Der neue Lehrplan ist ein umfangreiches und phasenweise widersprüchliches Werk, der daher auch oft gelobt und oft kritisiert wird. Wie jeder Lehrplan hat auch dieser seine starken und seine problematischen Seiten und wie mit jedem Lehrplan wird man auch mit diesem je nach Haltung und Rahmendbedingungen besseren oder schlechteren Unterricht halten können. Doch um diese Haltungen und diese Rahmenbedingungen gibt es einige Kontroversen, die über die Bedeutung eines Lehrplans hinausgehen und ins Zentrum des Bildungsbegriffs und des Selbstverständnisses des Lehrberufs hineingehen. Auffällig sind daher die fast durchwegs unkritisch-positiven offiziellen Stellungnahmen der SP. Dieser besondere Sachverhalt hat unter anderem auch seinen Grund in der SP-Bildungspolitik der letzten Jahre.
Letzten Sommer hielt an der Universität Zürich Kurt Reusser, Professor für pädagogische Psychologie ein Referat zum neuen Schweizer Lehrplan. Und da er mit den Teilnehmenden der Jahres-Tagung der „Internationalen Gesellschaft für Bildung und Wissen“ ein eher kritisches Publikum vor sich glaubte, bemühte er sich, die Fortschrittlichkeit des neuen Lehrplans anzupreisen. Er tat dies, indem er das schulische Lernen als eine unendliche, durch immer neue didaktische Finessen sich entwickelnde Erfolgsgeschichte für alle präsentierte, deren logische Fortführung nun die Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 (LP 21) sei. Sein Vortrag geriet mehr und mehr zur Predigt eines fröhlichen Missionars, gerade so als wüsste man beispielsweise nichts von der bescheidenen Relevanz der modernen Didaktik zur Verbesserung der Chancengleichheit oder nichts von den zum Teil kontraproduktiven Ergebnissen der selbstorganisierenden Lernformen für die Förderung von schwächeren Kindern. Sein Glaube an die Allheilkräfte der Lerntheorien und didaktischen Künste schien unerschütterlich.
Reusser ist kein Politiker, sondern Präsident des Fachbeirats beim LP 21 und hat daher Anlass für eine Werbetour. Dass die meisten offiziellen Stellungnahmen der SP aber auch so klingen, als hätte die Partei den Lehrplan selbst geschrieben ist dagegen erstaunlich. So trug das Mediencommuniqué der SP Schweiz zum Lehrplanentwurf vom 28.6.2014 den Titel: „SP begrüsst neuen Lehrplan und fordert genügend Ressourcen zur Umsetzung“. Und Anfang August ging die „SP-Arbeitsgruppe Volksschule“ mit einer Medienkonferenz in die Offensive. In der schriftlichen Fassung des Statements von Nationalrat Matthias Aebischer findet sich der Satz: „Der Lehrplan 21 ist ein Meilenstein in der Schweizer Volksschule und setzt mit der neudefinierten Kompetenzorientierung der erfolgreichen Schweizer Schulbildung die Krone auf.“
Woher dieser Enthusiasmus und diese Sicherheit? Möchte man sich als moderne Bildungskraft profilieren und abgrenzen gegen rechte Nostalgiker? Aber eine einfache Gegenüberstellung von modern gegen rückständig hat in der Bildungspolitik noch nie richtig funktioniert, weder bei der Bolognareform der Universitäten, noch beim Fremdsprachenunterricht in der Primarschule und auch nicht beim neuen Lehrplan, wo sich im Lager der KritikerInnen die politischen Haltungen kunterbunt mischen. Von rechtskonservativer Seite kommt die Kritik an einer Schule, die Dinge wie Heimatkunde vernachlässige und stattdessen in einer Art Gesinnungslehrplan die SchülerInnen zu einschlägigen Haltungen aus dem Bereich des „NGO-Gutmenschentums“ zwinge. Mag einem die rechte Kritik an Ökologie- und Fairtrade-Erziehung auch absurd oder zynisch erscheinen, die Skepsis gegenüber einer staatlich festgelegten Gesinnungsethik müsste auch ein linkes Anliegen sein. Auf der anderen Seite kritisiert die Linke die Ökonomisierung der Bildung im LP 21 durch vermehrte Outputorientierung und die Konzentration auf wirtschaftsdienliche Schlüsselkompetenzen wie „Präsentieren vor Publikum“ oder „Comitment“ gerate das klassische Ideal der zweckfreien Bildung, der Musse zum Studium, des systematischen Aufbaus von Bildungsinhalten als zivilisatorisches Ordnungsprinzip, des aufklärerischen Anspruchs auf einen an Vollständigkeit orientierten Fächerkanon oder des Wissens der Lehrperson als Vorbild für das kindliche Lernen unter Druck. Das Ideal einer zweckfreien Bildung ist aber seinerseits eng mit dem bürgerlichen Selbstverständnis verflochten und dessen neoliberale Aushöhlung löst daher auch im rechten politischen Spektrum Widerstände aus. Was wiederum Linke dazu veranlasst zu glauben, das klassische Bildungsideal und nicht seine neoliberale Untergrabung sei zu bekämpfen. Das alles bedeutet: Der LP 21 ist ein exemplarisches Kampffeld zwischen gesellschaftlichen Forderungen an die Schule und emanzipatorischen Anliegen im Namen der Individuen.
Doch ungeachtet dieser vermischten Sachlage und ungeachtet des Widerstands aus den eigenen Reihen und zahlreicher Lehrkräfte, unterstützt die SP praktisch jede Bildungsreform der letzten Jahre ohne nenneswerte Einwände. Eine mögliche Erklärung dafür ist sicher, dass die SP sich im Dienst der Verringerung der Chancenungleicheit zwischen den Kantonen immer klar zur Vereinheitlichung des Schweizer Bildungswesens bekannt hat und sie daher den LP 21 als entscheidendes Projekt in diesem Prozess sieht. In Bezug auf HarmoS und den LP21 spielt angesichts des starken Widerstands von der politischen Rechten daher auch die Sorge mit, durch eigene Kritik das ganze Projekt zu gefährden. Zu vermuten ist schliesslich auch eine gewisse Befangenheit, weil in viele Reformprojekte Parteimitglieder und SympathisantInnen von Berufs wegen involviert sind. Aber abgesehen davon finden sich in den offiziellen Bildungs-Papieren der letzten Jahre auch einige Positionen, die sich kaum von den Forderungen einer ganz an den Bedürfnissen des volatilen Arbeitsmarktes ausgerichteten Bildungspolitik – wie sie etwa im „Weissbuch Zukunft Bildung Schweiz“ von 2009 stehen – unterscheiden bzw. diesen unkritisch in die Hände spielen. Hierzu einige Beispiele:
Erstens: In einem Medien-Communiqué zum LP 21 vom 23.12.2013 ist zu lesen: „Das Gelernte soll verfügbar und anwendbar sein, nicht einmal auswendig gelernt und bald wieder vergessen.“
Der Vorteil des sogenannten Verfügungs- und Anwendungswissen gegenüber Bildungsinhalten, die man nur in der Schule brauchen kann, scheint offensichtlich. Aber spricht andererseits daraus nicht auch genau jener instrumentelle Bildungsbegriff der Industrie- und Handelskammern, die die Nützlichkeit von Bildungsinhalten nach den Prinzipien des return on invest berechnen? Was nützt beispielsweise im neuen SP-Parteiprogramm die Ablehnung der “Ökonomisierung der Bildung”, wenn man zwei Seiten weiter hinten dazu auffordert, die Spitzenplätze in Wissenschaft und Technik im internationalen Wettbewerb zu verteidigen? Und wer unterscheidet bei den herrschenden Machtverhältnissen wohl eher zwischen anwendbarem und nutzlosem Wissen? Eine am Gerechtigkeitsideal ausgerichtete Bildungspolitik oder „Die Wirtschaft“?
Zweitens: In einem „Diskussionsbeitrag der Geschäftsleitung der SP Schweiz zur Bildungsoffensive zuhanden der Kantonalparteien“ von 2007 ist unter Punkt 10 zu lesen: „Die Beurteilung der Fähigkeiten mit Schulnoten schwankt von Klasse zu Klasse zum Teil erheblich. (…) Die fehlende Transparenz über die Leistungsziele ist aber auch der Hauptgrund für den Vertrauensverlust, den die Volksschule bei vielen Eltern und grossen Teilen der Wirtschaft in den letzten Jahren erlitten hat. (…) Die SP Schweiz fordert schweizweit verbindlich definierte Bildungsstandards. Mittels standardisierter Tests sollen transparente und messbare Leistungsziele und darauf aufbauend Zertifikate (analog zu den Sprachzertifikaten) vergeben werden.“
Es ist immer der konkrete Kontext, der darüber entscheidet, wem Transparenz gerade nützt. Dies gilt vor allem im Schulbereich. Denn wie auch die SP betont, sind Bildungsprozesse meist keine sicher quantifizierbaren Prozesse. Sie werden vielmehr von einem vielfältigen Ensemble von Faktoren und Massnahmen gesteuert, die selten eine klare Kausalkette für Bildungserfolge ergeben. Die Forderung nach Transparenz ist im Schulbereich daher mit grosser Vorsicht zu behandeln. Denn das, was offen gelegt wird, ist nicht immer das, wofür man es hält. Zweitens kostet der Versuch mittels Standardisierungen die verschiedenen Schulen vergleichbarer zu machen, die Verlierer dieses Wettbewerbs ganz viel Vorschussvertrauen. Wer in einem wie auch immer gearteten Ranking (informell oder offiziell) weiter unten erscheint, sieht sich plötzlich einem Vertrauensverlust gegenüber. Und ein solcher entfaltet, wie man aus den Ländern mit einem “schlechten” öffentlichen Schulsystem weiss, eine grosse negative Kraft für alle Beteiligten. Das heisst, was man durch Schulvergleiche vielleicht an Ansporn, sich selber zu verbessern, gewinnt, riskiert man gleich wieder durch den schlechten Ruf zu verlieren. Im Namen der Chancengleichheit möchte die SP die Ungleichbehandlungen, die sich aus unterschiedlichen Anforderungen durch unterschiedliche Schulhäuser und Lehrkräfte ergeben könnten, minimieren. Das tönt gerecht. Aber die möglichen negativen Effekte von Leistungs- und Prüfungsstandards sind gravierend. Je wichtiger solche Tests werden, umso höher ist die Gefahr, dass die Lehrkräfte nur noch das lehren, was in den Tests kommt. Abgesehen davon, dass dort, um der Vergleichbarkeit willen, vor allem Dinge gefragt sind, die man quantifizieren kann, wird der von der modernen Didaktik geforderte induktive Lernprozess torpediert. Spezifische nur in dieser Klasse mit dieser Lehrperson zustande gekommene Lernerlebnisse werden abgewertet. Und doch erkennt die SP nichts Falsches, wenn Harmonisierung der Schullandschaft nicht nur heisst, dass die Primarschule überall gleich lange dauert, sondern auch, dass die Schulen vergleichbar werden sollen. Wer aber glaubt wirklich, dass in dieser Gesellschaft Vergleichbarkeit, wenn sie denn sinnvoll erreicht werden könnte, zu mehr Gleichheit führt und nicht auf der anderen Seite zu mehr Verlierern durch verstärkten Wettbewerb? Der vpod sieht diese Gefahr: „Tests dürfen nicht zur Selektion dienen und keinesfalls so angelegt sein, dass Schulrankings oder Bewertungen von Lehrpersonen davon abgeleitet werden könnten“, schreibt er in seiner Vernehmlassung zum LP 21.
Drittens: Die SP hat sich in der Bildungspolitik dem Schlagwort der „Zukunftsfähigkeit“ verpflichtet. Dahinter steht wohl ihr altes Selbstverständnis als moderne, progressive Kraft. Aber Zukunftsfähigkeit heisst hier und jetzt vor allem auch das nationale Training für die verschärfte internationale Standortkonkurrenz. Und zu diesem gehört beispielsweise die bildungspolitisch so folgenreiche Rede vom ständigen Veralten des Wissens. Ein Gedanke, der explizit auch im neuen Parteiprogramm der SP steht und woraus Massnahmen wie das „Recht auf lebenslanges Lernen“ abgeleitet werden. Für jene im Moment grösser werdende Zahl von Menschen, die der Arbeitsmarkt gar nicht mehr oder nur noch temporär integrieren kann, klingt dies aber eher wie eine Drohung als ein Privileg. Vergessen wird zudem, dass die allermeisten Dinge, auf die die klassische Bildung abzielte und die das Kernanliegen der Volksschule ist, Menschen- und Kulturbildung sind. Und deren Gültigkeit veraltet nicht so schnell, ausser man arbeitet an einer Zukunft, die Geschichtsvergessenheit zu ihrer Voraussetzung hat.
Sollte nicht aus diesen Gründen die SP hier und da über ihren bildungspolitischen Schatten springen? Eine hier und da etwas konservative Haltung von links könnte in der Bildungslandschaft Schweiz schon bald einmal das innovativere Projekt sein, als eine auf dem neoliberalen Auge blinde Modernisierungs- und Reformagenda.