrumentelles Verhältnis geht. Ich glaube, dass die Psychoanalyse die am wenigsten normative Methode ist, sich selbst und seinem Begehren näher zu kommen.
Vgl. auch: Tove Soiland: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Wien 2010; dies.: Lacan und Marx, in: Widerspruch Heft 62 / 2013.
* Eine gekürzte und leicht veränderte Version dieses Interviews ist erschienen in RosaRot – Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen, Nr. 48, Frühling 2015.