Lieber spät als nie, dachte ich, als ich vor kurzem den 1967 ins Deutsche übersetzten Text gelesen hatte. Bei seinem Erscheinen vor fünfzig Jahren hätte er mein Denken entscheidend verändern können. Doch dieses war noch nicht reif für einen Wandel. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule war mir damals zwar keine Unbekannte. Aber man kann sagen, dass sie, wenn auch nicht ungehört, so doch irgendwie unerhört an mir vorbei gegangen war. Umso mehr ist es mir heute ein Bedürfnis, mich mit ihren Aussagen auseinanderzusetzen.
Auf die Frage nach der beabsichtigten Wirkung der Kritischen Theorie befragt, antwortet Horkheimer in einem Filmdokument, das aus Anlass seines 40. Todestages im Jahre 2013 ausgestrahlt wurde: „Die Aufgabe der Kritischen Theorie besteht nicht darin, technische Entwicklungen zu verhindern oder gar zurückzudrehen, sondern ernsthaft Widerstand zu leisten, indem sie dafür sorgt, dass das, was einmal Kultur war, von der Technik nicht einfach ausgewischt wird.“
Dass die Kritische Theorie keine Utopien für die Zukunft anbot, hätte ich damals, wie auch die Studentenbewegung, als politische Absage empfunden. Heute, in einer Zeit, wo das Fehlen von gesellschaftlichen Utopien allseits beklagt wird, veranlasst mich die Haltung Horkheimers dazu, nach den Gründen für Horkheimers Zurückhaltung Ausschau zu halten.
„Einmal war es das Bestreben von Kunst, Literatur und Philosophie“, schreibt Max Horkheimer, „die Bedeutung der Dinge und des Lebens auszudrücken, die Stimme alles dessen zu sein, was stumm ist, der Natur ein Organ zu leihen, ihre Leiden mitzuteilen, oder wie wir sagen könnten, die Wirklichkeit bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Heute ist der Natur die Sprache genommen.“ (S. 118) Fünfzig Jahre später hat dieser Satz nichts von seiner Dringlichkeit verloren, wenn ich mir vergegenwärtige, wie alles, was dem sogenannten Fortschritt gegenüber nicht zur Anpassung fähig oder willens ist, mit dem Wort „Verlierer“ wegrationalisiert wird. Seien es Menschen, die keine Arbeit finden, Kinder, denen die Spielräume genommen werden, oder einfach die Landschaft, die touristisch „aufgewertet“ wird. Die Unfähigkeit, Verluste zu betrauern, ist gesellschaftsfähig geworden. Nach Horkheimer ist Trauer aber noch ein wichtiger Teil unserer Tradition.
„Das Widerstand leistende Individuum“, schreibt Horkheimer weiter, „wird sich jedem pragmatischen Versuch widersetzen, die Forderungen der Wahrheit und die Irrationalitäten des Daseins zu versöhnen. Anstatt die Wahrheit zu opfern, indem es mit den herrschenden Massstäben konform geht, wird es darauf bestehen, in seinem Leben so viel Wahrheit auszudrücken, wie es kann, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Es wird ein konfliktreiches Leben führen. Es muss bereit sein, äusserste Einsamkeit einzugehen. Die irrationale Feindschaft, die es dazu verleiten würde, seine inneren Schwierigkeiten auf die Welt zu projizieren, wird durch eine Leidenschaft überwunden, Wahrheit zu verwirklichen. Es hat im Prozess der Verinnerlichung wenigstens so viel Erfolg, dass es sich gegen die äussere Autorität und den blinden Kult der sogenannten Wirklichkeit wendet. Es schreckt nicht davor zurück, die Wirklichkeit fortwährend mit der Wahrheit zu konfrontieren, den Antagonismus zwischen Idealen und Realitäten aufzudecken.“ (S. 130)
Horkheimers Mahnung, die Wahrheit nicht mit „den Irrationalitäten des Daseins zu versöhnen“ ist heute aktueller denn je. Sie war es aber rückblickend auch mein ganzes Leben lang. Sowohl in meiner Beschäftigung mit den Einflüssen der Siedlungsplanung auf die individuelle Mobilität als auch bei meinem Einsatz für eine zeitgemässe Vater- und Hausmannrolle. Heute ist die mächtige Sicherheitsideologie ein Beispiel für die Relevanz von Horkheimers „Irrationalitäten des Daseins“. Es sei höchste Zeit für ein in der Bundesverfassung verankertes und von der UNO anerkanntes Menschenrecht auf Risiko, sagt dazu der renommierte alpine Risikoforscher Werner Munter. Und weiter zum politischen Freiheitsbegriff: „Freiheit heisst für mich, du kannst selbst entscheiden. Du bist selbst verantwortlich für das, was du entschieden hast. Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der jede Tätigkeit abgesichert ist. Dann leben wir in einer Diktatur, alles wird überprüft und kontrolliert.“ Munter erklärt die Gefahren einer Kontrolldiktatur am Beispiel des Bergsports. Das illusionäre Sicherheitsdenken werde in absehbarer Zeit dazu führen, dass für alle Schneesportler eine gesetzliche Helm- und Airbag-Pflicht eingeführt werde. Um das Gebirge kennenzulernen, sich Wissen anzueignen, müsse man mit offenen Augen und gespitzten Ohren unterwegs sein. „Wie kann der Alpinist das noch, wenn Hightech obligatorisch wird?“ Als Beispiel erwähnt er den Unfall des Michael Schuhmacher. „Warum hat er die präparierte Piste verlassen und ist Slalom in diesen Steinen gefahren? Ohne Helm hätte er das nicht gemacht!“ (Tages Anzeiger vom 29.1.2015)
Zur Form der instrumentellen Vernunft sagt Horkheimer in seiner Kritik: „Ein intelligenter Mensch ist einer, dessen Geist für die Wahrnehmung objektiver Inhalte offen, der imstande ist, ihre wesentlichen Strukturen auf sich wirken zu lassen und ihnen menschliche Sprache zu verleihen. Das gilt auch für die Natur des Denkens und seinen Wahrheitsgehalt. Die Neutralisierung der Vernunft, die sie jeder Beziehung auf einen objektiven Inhalt und der Kraft, diesen zu beurteilen, beraubt und sie zu einem ausführenden Vermögen degradiert, das mehr mit dem Wie als dem Was befasst ist, überführt sie in einen stumpfsinnigen Apparat zum Registrieren von Fakten.“ (S. 69f.)
Dazu passt, was Munter zum Geschäft der „Lawinensicherheitsausrüstung“ bemerkt, wenn er sagt, die Industrie führe zwar Statistiken, wie vielen Menschen ihre Geräte das Leben gerettet hätten, für die Umstände und Gründe, die zu einem Unglück geführt hätten, gäbe es aber von den Herstellern kein Interesse.
Der warnenden Stimme eines erfahrenen Fachmannes, die gemäss dem Begriff von Horkheimer der objektiven Vernunft geschuldet ist, steht die Macht des von der organisierten Werbung verheissenen sogenannten Fortschritts entgegen. Dieser auf ein Chaos unkoordinierter Daten und die blosse Organisation, Klassifikation und Berechnung solcher Daten reduzierten Einsicht, wie es Horkheimer nennt, bezeichnet der Philosoph als subjektive, formale oder instrumentelle Vernunft. Je instrumentalisierter die Ideen werden, desto weniger erblickt noch einer in ihnen Gedanken mit eigenem Sinn. Die Sprache sei, so Horkheimer, im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft auf ein Werkzeug unter anderen reduziert. „Jeder Satz, der kein Äquivalent einer Operation in diesem Apparat sei, erscheine bedeutungslos. Bedeutung wird verdrängt durch Funktion oder Effekt in der Welt der Dinge und Ereignisse.“ (S. 35)
Und die Auswirkungen der instrumentellen Vernunft auf das politische Prinzip erklärt Horkheimer wie folgt: „Seiner rationellen Grundlage beraubt, wird das demokratische Prinzip ausschliesslich abhängig von den sogenannten Interessen des Volkes, und diese sind Funktionen blinder oder nur zu bewusster ökonomischer Mächte. Sie bieten keinerlei Garantie gegen Tyrannei. Im System des freien Marktes zum Beispiel werden die auf der Idee der Menschenrechte basierenden Institutionen von vielen Menschen als ein gutes Instrument akzeptiert, die Regierung zu kontrollieren und den Frieden aufrecht zu halten. Wenn sich aber die Lage ändert, wenn mächtige ökonomische Gruppen es nützlich finden, eine Diktatur zu errichten und die Herrschaft der Mehrheit abschaffen, kann ihrem Handeln kein auf der Vernunft begründeter Einwand entgegengesetzt werden.“ (S. 41/42) Und weiter: „Angesichts des Gedankens, dass Wahrheit das Gegenteil von Befriedigung gewähren und in einem gegebenem historischen Moment sich für die Menschheit als völlig schockierend erweisen könnte und so von jedermann abgelehnt würde, machten die Väter des Pragmatismus die Befriedigung des Subjekts zum Kriterium der Wahrheit.“ (S. 66) Bekanntlich behauptet die Industrie, dass die unmöglichsten Dinge nur deshalb auf den Markt kommen, weil die Kundschaft sie verlangt. Max Horkheimers Scharfsicht für gesellschaftliche Entwicklungen, im Besonderen die Gefährdung und den Niedergang des Individuums, bleibt auch ein halbes Jahrhundert später noch auf unheimliche Weise aktuell.
Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/ Main, 2007.
Dialektik des zweckrationalen Handelns – Texte 2
[…] für eine kritische Analyse dieser Art technischer Rationalität dürfte Max Horkheimers „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft„[Bd. 6]6a sein. Bereits im Ursprung der zweckrationalen Vernunft ist demnach ein verborgenes […]