Die Berichte über syriza vor und nach den Wahlen 2015 in Griechenland sind von einer eigenartigen Schärfe, wo sie drohen, und einer grossen Empathie, wo sie hoffen. Dahinter steht die angesichts der anhaltenden Krise in Europa immer dringlichere Frage, die Slavoj Zizek in seinem Büchlein über das Ereignis formuliert hat: Inwieweit kann in der heutigen Politik überhaupt noch ein Ereignis stattfinden, das die Kraft für eine Veränderung hat, die über das Auswechseln von Namen und Köpfen hinausgeht und tatsächlich die Parameter der Betrachtungsweise bzw. der Verhandlungsbasis verschiebt oder erneuert? Eine Frage, die in den meisten Portraits drohend bzw. hoffend aufgeworfen und in den meisten Kommentaren mit Hinweis auf den fehlenden Handlungsspielraum selbstverständlich verneint wird. Und trotzdem bietet sich der syriza-Regierung die Möglichkeit, in diesem realen Sinne zum politischen Ereignis zu werden, besonders in der Konfrontation mit dem inzwischen offen als Hegemon agierenden Deutschland. Indem syriza gerade eine solche offen forciert, etwa auch indem sie sich nicht scheut, die Forderung nach den von Deutschland nie geleisteten Reparationszahlungen für die Zwangskriegsanleihen und die Zerstörungen während der Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg als politische Forderung zu erheben. Syriza weiss, dass sie damit und mit dem Beharren auf einem griechischen Sonderweg in der Schuldensanierung den Nationalstaat gegen die europäische Supranationalität in Stellung bringt. Insofern unterscheidet sich der griechische Weg formal nicht von jenem, den die Fidesz unter Orban in Ungarn einschlägt. Daher hat auch das schnelle und wie es scheint nicht allzu schmerzlich erhandelte Bündnis, das syriza mit den national-konservativen „Unabhängigen Griechen“ eingegangen ist, seine Logik. Links und rechts sind hier am selben Punkt. Denn bereits schielen auch die „national“ gestimmten Kreise der Schweiz neidisch auf die Griechen. So schrieb der stellvertretende Chefredaktor der Sonntags Zeitung Andreas Kunz eine Hymne auf das forsche Auftreten der syriza-Führer in Brüssel, wovon Bundesrätin Simonetta Sommaruga in den Verhandlungen um die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sich ermutigen lassen könne.
Die Frage stellt sich daher, ob durch solche Phänomene wie das Links-Rechts-Bündnis in Griechenland nicht die akute Gefahr eines neuen Nationalismus besteht, der die bei allen Fehlkonstruktionen letztlich doch stabilisierende und friedensstiftende EU zerstört? Aber wir sollten uns gleichzeitig fragen, worum es bei diesem Kräftemessen wirklich geht und ob nicht vielleicht auch diese EU, deren Rechtssystem die Nationalstaaten dazu verurteilt, die neoliberale Hegemonie um den Preis der Aushöhlung der eigenen Volkswirtschaften zu stützen, den Nationalisten in die Hände spielt.
Denn der Nationalismus entzündet sich mehr an der gefühlten Ohnmacht der eigenen Institutionen und Repräsentanten, als an der Verminderung persönlicher Rechte. Der Kampf der Rechten für die Handlungsfähigkeit des Staates und jener der Linken für die Erhaltung und Ausweitung individueller Rechte betrifft aber nur die jeweils andere Seite jener Waagschale, die die Balance zwischen Recht und Gewalt innerhalb eines Staates anzeigt. Das Recht weist, wo es greift, die Gewalt in die Schranken, aber an seinem Ursprung steht Gewalt und garantiert wird es letztlich auch nur durch Gewalt. Das ist das Paradox eines jeden Staates und die Erklärung dafür, weshalb der Staat ein Leviathan ist und weshalb es ohne ihn doch keine Gerechtigkeit geben kann. Daher ist auch Politik notwendig antagonistisch und wo nicht, ist die Frage der Gewalt einfach ausgelagert, verdrängt oder verdeckt.
Wenn nun Varoufakis und Tsipras die Konfrontation suchen in einem Feld, wo diese mangels Alternativen völlig sinnlos erscheint, dann weisen sie mit dem Finger genau auf dieses Verhältnis und provozieren die Enthüllung der Gewalt, die hinter den auf dem Papier verrechtlichten Gewaltbeziehungen der vom Kapital geführten EU stehen. Es ist ein doppeltes Spiel mit dem Feuer, das die syriza, zumindest ein paar Tage lang, anzettelt. Es droht nicht nur der Staatsbankrott, sondern auch die nationalistische Bestie, die nur die Gewalt wieder in eigenen Händen will und sich nicht ums Recht schert.
Dass sie es trotzdem spielen zeigt: Wirkliche politische Handlungsfähigkeit, im Sinne des politischen Ereignisses, scheint es in diesem Europa nur zu geben, indem man den Nationalstaat als „entfesselten Souverän“ einsetzt gegen die Ideologie einer auf demokratischer Rechtsbasis stehenden Union, die aber bei genauerem Hinsehen unter der Anleitung der deutschen Volkswirtschaft ein zunehmend imperiales Projekt verfolgt. Gegen innen mit einer überaus harten Austeritätspolitik und gegen aussen mit einer gnadenlosen und zynischen Grenzpolitik. Von der allgemeinen Einschätzung der Lage an den Aussengrenzen der EU berichten in unglaublich dichter Symptomatik die Titel einer Beilage, die die führenden Zeitungen Frankreichs, Spaniens, Englands, Italiens und Deutschlands Anfang Februar gemeinsam herausgegeben haben: „Das Ende der Ruhe“, „Russland ist der Aggressor“, „Die Nato grübelt noch“, „Der Kampf um die baltischen Seelen“, „Verliebt in den Islam“, „Milliardenströme ohne Kontrolle“. Für die Lage im Inneren finden die deutschen Leitartikel die nötigen Worte am Beispiel Griechenlands: In der FAZ schreibt Holger Steltzner im Leit-Kommentar: „So könnte in Athen das süsse Leben auf Pump weitergehen – ohne Troika, ohne Reformprogramm und auf Kosten der Steuerzahler in Deutschland, Frankreich, Italien und anderer Euroländer.“ Zum Verhältnis von deutschen Steuerzahlern und griechischen weiss die Süddeutsche unter dem Titel „Griechische Gefahr“ folgendes Detail: „Oft wurde zuletzt erwähnt, dass die Löhne der Griechen in der Krise stark sanken. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Lohnkosten in den ersten 10 Euro-Jahren um fast 20% stiegen, während sie in Deutschland abnahmen.“ War also dies die griechische Sünde, am Aufschwung auch die LohnbezügerInnen teilnehmen zu lassen und nicht nur die Manager wie in Deutschland? Die Legitimation für die harten Töne gegenüber den Griechen und anderen „Völkern“ ergibt sich in der deutschen Presse aus der Härte gegen das eigene. Doch zurück zum Kommentar in der FAZ, wo Deutschland sich auch die Einmischung der Amerikaner verbittet: „Sogar Obama wirbt für den faulen Schuldenzauber Athens. Dem amerikanischen Präsidenten mag die Rechtslage in der Eurozone schnuppe sein. Aber noch ist zumindest auf dem Vertragspapier die Übernahme von Staatsschulden durch andere Euroländer verboten.“ Der Hinweis auf „Rechtslage“ und „Vertragspapier“ – auch im Zusammenhang der Rüge an den amerikanischen Präsidenten – lenkt den Blick auf die Zwiespältigkeit der Verrechtlichungsprozesse innerhalb der EU. Erstens verbieten die „Verträge“ offensichtlich die Übernahme von Staatsschulden durch andere Euroländer, nicht aber, dass diese an den Massnahmen zur Schuldensanierung verdienen, wie das Deutschland zumindest in den ersten griechischen Krisenjahren getan hat. Zweitens verrät der antiamerikanische Impuls in diesem Kommentar zu Griechenland, dass die massgebliche deutsche Öffentlichkeit die reale Gewalt nicht wie syriza in der Troika oder der EU-Kommission verorten muss, sondern in den USA. So wie syriza jetzt für einen „griechischen Weg“ wirbt, um die „freundschaftliche“ Umklammerung der EU zu lockern, so warb Bundeskanzler Schröder 2003 beim Irakkrieg gegen die Bündnistreue mit den USA für einen „deutschen Weg“. Der Weg wächst, indem man ihn geht. Und die deutsche Aussenpolitik hat es nicht versäumt diesen Weg, der dahin führt, die Gewalt, die das eigene Recht stützt, den USA abzuhandeln, hin- und her zu gehen. Die harte Hand gegenüber Griechenland und das Zündeln gegenüber den USA: beides gehört zur deutsch-nationalen Demonstration von Handlungsfähigkeit und daher zum Anspruch, innerhalb der EU, die Recht setzende Gewalt zu sein.
Dass das EU-Recht eine solche ausdrücklich nicht vorsieht, tut nichts zur Sache, ist es doch das Wesen der Gewalt, sich nicht vom Recht herzuleiten. Es liegt hier deshalb nahe, an den Entwurf für eine Denkschrift des nationalsozialistischen Auswärtigen Amtes über die Schaffung eines europäischen Staatenbundes von 1943 zu erinnern, in dem es heisst: „Die ungeahnten Fortschritte der Technik, die Schrumpfung der Entfernungen infolge der modernen Verkehrsmittel, die ungeheure Steigerung der Reichweite und Zerstörungskraft der Waffen (Luftwaffe), die gewaltige Last der Rüstungen und der Zug der Zeit, weite Zusammenhänge zu schaffen und große Räume gemeinsamer Erzeugung und Bewirtschaftung herzustellen, nötigen Europa zum engeren Zusammenschluß. Europa ist zu klein geworden für sich befehdende und sich gegenseitig absperrende Souveränitäten. Ein in sich zerspaltenes Europa ist auch zu schwach, um sich in der Welt in seiner Eigenart und Eigenkraft zu behaupten und sich den Frieden zu erhalten.“ Und Gerhard Scheit ist zuzustimmen, wenn er diese Stelle folgendermassen kommentiert: „Manches in diesem Entwurf – die Schaffung eines periodischen ‚Staatenkongresses‘ und eines ständigen ‚Wirtschaftstags‘ – nimmt EU-Strukturen vorweg. Bemerkenswert aber ist vor allem, daß auch hier die Frage der Souveränität nicht gelöst wird, sondern den politischen Gegebenheiten überlassen.“ So heisst es entsprechend im Dokument weiter unten: „Wenn die Führung ein Vorrecht der stärksten Mächte ist, so bedeutet sie für diese auch die Verpflichtung, nur für den europäischen Frieden, Fortschritt und Wohlstand wirksam zu werden und sich auf das zu beschränken, was die Notwendigkeiten des europäischen Zusammenlebens unbedingt erfordern. Die Führung der Achsenmächte in Europa ist eine Tatsache, die sich aus den politischen Gegebenheiten von selbst ergibt. Einer besonderen Verankerung in der Verfassung des Staatenbundes bedarf sie, um sich auszuwirken, nicht. Ob und in welcher Form dieser Tatsache in der Verfassung des Bundes formaler Ausdruck verliehen wird, ist eine Frage, die nach Zweckmäßigkeitsgründen beurteilt werden muß.“ Das heisst, die „Fesselung des deutschen Riesen“, wie es England und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg nannten, oder „die berechtigte Angst der Deutschen vor sich selber“, wie es die Doktrin der Deutschen Politik bis zur grossen Restauration durch die Schröderregierung war, oder schlicht „das Wunder der deutschen Selbstbeschränkung“, wie es der amerikanische, neokonservative Publizist Robert Kagan nannte, ist vorläufig Geschichte.
Der Konfrontationskurs von syriza entlarvt insofern die unter dem Deckmantel des Rechts sich auswirkenden Gewaltverhältnisse in der EU unter deutscher Führung. Das Subjekt, das diesen Antagonismus zeigen kann, ist der Nationalstaat, der die Gewalt über seine Rechtsbeziehungen wieder herstellen möchte. Sollte die Macht der Multitude, die implizite oder explizite Hoffnung der Linken, weiterhin ausbleiben, so scheint man zumindest in Europa nur die Wahl zu haben, entweder die Souveränität des Nationalstaats konfrontativ einzusetzen oder den deutschen Hegemon zu akzeptieren. Es erforderte weitreichende Spekulationen, die möglichen Folgen beider Szenarien durchzuspielen. Auf jeden Fall ist zum jetzigen Zeitpunkt durchaus nicht auszumachen, welches die bessere Option ist.