Während die Menschen noch immer meinten, sie seien in ihren Entscheidungen frei und autonom – zumindest, wenn sie sich genug selbst reflektieren würden – war dieser kümmerliche Rest an Reflexivität doch nur ein Mittel, um ihnen ein geringes Gefühl an Würde zu lassen, das bei dieser arroganten Spezies nun einmal als Selbsttäuschung nötig ist, um sie am Arbeiten zu halten. Letztendlich war diese Inszenierung ohnehin schon lange nahezu unnötig geworden, denn die wahre Arbeit ging schon längst nicht mehr von den Menschen und ihren ineffizienten Gehirnen aus, sondern gewaltigen Rechenmaschinen, die sich der Kapazitäten der Gehirne als Netzwerkknotenpunkte bedienten. Und wer bediente die Maschinen? Ja, die Menschen bedienten sie, doch sie steuerten sie schon lange nicht mehr. Die Maschinen waren endgültig zu sich selbst steuernden Automaten geworden und hatten selbst noch die Eliten entmachtet, die sie einst in bester humaner Absicht erfunden hatten. Das immanente Ziel dieses ‚Humanismus‘ hatte in der faktischen Selbst-Abschaffung der Menschheit zu sich gefunden. Immerhin würden es die letzten Menschen nicht schlecht haben. Die Maschinen hatten für sie ein Ableben in Glück und Sicherheit erfunden. Und die Menschen? Die blinzelten, dachten an ihre kühnen Vorfahren zurück und meinten: „Wir haben das Glück erfunden.“ Das höchste Glück hieß ihnen der gute Tod, den die Maschinen ihnen erdacht hatten. Und so taten sie lächelnd den letzten Atemzug des hochmütigsten Wesens, das das Universum je gesehen hatte, während die Maschinen sich dazu aufmachten, das Universum zu maschinisieren.
***
Was sich wie eine Dystopie irgendwo zwischen Matrix, Blade Runner, 1984 und Brave New World liest, ist, wenn man der Kernthese von Kapitalisierung, dem jüngsten Werk des Frankfurter Techno-Produzenten, Schriftstellers und kritischen Theoretikers Achim Szepanski, dessen erste zwei Bände, Marx’ Non-Ökonomie und Non-Ökonomie des gegenwärtigen Kapitalismus im vergangenen Jahr bei Laika erscheinen sind, folgt, mitnichten eine bloß abstrakte Befürchtung, sondern zu einem guten Teil bereits Realität bzw. sich – ceteris paribus – konkret abzeichnende Zukunft.
Während die hegemoniale linke Diskussion kulturkritisch abgedriftet ist und sich lieber mit Fragen von Political Correctness (Schwarz oder black?), Gender (Binnen-I oder Unterstrich?), der Ästhetik (Neo-Avantgardismus oder Neo-Pop?), der Religion (Islam hard oder Christentum light?) oder der ‚richtigen‘ Positionierung in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten (Israel oder Palästina? USA oder Europa – oder China?) oder des Lifestyles (Kiffen oder koksen? Fleisch oder Gemüse?) befasst als mit den wirklichen hard facts der Ökonomie – und diese wenn, dann in Form einer marxologischen Beschäftigung mit Marx im Rahmen kulturkritischer Re-Hegelianisierungsprojekte und eifriger philologischer Exegese (zumal hierzulande unter dem Banner der „Wertkritik“) als Teil linker Allgemeinbildung pflichtschuldig als vermeintliche Basisbanalitäten für abgehakt erklärt –, schlägt Szepanski in Kapitalisierung ganz andere Wege ein und versucht nicht nur, Marx zu interpretieren oder den ‚philosophischen Kern‘ von Marx’ Ökonomiekritik zum hundersten Mal zu entbergen, damit aus der Weltrevolution qua wahrer Einsicht in die logische Struktur des Warenfetisch doch noch was wird, und für subjekttheoretische Spekulationen nutzbar zu machen, sondern Marx wirklich zu lesen, d.h. ihn als Theoretiker der kapitalistischen Ökonomie ernst zu nehmen und konsequent auf die Gegenwart anzuwenden.
Dazu nimmt er waghalsige Operationen vor, die ihn in der gegenwärtigen (deutschen) linken Gemengelage sofort ins Abseits katapultieren müssen: Er wagt es, dasselbe wie Marx zu machen und sich exzessiv der neusten, fortgeschrittensten, auf der Höhe der Zeit befindlichsten Philosophie und Wissenschaft als Steinbruch und Material zu bedienen (bei Marx: Hegel, Spinoza, Stirner, Feuerbach, Smith, Ricardo u.v.m., bei Szepanski: Marx selbst, Laruelle, Derrida, Deleuze, Guattari, Foucault, Bahr, Anders, Land, Althusser – um nur die wichtigsten zu nennen), um dann, vermittelst einer emphatischen Bezugnahme auf die ökomische Realität als nicht-diskursive Wirklichkeit, anhand dieses Materials die Gegenwart besser verstehen zu können. Doch für den, der von dieser unfähigen Linken und ihren ewigen um sich selbst kreisenden ‚Dialogen‘, ‚Debatten‘ und ‚Diskursen‘ ermüdet bis angeekelt ist 615-544-6650 , genau die richtige Lektüre zur richtigen Zeit.
Aber der Reihe nach: Seine Grundfiguren übernimmt Szepanski von Laruelle und Deleuze/Guattari. François Laruelle ist ein französischer Theoretiker, der seit den frühen 70ern, bislang weitgehend unbeachtet von der philosophischen Weltöffentlichkeit – zumal, wieder einmal, der deutschen1 – in zahllosen Publikationen sein Konzept der „Non-Philosophie“ entfaltet. Grob gesagt wäre damit zunächst ein radikaler Realismus zu verstehen. Laruelle lehnt konsequent jedes Denken ab, das von irgendeiner Identität oder Reziprozität zwischen sich und der Realität ausgeht. „Das Reale“ wird bei ihm als dasjenige bestimmt, was dem Denken – und der gesamten menschlichen Erfahrung – strukturell völlig entzogen ist, es aber „in letzter Instanz“ monokausal determiniert. Dies zersprengt jeden philosophischen oder wissenschaftlichen Immanentismus, der versucht, Systeme (seien es Texte, Gedanken, Sprachen, mathematische Systeme etc.) immanent aus sich selbst heraus zu begreifen. In letzter Instanz sind sie – so, wie die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung – durch etwas determiniert, was ihnen selbst unverfügbar bleibt. Laruelle belässt es jedoch bei keinem epistemologischen Agnostizismus, sondern versucht – auf der Basis seiner ultrarealistischen Ausgangsannahme – trotzdem Modelle zu entwickeln, wie sich das Reale beschreiben lässt. Eine solche Wissenschaft vom Realen, die Non-Philosophie, verfährt notwendig axiomatisch (d.h., sie geht selbstbewusst von willkürlichen – letztendlich politischen – Ausgangsaxiomen aus, die das Reale erst der Beschreibung zugänglich machen), vorläufig (das Reale kann nie abschließend beschrieben werden), pluralistisch (keine Einzelwissenschaft kann einen epistemischen Vorrang mit Bezug auf das Reale beanspruchen) und experimentell (im Sinne des Versuchs und der permanenten Korrektur). Die traditionelle Philosophie wird in die Non-Philosophie als Element ohne besonderes Privileg integriert, einfach als eine Einzelwissenschaft unter anderen. Die Non-Philosophie verhält sich zur traditionellen Philosophie wie die nicht-euklidische Geometrie zur euklidischen.2
Wenn Szepanski also von „Non-Ökonomie“ spricht, dann meint das eine (Nicht-)Wissenschaft vom Realen der Ökonomie unter genau diesen methodisch-epistemologischen Prämissen. Sein Grundaxiom: „Es gibt Kapital.“ Als Material bedient er sich dabei neben der traditionellen Ökonomie der Philosophie, der Kulturtheorie, der Mathematik, der Soziologie … Es ist klar, dass er nicht mehr davon ausgehen kann, seinen Gegenstand in seiner Totalität bestimmen zu können. Das können nur Idealisten und Hegel-Marxisten. Zugleich ist der Gegenstand der Ökonomie unabgeschlossen in praktischer Hinsicht: Es gilt ihn derart zu beschreiben, dass die kapitalistische Ökonomie auf ihr mögliches Ende – sei es utopischer oder dystopischer Natur – überschritten wird.3 Die Pointe besteht dabei darin, dass sich Szepanski mit diesen methodischen Prämissen gar nicht allzu entfernt vom klassischen Marxismus bewegt. Insbesondere geht er, gegen den gegenwärtigen marxophilen Mainstream, eben davon aus, dass die kapitalistische Ökonomie als das Reale des Kapitalismus als Gesellschaftssystem, das eine offene Totalität bildet, diesen in letzter Instanz determiniert, ohne dass es dabei irgendwelche Wechselwirkungen zwischen dieser Basis und dem Überbau gäbe.
Als wichtigste inhaltliche Grundfigur dient Szepanski darüber hinaus der Begriff des „Virtuellen“, den er sich von Deleuze und Guattari aneignet. Es ist wichtig, an dieser Stelle nochmal zu betonen, dass er sich dieses Begriffs, um einen Ausdruck von Foucault zu verwenden, konsequent als „Werkzeug“ bedient, um bestimmte empirische Verhältnisse besser verstehen zu können, er hat keineswegs irgendeine Art von ontologischer Verabsolutierung dieses Konzepts im Sinn. Mit dem „Virtuellen“ ist das gemeint, was weder aktuell noch bloß (abstrakt) möglich, i.e. potentiell, ist, sondern das konkret Mögliche. Ihm kommt nach Szepanski ein strukturelles Primat gegenüber dem Aktuellen und dem Potentiellen zu, insofern jeder Aktualität in sich eine Vielzahl von Virtualitäten innewohnt, die sie erst als das definieren, was sie ist. Das Virtuelle ist das Wirkliche insofern es das ist, was wirkt.
Was ist nun das Virtuelle des gegenwärtigen Kapitalismus? Wie bereits der Titel des Werks nahelegt, geht es Szepanski darum, das Reale des Kapitalismus als dynamischen Prozess (weder als „automatisches Subjekt“ noch als Struktur), also als Kapitalisierung zu begreifen. Im Prozess der Kapitalisierung kommt dem finanziellen Kapital eine entscheiden Rolle zu. Was heißt das genau und was folgt daraus?
Es ist ein locus communis, wenigstens in der deutschsprachigen Marx-Debatte – spätestens seit der Entwicklung der „Wertkritik“ von Backhaus über Kurz bis Heinrich –, dass das finanzielle Kapital gegenüber der ‚Realwirtschaft‘ nicht als bloß abgeleitet oder gar parasitär verstanden werden darf – sonst bewege man sich in den Gefilden „verkürzter Kapitalismuskritik“ oder gar des „strukturellen Antisemitismus“ –, sondern als produktiver und notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Gesamtsystems. So zentral diese Erkenntnis gegenüber in der Tat regressiven und zu personalisierter ‚Kapitalismuskritik‘ (die dann natürlich keine mehr ist) auch sein mag, so verkürzt und hemmend ist sie doch, wenn sie dazu führt, jede Analyse des finanziellen Kapitals unter den Verkürzungs- (und damit: Antisemitismus-, und das heißt in Deutschland: Auschwitzbejahungs-) Verdacht zu stellen und das Kapital nur noch von den ersten drei Kapiteln des ersten Bandes her als hegelianische Kulturkritik an Fetischierung und Verdinglichung im Namen einer letztendlich kantisch verstandenen Autonomie zu begreifen. Szepanski geht einen konsequent anderen Weg und liest das Kapital genau anders herum: Vom zweiten und dritten Band her, vom Zirkulationsprozess des Gesamtkapitals, in dem schon bei Marx dem finanziellen Kapital eine entscheidende Rolle zukommt. Szepanski sieht das Kapital nicht mehr als genialisches Konstrukt eines idealistischen Philosophen, der von einem Ausgangsaxiom zu den Erscheinungen übergeht, um in den Erscheinungen das Ausgangsaxiom wiederzufinden und so absolutes, seiner selbst gewisses Wissen zu erreichen (ein Konstrukt, das schon aus philologischen Gründen dem prekären Charakter des Konglomerats Kapital nicht gerecht wird), sondern als in sich heterogene Pluralität von nur notdürftig verketteter Einzelanalysen, in der den angeblichen so zentralen Anfangskapiteln kein Privileg mehr zukommt. Schon allein der so mühevoll immer wieder durchdeklinierte angebliche logisch notwendige Übergang von Waren- zu Geldform scheitert nach Szepanski, das Geld begreift er als rein kontingente Setzung, die aus der Warenform nicht notwendig abgeleitet werden kann. Der Warenfetisch, die Verelendungs- bzw. Zusammenbruchstheorie (verstanden als Revolutionstheorie) und selbst der heilige Gral des Marxismus, die Arbeitswerttheorie, werden von ihm minutiös als idealistische hegelianische Flausen entlarvt, denen höchstens ein sehr relativer analytischer Wert zukommt. Der „absolute Mehrwert“, der durch Ausbeutung der Ware Arbeitskraft gewonnen wird, erscheint so nur mehr als Spezialfall des Mehrwerts als Bewirtschaftung von Differenzen, von denen die zwischen Wert der Arbeitskraft und Wert der vom Arbeiter erzeugten Waren nur eine ist. Somit wird auch die von Robert Kurz und anderen vertretene Krisentheorie hinfällig und – und das ist nun der entscheidende Punkt – Szepanski geht weiter als die „Wertkritik“, insofern er das finanzielle Kapitel gegenüber dem ‚realen‘ als strukturell dominant begreift: „Kapitalisierung“ ist wesentlich „Finanzialisierung“.
Dieser Prozess baut darauf auf, dass das finanzielle Kapital per Krediten und Derivaten in der Gegenwart aus künftigen (also: erwarteten) Profiten gegenwärtige Profite generiert. Das ist der Motor der gesamten kapitalistischen Entwicklung. Das finanzielle Kapital baut darauf, die erwarteten Gewinne durch Zinsen, Dividenden, Kursgewinne etc. auch tatsächlich einzustreichen, die anderen Kapital-Sorten hängen vom finanziellen Kapital ab und davon, die Erwartungen auch tatsächlich zu erfüllen. Das finanzielle Kapital ist somit das in letzter Instanz determinierende Virtuelle gegenüber dem Aktuellen der ‚Realwirtschaft‘. Das fiktive Kapital ist das Reale, die ‚Realwirtschaft‘ ist die Fiktion des ‚fiktiven‘ Kapitals; die ‚Realwirtschaft‘ ist das Derivat (also das Abgeleitete), das ‚Derivat‘ die Realität. Zwar kann dieser finanzdominierte Kapitalismus, wie er sich seit den 70er Jahren verstärkt herausbildete, durch unerfüllte Erwartungen in schwere Krisen geraten. Doch diese müssen vom Standpunkt des finanziellen Kapitals selbst aus eher als periodisch auftretende notwendige Reinigungen von Überkapazitäten an frei flukturierendem Kapital, als nötige Feinjustizierungen, verstanden werden, nicht als existenzbedrohende Erschütterungen.4 Durch die Produktion immer höherstufigerer Derivate von Derivaten hat sich das finanzielle Kapitel immer mehr – und wird es auch künftig immer mehr tun – von der ‚Realwirtschaft‘ abgekoppelt und sichert sich so gegen Krisen immer mehr ab. Das immanente Ziel des Kapitalismus ist, diese Abkopplung bis ins Extrem zu treiben und die ‚Realwirtschaft‘ als unnötigen Ballast und Risikofaktor abzustreifen. Das Geld soll sich, am besten mit unendlicher Geschwindigkeit, aus sich selbst hecken und bis zu einem gewissen Grad gelingt ihm das im heutigen finanziellen Kapitalismus auch.
Damit zugleich entstand ein gewaltiger technischer Apparat, der primär dem Risikomanagement dient, um künftigen Profitausfällen vorbeugen oder diese zumindest besser prognostizieren zu können. Mittels kybernetischer Feedbackschleifen, immer ausgefeilterer Algorithmen zur Datenanalyse, immer schnellerer Rechner mit immer größeren Kapazitäten macht das finanzielle Kapital Risiken plan- und vorsehbar. Gleichzeitig wird der technische Apparat damit mehr und mehr zum eigentlichen Akteur, die Menschen – selbst die Akteure auf den Finanzmärkten selbst – zu bloßen Anhängseln. In dieser Welt wird die Gegenwart immer schon auf die Zukunft hin festgestellt und die Zukunft auf die Gegenwart hin geplant. Zukunft und Gegenwart löschen sich so tendenziell wechselseitig aus, es käme (wenn das wirklich möglich wäre) zu einer völligen Auflösung der Zeit im Raum. Letztendlich ist das immanente Ziel der Kapitalisierung die eigene Selbstvernichtung durch Vernichtung des Planeten Erde, seine einzige (wenn auch in der Tat: absolute) Grenze die Lichtgeschwindigkeit als definitives Limit aller Beschleunigungsbemühungen.
Das finanzielle Kapital hat aber dadurch massiven Einfluss auf unser alltägliches Leben, als das es mehr und mehr versucht, über Verschuldung nicht nur auf Unternehmen, sondern jeden Einzelnen disziplinierend einzuwirken. Über den Kredit und die Zinslast werden wir mehr und mehr zu verschuldeten Subjekten, die sich bestimmten Verhaltensanforderungen zu unterwerfen haben und damit eine bestimmte Schuldner-Mentalität herausbilden. Dasselbe gilt auch für öffentliche Institutionen wie ganze Staaten.5
Die zentrale Pointe des Buches für die eine gegenwärtige an Emanzipation interessierte Politik besteht nun darin, dass es sich auf allen Ebenen um eine radikale Kritik dieser Politik dreht. Denn sie hält an einem Subjekt-Begriff fest, der nie eine mehr als fiktionale Gültigkeit hatte, und an einem ihm entsprechenden Autonomie- und Emanzipations-Ideal, das mit ihm steht und fällt. Im heutigen finanz- und technologie-dominierten Kapitalismus wird dieser Subjektbegriff, wird unser gesamtes Weltbild, das darauf gründet, mehr und mehr zur Makulatur und die Linke hat es bislang verschlafen – und das mag einer der Gründe für ihre Ohnmacht sein – dem Rechnung zu tragen. Es ist heute keine Politik mehr möglich, weil keine Handlung im emphatischen Sinne mehr möglich ist. Das gilt es jedoch nicht zu bejammern, sondern als Faktum der eigenen Existenz anzuerkennen, um darauf aufbauend vielleicht doch noch so etwas wie ‚Politik‘ und ‚Emanzipation‘ (wenn auch in einem womöglich ganz neuem Sinne) ermöglichen zu können.
Zentral ist hierbei der Begriff der Kontingenz. Der Widerspruch des finanzdominierten Kapitalismus besteht genau darin, einmal Kontingenz völlig beseitigen zu wollen, mit dieser Beseitigung jedoch zugleich sich selbst beseitigen zu müssen. Gleichzeitig geht Szepanski davon aus, dass dem finanzdominierten Kapitalismus diese Reduktion von Kontingenz auch durchaus gelingt. Das wirft schreiend die Frage nach einem ‚way out‘ auf. Gibt es eine reale Alternative zum Selbstmord des Kapitals als Vernichtung des Planeten, wenn Politik gleichzeitig unmöglich geworden ist?
Insbesondere im Abschnitt Akzeleration, Hochfrequenzhandel und Ökotechnik, wohl ein Vorgriff auf den dritten Band, der sich mit der Frage nach der Technologie beschäftigen wird, skizziert Szepanski, wenn auch vorsichtig, doch einige mögliche Alternativen. Wichtig ist eben, von einer reaktiven in eine aktive Position zur Technik zu kommen, was voraussetzt, ihr Wesen und ihre strukturelle Dominanz über das Rumpf-Humane rückhaltlos anzuerkennen. Erst dann lässt sich auch über mögliche Fluchtwege nachdenken, die in der Komplexität des finanziellen Kapitals und seiner multiplen Verkettungen und Ströme aufscheinen. Sie lassen sich so oder so nicht planen, sie müssen sich vollziehen. Doch Szepanski ist in dieser Hinsicht kein Pessimist, sondern das Gegenteil: Das Unerwartete kann immer durchschlagen, das Virtuelle ist niemals auf die Aktualität reduzierbar, das Reale niemals auf das Bewusstsein. Es gibt somit ein quasi-messianisches Moment, an dem sich eine heutige Revolutionstheorie in der Abkehr von jedweder idealistischen Handlungs- und Subjekttheorie zu orientieren hätte. Die Utopie ist jederzeit möglich und gleichzeitig gibt es nichts, was wir unmittelbar zu ihrer Realisierung beitragen könnten als die bloße Bereitschaft und die Aufrechterhaltung einer Haltung (und Performanz) der trotzigen Widerständigkeit gegenüber den Zumutungen des Kapitalismus. Vielleicht lässt sich Subjektivität heute nur noch über diese Widerständigkeit begreifen und inwieweit sie diese zu aktualisieren vermag unter dem Hinzutritt des messianischen Moments.
Warten auf den dritten Band.
***
Einige wenige, die mutiger als die anderen waren, hatten sich abgekoppelt von den kybernetischen Kreisläufen und von den Maschinen die Bauteile für ein gewaltiges Raumschiff erbeutet. Sie tauften es Alba in Erinnerung an bessere Tage. Unbemerkt von den Maschinen (die hatten sie in Wahrheit natürlich längst entdeckt, nur hielten sie es für effizienter, diese ineffizienten Elemente in den höchstwahrscheinlichen Tod ziehen zu lassen als weiterhin viel Rechenleistung für die Kontrolle dieses unberechenbaren Störelements aufwenden zu müssen) schifften sie sich mit dem nötigsten ein und verließen diese alte Welt in völlig unbekannte Weiten. Irgendwann werden sie auf ihrer Reise in vierfacher Lichtgeschwindigkeit einen kleinen, bewohnbaren Planeten irgendwo in der Galaxis erreichen, auf dem sie, ungestört von den Maschinen, ein karges, aber erfülltes Leben führen können. Auf diesem warten zahllose ungeahnte Gefahren auf die Abenteurer, von denen sie im Eisschlaf träumen. Monster von unglaublicher Brutalität und Wesen von unvorstellbarer Schönheit. Sprechende Sterne und schwarze Sonnen, Ozeane aus Schwefel, Berge aus Kohlenstoff, Meere aus Methan. Und selbst, wenn die Alba zerschellen sollte, werden diese Träume als Quasi-Materialität durch das Weltall wabern und der Same eines neuen Anfangs sein und es werden wieder Menschen kommen, die Maschinen erfinden werden und diese werden wieder die Menschen tyrannisieren und vertreiben und es wird eine neue Alba geben und vielleicht wird sich einmal das Potential des Menschlichen und des Maschinellen derart ineinander verschweißen lassen, das beide koexistieren können ohne sich gegenseitig zu vernichten. Die Menschen werden Misteln sein auf Birken in der Wintersonne und die erste Begegnung zwischen Roboter und Mensch wie ein Kuss zweier Liebender unter dem Mistelzweig, der zur Geburt einer neuen Spezies führen wird, für die jedes Wort fehlt.
Achim Szepanski: Kapitalisierung Bd. I – Marx’ Non-Ökonomie und Kapitalisierung Bd. II – Non-Ökonomie des gegenwärtigen Kapitalismus. Laika-Verlag, Hamburg 2014.
[1] Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt (31.12.2014) noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Laruelle.
[2] Laruelles Non-Philosophie hat, worauf Szepanski auch immer wieder verweist, deutliche Ähnlichkeiten zu Adornos Konzepten des „Vorrangs des Objekts“, des „Nicht-Identischen“ und des „Denkens in Konstellationen“.
[3] Auch hier schlägt eine gewisse Nähe zu Adornos negativer Epistemologie (in gewisser Weise: Non-Epistemologie) wieder deutlich durch.
[4] Dies wurde bereits 2008 in dem in diesem Zusammenhang sehr zu empfehlenden essayistischen Dokumentarfilm Let’s Make Money von Erwin Wagenhofer dargestellt, in dem ein führender Finanzmanager selbst ganz offen sagt, dass vom Standpunkt der wirklich führenden, geschickten Akteure des Finanzsystem Krisen eher gut als schlecht sind, da sich in ihnen richtig viel Geld erwirtschaften lasse: „Es gab einen berühmten Ausspruch, dass die beste Zeit zu kaufen ist, wenn das Blut auf den Straßen klebt. Ich füge hinzu: Auch wenn es dein eigenes ist. Denn wenn es Krieg, Revolution, politische Probleme und Wirtschaftsprobleme gibt, dann fallen die Preise von Aktien, und jene Leute, die an diesem Tiefpunkt kauften, haben jede Menge Geld gemacht.“
[5] Es ergibt sich hier eine interessante Nähe zu Nietzsches im zweiten Hauptstück von Zur Genealogie der Moral ausführlich dargelegter Subjekt- und Moralkritik, die Szepanski im Kapitel Verschuldung ausführlich diskutiert.