Wenn wir diese Welt gemeinschaftlich und durch ein bewusstes Eingreifen in ein vernünftiges und menschliches Gebilde verwandeln wollen, dann müssen wir zunächst sehr viel besser als bisher verstehen, was wir dieser Welt antun und welche Folgen unser Handeln hat. David Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, S. 119
Im Folgenden handelt es sich um eine ausführliche Inhaltsangabe der 2014 im VSA Verlag erschienenen Studie von David Harvey. Zur Einführung werden in aller Kürze einige Daten zu seiner intellektuellen Biographie festgehalten.
1. Einführung
1.1. Zu Harveys intellektueller Biographie
Erste Phase: Harvey wird an der John Hopkins University in Baltimore USA als Geograph unter dem Einfluss der 68-Bewegung und der Rassenunruhen zum marxistischen Urbanisierungstheoretiker. In Baltimore finden zu dieser Zeit Desindustrialisierungsprozesse und die Flucht der weissen Mittelschicht in die suburbanen Vororte statt. Harvey beteiligt sich an politischen Initiativen und er initiiert einen Kapital-Lesekreis.
1973 Social Justice and the City. Beeinflusst von Manuel Castells und Henri Lefebvres Städtetheorien. Es folgt ein längerer Forschungsaufenthalt in Paris: Paris, Capital of Modernity. Harveys Ziel ist eine Rekonstruktion der Theorie von Marx unter Einbezug zeitlich-geographischer Aspekte: Limits of Capital 1982; er hält es für sein Hauptwerk.
Sonst liegt das Schwergewicht von Harveys Forschungen in den 1980er-Jahren auf Fragen der Urbanisierung: Studies in the History and Theory of Capitalist Urbanisation. Doppelband: mit The Urbanisation of Capital und Consciousness and the Urban Experience, beide 1985. (Vgl. Felix Wiegand: David Harveys urbane Politische Oekonomie, 2013.)
Prägend am Ende der 1980er-Jahre waren die Durchsetzung des Neoliberalismus, eine persönliche Krise, der Rückzug nach England: University of Oxford und die Debatten über Postmoderne und Postfordismus. Harvey analysiert das neue Regime als „Regime der flexiblen Akkumulation“ mit neuen Formen der Stadtentwicklung: Unternehmerische Ausrichtung, interurbane Standortkonkurrenz, public private partnership, Stadtmarketing mit spektakulären Kultur- und Architekturinszenierungen.
Zweite Phase: Er setzt sich mit postmoderner und poststrukturalistischer Theorie auseinander, betritt über die Urbanisierung hinaus das Feld der Gesellschafts- und Kulturtheorie, kritisiert diese als „Mäntelchen“ der neoliberalen Transformation. Im Gegensatz zu vielen anderen vollzieht er keine antimarxistische Wende, sondern verteidigt den Marxismus. Das Ende des „Realsozialismus“ 1989 schlägt sich bei Harvey nicht stark nieder, bedeutet für ihn eher eine Befreiung von Ballast.
The Condition of Postmodernity 1989, seine wohl wichtigste Kritik der neoliberalen Ideologie neben Frederic Jamson, Alex Callinicos, Terry Eagelton, ist das erfolgreichstes Buch von Harvey. In Justice, Nature and Geography of Difference trägt er der feministischen Kritik an ihm Rechnung (1996). Eine Essaysammlung, die einen etwas ekklektizistischen Eindruck hinterlässt, enthält aber die am meisten ausgearbeitete Fassung seines historisch-geographischen Materialismus. Aufsatzsammlungen aus dieser Zeit sind: Spaces of Capital und Spaces of Hope (2000/2001).
Harvey wird im Jahr 2000 Professor an der City University in New York. Für ihn spielt New York im 20. Jahrhundert dieselbe Rolle wie Paris im 19. Jahrhundert. In den Büchern dieser Zeit verwendet er wieder verstärkt eine politökonomische Argumentation: Der neue Imperialismus 2005, Geschichte des Neoliberalismus 2007, Räume der Neoliberalisierung 2007. Das stärker theoretisch ausgerichtete Buch dieser Zeit ist: Cosmopolitanism and the Geography of Freedom 2009.
Dritte Phase: Nach Reisen in Südamerika, China, Indien beschäftigt er sich erneut mit der Urbanisierung und sozialen Kämpfen in den BRIC-Staaten, vorab in China, und bleibt im Austausch mit sozialen Bewegungen.
2010: Marx’ „Kapital“ lesen, übersetzt 2011. 2010: The Enigma of Capital. Eine Auseinandersetzung mit der Wirtschaftskrise 2006-2009. Dt. 2014: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. 2012: Rebel Cities, übersetzt: Rebellische Städte. Sein neuestes Buch: Seventeen Contradictions and the End of Capitalism 2014.
Trotz analytischer Schärfe sind diese Werke, wie schon der Neue Imperialismus, an ein breiteres Publikum (der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften) gerichtet. Harvey gehört seit 2005 (Der neue Imperialismus) neben David Gräber, Michael Hardt, Toni Negri und Naomi Klein zu den führenden linken Intellektuellen der sozialen Bewegungen.
1.2. Was will Harvey mit seinem Buch: „Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln“?
Im Nachwort zur 2. Auflage hält er fest, dass Politiker und Wirtschaftsexperten den krisenanfälligen Charakter des Kapitalismus ignorieren, keine Kenntnisse von den „systemischen Risiken“ haben. „In diesem Buch habe ich versucht, die Gründe für den krisenhaften Charakter des Kapitalismus, die Rolle von Krisen (wie der aktuellen) in der Reproduktion des Kapitalismus und die langfristigen systemischen Risiken, die das Kapital für das Leben auf dem Planeten darstellt, so deutlich herauszuarbeiten, wie es mir möglich war“ (S. 252). Dieses Buch erklärt also nicht nur die Krise 2006-2009, sondern enthält auch eine Zusammenfassung seiner historisch-geographischen Theorie der Kapitalakkumulation in einer für das breitere Publikum verständlicheren und vereinfachten Weise als im theoretischen Hauptwerk Limits of Capital.
2. Ablauf und Charakter der Krise 2006-2009 (Kapitel 1)
2.1. Ablauf der Krise
Harvey behandelt den Ablauf der Krise in der Analyse der suprime-crisis 2007 bis zur Krise der Investment-Banken. Der Untergang von Lehman Brothers am 15.September 2008 bildet ein entscheidendes Moment: Die Kreditmärkte frieren ein, Banken werden zwangsfusioniert und in den USA mit 700 Mrd. Dollar gerettet. Die Finanzkrise 2007/2008 bildet nur den Abschluss einer Reihe von vorausgegangenen Finanzkrisen: Mexiko 1994, Asienkrise 1997/98, Russland 2009, Argentinien 2000/2001. Die Finanz- und Bankenkrise greift über nach Grossbritannien, Spanien, Irland, einigen osteuropäische Länder wie etwa Lettland. Andere europäische Länder sind weniger betroffen.
Die Krise führt auch zu Einbrüchen bei Staaten mit einem exportgetriebenen Modell wie Taiwan, Südkorea, Japan, China und einem Rückgang der Exporte ölproduzierender Länder wie Russland, Venezuela und den Golfstaaten. Auch anderen grösseren Krisen, z. B. der Krise 1973/76, ging ein Crash der Immobilien voraus. Investitionen in Immoblien sind langfristig und erlauben in der Krise keine rasche Bereinigung, weshalb diese Krisen auch länger andauern.
Die Grundlage der Bankenrettung ist das Prinzip des Neoliberalismus: Die Banken müssen auf jeden Fall gerettet werden, damit die Reichen ihr Geld nicht verlieren. Profite werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Fördert „Moral Hazard“, die rücksichtslose Unbekümmertheit der Banken um Risiken, was im Neoliberalismus eine Tradition hat: so ion der Strukturpolitik des IWF bei der Sanierung von überschuldeten Ländern, Rettung der Kredite der Gläubiger – also Sparmassnahmen auf dem Buckel der Bevölkerung.
2.2. Wie kam es zur Krise?
Die Ursachen der neoliberalen Politik seit 1980 liegen in der Zeit des Fordismus der 1960er-Jahre. Die Arbeiterbewegung mit ihren Streiks Ende der 1960er-Jahre bildete eine Schranke für eine fortgesetzte Kapitalakkumulation und die bürgerliche Klassenherrschaft. Unter Reagan und Thatcher wird die Staatsmacht zur Zerschlagung und Schwächung der Gewerkschaften eingesetzt mit den Zielen: Kampf gegen Inflation, Reduktion der Staatshaushalte, Steuersenkungen, Schaffen einer industriellen Reservearmee mit einem Heer von Arbeitslosen sowie Internationalisierung der Produktion, Zerstörung der bäuerlichen Selbstversorgung durch Multis. Das Kapital hat einen Zugriff auf die Billigarbeitskraft der ganzen Welt, insbesondere auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der osteuropäischen Länder 1989 ff. Die Globalisierung wird begünstigt durch die Reorganisation der Transportsysteme, die Senkung der Transportkosten, die Containerisierung. Abbau von Handelsschranken und Liberalisierung der Finanzmärkte ermöglichen, dass das Geld global dahin fliesst, wo es den höchsten Profit bringt.
Die neoliberale Politik führt zur Schwächung der Nachfrage: Die entstandene Lücke wird erstens durch einen Boom des Kreditgeschäfts und eine zunehmende Verschuldung geschlossen; und zweitens durch verstärkten Export der überschüssigen Profite, Kapitalexport, was zu Schuldenkrisen führen kann wie in den 1980er-Jahren in Lateinamerika. Der IMF rettet dann die Kredite der Gläubigen und die Banken mit Strukturpolitik auf Kosten der Bevölkerung (Sparen im Gesundheitsbereich und der Bildung, Lohnabbau etc.).
Die Lösung des Problems der Gewinnüberschüsse durch Kapitalexport hat Grenzen. So werden überschüssige Profite nicht mehr in die Produktion, sondern mehr und mehr in Vermögensanlagen investiert: Finanzialisierung, Aufblähen des Bankensystems und der Finanzmärkte, Schattenbankensystem ohne Regulierungen, was zum Verlust der Kontrolle über die Finanzmärkte und zur Finanz- und Bankenkrise 2007/2008 führt.
2.3. Charakter der Krise
Die Krise 2006-2009 wurde ausgelöst durch eine Finanz-, Banken und Immobilienkrise 2006 ff. Die tieferliegende Ursache der Krise ist die fehlende Nachfrage auf Grund der neoliberalen Politik seit den 1980er-Jahren. Die Kehrseite der fehlenden Nachfrage ist die Überakkumulation von Profiten, welche nicht alle genügend rentabel investiert werden können, weshalb Harvey meist von einer Überakkumulationskrise spricht.
2.4. Wachstum und Krise
Harvey stützt sich auf Berechnungen von Agnus Maddison (Contours of World Economy, Oxford 2007): Die durchschnittliche Wachstumsrate der Weltökonomie in der Geschichte des industriellen Kapitalismus betrug 2,25%. In den 1930er-Jahren war sie negativ, 1945-1973 betrug sie knapp 5%, seither liegt sie bei etwa 3%. Deutlich darunter heisst, dass die Weltwirtschaft stagniert, und unter 1%, dass sie in einer Krise ist. Harveys Schlussfolgerungen: Damit der Kapitalismus heute „normal“ funktioniert, braucht es ein durchschnittliches Wachstum von 3%, wofür 3% reale Reinvestitionen nötig sind. Bis 2030 würde das Welt-Bruttosozialprodukt von 2009 56’200 Mrd. US Dollars auf 100’000 Milliarden ansteigen. Ebenso zeigt Harvey, dass der Kapitalismus mittel- und langfristig nur schon wegen der Folgen für die Umwelt nicht tragbar ist und überwunden werden muss.
2.5. Veränderung der Geographie der Produktion und der politischen und wirtschaftlichen Macht in den letzten 30 Jahren
Am Ende des 2. Weltkriegs gewannen die USA die Hegemonie, der US Dollar war Leitwährung. Dies funktionierte, solange die USA keine Dollars druckte unter dem Bretton-Woods-System. Mit den Kosten des Vietnamkriegs und dem Great-Society-Programm kam es ab 1968 zu einer Krise des Dollars. Es wurden die flexiblen Wechselkurse eingeführt und der Dollar blieb trotz Abwertung Reservewährung, kontrolliert durch die USA. Mit der neoliberalen Politik seit 1980 vollzieht sich der industrielle Aufstieg der Schwellenländer (Taiwan, Südkorea, Bangladesh, Mexiko, China). Die USA verlieren die Vormachtstellung in der industriellen Produktion, behalten sie aber bei den Finanzen (New York). Die Krise von 2006-2009 gefährdet nun die Position des Dollars als Reservewährung und damit die US-Hegemonie.
Die heutige Landschaft der industriellen Produktion unterscheidet sich radikal von derjenigen von 1970. Diese Landschaft prägt auch die Krise: Mittelpunkt sind die USA, GB und weitere europäische Länder, während China und Indien weniger betroffen sind, da sie weniger ins internationale Finanzsystem integriert sind. Wirtschaftspolitisch gesehen ist die Welt heute so zweigeteilt. In den USA und Europa herrschen eine Defizitparanoia und eine Austeritätspolitik, während China und die ostasiatischen Länder eine keynesianische Expansionspolitik mit einer Ankurbelung des Binnenmarktes betreiben. Insbesondere China verfügt über riesige Überschüsse. Wo die Krise weiter zuschlägt, ob auf Grund der Austeritätspolitik in Europa oder wegen Blasenbildung und Immobilienspekulation in China, bleibt offen. Auch die Politik von China ist problematisch, wenn wir an die Umweltprobleme, den Landraub und seine neokoloniale Politik in Afrika denken.
Das Resultat ist klar: Die ökonomische Macht verschiebt sich von Westen nach Osten. Die Konkurrenz zwischen den Staaten und Machtblöcken nimmt zu. Wie schon früher lösen der Kampf um die Hegemonie und die imperialistischen Rivalitäten die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus nicht, sondern verschärfen sie.
3. Die Schranken der Kapitalakkumulation, Limits of Kapital (Kapitel 2-4)
Der kontinuierliche Fluss des Kapitals ist wichtig; wenn er unterbrochen wird, dann entstehen Verluste. Eine schnellere Zirkulation hingegen bringt höhere Profite. Die Geschichte des Kapitalismus ist so durch ständige Bestrebungen zur Beseitigung von Mobilitätshemmnissen geprägt, durch Überwindung von Entfernung mit Innovationen, Verbesserung von Transport und Kommunikation, Öffnung von Grenzen, Freihandel, die Internationalisierung von Handel mit Waren und Finanzen.
Weshalb muss Kapital reinvestiert werden, weshalb muss die Wirtschaft wachsen? Einerseits wegen dem Zwangsgesetz der Konkurrenz, und andererseits ist die Vermehrung von Geld auch Vermehrung von Macht. Geld kann beliebig akkumuliert werden, es hat keine Grenzen im Unterschied zu Häusern oder Kleidern. Wichtig ist es, den grenzenlosen Charakter der Geldmacht zu sehen. Gegentendenzen sind eine progressive Besteuerung, hohe Erbschaftssteuern. Es gab eine Umverteilung des Reichtums bis in die 1980er-Jahre. Seither hat sich der Trend umgekehrt.
Das Hauptproblem bei der Kapitalakkumulation ist das Problem der Überschüsse, das Absorbtionsproblem. In einer Überakkumulationskrise werden die Produktion und die Reinvestition blockiert. Das Wachstum stoppt oder verzögert sich auf Grund der Überakkumulation von Kapital im Verhältnis zu den profitablen Anlagemöglichkeiten. In der Krise führt dies zur Entwertung des Kapitals, was den Wiederaufschwung ermöglicht.
Der Kapitalismus hat bei der Überwindung von Krisen eine grosse Vitalität. Die heutige Situation ist vergleichbar mit derjenigen, die von Karl Marx analysiert wurde, vor allem angesichts der grossen Ungleichheit von Einkommen und Vermögen: Das Kapital erträgt keine Grenzen. Eine Grenze ist eine zu überwindende Schranke.
Harvey behandelt 6 mögliche Schranken:
1. Unzureichendes Startkapital in Geldform
2. Knappheit an Arbeitskräften oder Probleme mit den Arbeitskräften
3. Unzureichende Produktionsmittel inkl. der sogenannten natürlichen Grenzen der Akkumulation
4. Ungeeignete Technologie und Organisationsformen
5. Widerstand oder Ineffektivität des Arbeitsprozesses
6. Mangel an zahlungskräftiger Nachfrage.
3.1. Erste Schranke: Unzureichendes Startkapital in Geldform
In den Anfängen des Kapitalismus, in der Zeit der ursprünglichen Akkumulation im 16. und 17. Jhd. entstanden grosse Vermögen im Fernhandel durch Gewalt, Plünderung, Betrug und Raub (z. B. Raub des Inkagoldes). Es gab auch rechtlich sanktionierte Formen der Enteignung, die Enclosures in England im 16. Jhd., die Monetarisierung von Feudalabgaben oder Steuern und Abgaben durch koloniale oder imperialistische Praxis (z. B. die Grundsteuer in Indien). Nach Marx schien sich die Akkumulation durch Enteignung im „erwachsenen“ Kapitalismus zu erübrigen. Wie Rosa Luxemburg meinte, hat sie sich heute aber keineswegs überlebt: Enteignungen, Fusionen, Übernahmen, Privatisierungen. Konzentration von in einer Krise entwerteten Vermögenswerten bei Banken und Fonds.
Die Konzentration von Geldmacht bei den einzelnen genügt nicht. Das Kreditsystem ermöglicht andere Formen der Konzentration von Geld für grosse Projekte (z. B. Verkehrssystem, Infrastrukturprojekte). Bildung von Organisationen, welche Geld sammeln, sind ständig in Entwicklung: Aktiengesellschaften, heute Private-Equity-Fonds. Eine wichtige Rolle spielen die Banken, sie beziehen Zinsen und Abgaben für Finanzdienstleistungen. Und haben die Möglichkeit der Kreditschöpfung vom 3- bis 30-fachen der Einlagen. Der Anteil der Profite der Finanzdienstleister stieg in den USA von 15% im Jahr 1970 auf 40% im Jahr 2005.
Charakteristisch ist bei der Vermögensbildung die Verknüpfung von Staat und Finanzwelt, der „Staat-Finanz-Nexus“. Früher: Münzhoheit der Könige. Heute: Staatliches Management durch Finanzministerien und Zentralbanken der Kapitalbeschaffung und der Geldflüsse. Obwohl der Staat-Finanz-Nexus quasi das Nervensystem der Kapitalakkumulation darstellt, ist es beinahe für alle intransparent, ein Mysterium. Zu den Institutionen, die den Kapitalfluss erleichtern, gehören auch internationale Organisationen wie der BIZ, IMF, die OECD, die G7 bis G20, denen jede demokratische Legitimation fehlt; es ist das Reich der Experten und Technokraten.
Die Investition von Geld ist immer riskant und spekulativ. Vertrauen ist wichtig. Spekulation und hohe Erwartungen führen zu Blasen, insbesondere im Zeitalter der Finanzialisierung. Wenn die Sache aus dem Ruder läuft, kommt es zu Finanzkrisen. Diese haben seit 1970 zugenommen.
Das Mysterium des Staat-Finanz-Nexus bietet Möglichkeiten für populistische Kampagnen gegen das „Finanzkapital“, z. B. Kampagnen gegen Bonuszahlungen, hohe Gehälter etc. Populistische Empörung ist zwar meist etwas kurzlebig, kann aber helfen, gewisse Verbesserungen zu erreichen. In der Krise 2008/2009 haben sowohl das Finanzsystem als auch der Staat-Finanz-Nexus versagt, sie verloren die Kontrolle. Dies stellt auch in Zukunft ein grosses Risiko für das Überleben des Kapitalismus dar.
3.2. Zweite Schranke: Knappheit an Arbeitskräften
Die industrielle Reservearmee muss nach Marx verfügbar, sozialisiert, diszipliniert sein und über die nötigen Qualitäten verfügen. In den letzten 30 Jahren fand die Öffnung des Arbeitsmarktes Chinas, Ost- und Zentraleuropas statt, in den Ländern des Südens die Integration früher selbständiger Subsistenzbauern in den Arbeitsmarkt. Dazu kommt die Mobilisierung der Frauen für den Arbeitsmarkt. Damit entstand ein riesiger Pool an Arbeitskräften. Das Bereitstellen der Arbeitskräfte ist eine wichtige Funktion des Staates: Arbeitsgesetze, Migrationsregimes, Ausbildung. Das Kapital hat einen grossen Einfluss auf den Arbeitsmarkt: durch den Einsatz von Technologien, Produktionsverlagerungen, Produktivitätsabkommen, Gesamtarbeitsverträge.
Die Knappheit an Arbeitskräften ist immer ein geographisch begrenztes Problem. Dennoch haben globale Migrationsströme zugenommen. In USA 1970 5%, 2010 12,5% MigrantInnen. Die Folgen sind zunehmend fremdenfeindliche Tendenzen, Zunahme von Rassismus und Diskriminierungen innerhalb der Arbeiterschaft. Die Spaltung der Arbeiterschaft ist ein zentrales Instrument der Kontrolle des Arbeitsmarkts durch das Kapital. Und dient der Legitimation von Herrschaftsverhältnissen und Klassenbeherrschung. Das Kapital hat nie gezögert, diese Tendenzen zu fördern.
Seit Mitte der 1960er-Jahre entstehen innovative Transporttechnologien. Massenhafte Verlagerungen der Produktion werden möglich im Vergleich zur Zeit vor 1970. Die Solidarität hat grosse Hindernisse – in der Bedrohung des Kapitalismus durch Arbeiterunruhen liegt dennoch eine Machtreserve von gewaltiger Bedeutung. Seit 1980 verschlechtert sich die Position der Arbeiterschaft: Politische Repression (Reagan, Thatcher), technologische Veränderungen, gesteigerte Kapitalmobilität, massive Welle ursprünglicher Akkumulation im Süden und Migration lasten schwer auf der Arbeiterschaft, sind aber ein grosser Vorteil für das Kapital.
Marxisten, welche die Schranken des Arbeitsangebots für die Krisenursache halten, reden von der Theorie der Profitklemme. Das mag für die 1960er- und 1970er-Jahre zutreffen. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus ist diese Schranke überwunden oder umgangen. Heute gibt es keine Anzeichen für eine Profitklemme; das Problem ist die mangelnde Nachfrage, das Überangebot an Arbeitskräften. Die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital haben eine zentrale Bedeutung für die Dynamik der Kapitalakkumulation. Und eines der Hauptprobleme heute ist die Schwäche der Arbeiterbewegung.
3.3. Dritte Schranke: Unzureichende Produktionsmittel
Das Kapital muss eine zureichende Menge von Produktionsmitteln als Bedingung seiner Expansion immer schon im Voraus produzieren. Hier stellt sich die Frage nach der Koordination (zwischen dem 1. und 2. Sektor von Marx). Funktionierende Märkte sind dafür eine ziemlich gute Methode. Heute haben wir es zum Beispiel bei der Produktion von Mobiltelefonen mit einer zunehmenden Zahl von Komponenten im Endprodukt zu tun. Um die Komplexität der Zulieferströme sicherzustellen, braucht es Massnahmen der Staaten gegen eine Monopolisierung, Marktbeherrschung und eine Manipulierung der Märkte sowie den Abbau der Schranken beim Warenverkehr und den Transportmöglichkeiten. Der Markt ist nicht die einzige Koordinationsmöglichkeit. Wichtig ist heute der Aufbau von Zulieferketten mit just-in-time Belieferung. Eine zentrale Rolle hat auch der Staat bei der Lieferung von Wasser, Energie und der materiellen Infrastruktur für die Produktion. Entgegen der neoliberalen Ideologie spielt staatliche Planung und Koordination insbesondere in der Phase der Industrialisierung eine wichtige Rolle. Der Kapitalfluss wird immer komplizierter und wichtig sind ebenso angemessene staatliche und internationale Regelungen statt Korruption und Gesetzlosigkeit. Dies ist auch Aufgabe der Internationalen Organisationen, insbesondere der WTO. Nicht zu vergessen ist auch die weltweite Durchsetzung der Kommerzialisierung und Kommodifizierung, denn vorkapitalistische Lebensformen sind eine Schranke der Kapitalakkumulation.
Spannungen in der Zulieferung von Produktionsgütern können Disproportionalitätskrisen auslösen. Ausgeglichenes Wachstum ist ein schmaler Pfad, Disproportionen die Regel. Krisen sind notwendig, um die Proportionen wieder herzustellen. Krisen sind Rationalisierungen der Kapitalakkumulation. Krisen eröffnen Möglichkeiten – die Krisenlösung bestimmt den Charakter der nachfolgenden Akkumulationsphase. Sie ist nicht determiniert, abhängig von politischen Faktoren und dem Verhältnis zwischen den Klassen.
Natürliche Grenzen als Schranken der Produktion
Die Frage der natürlichen Schranken der Kapitalakkumulation behandelt Harvey in seinen Ausführungen über die unzureichenden Produktionsmittel. Wie jede andere Produktionsweise ist der Kapitalismus auf die Freigebigkeit der Natur angewiesen. Dabei stellt sich die Frage nach möglichen natürlichen Grenzen der kapitalistischen Produktion.
Ricardo und Malthus gingen davon aus, dass die Profitrate auf Grund von natürlichen Grenzen langfristig auf Null sinke. Marx kritisierte dies: Die fallende Profitrate hat nichts mit natürlichen Grenzen zu tun. Es wird aber bis heute versucht, einen fallenden Lebensstandard mit natürlichen Grenzen zu erklären.
Das Problem dabei: Die Kategorie „Natur“ ist so komplex und umfassend, inklusive die vom Menschen produzierte „zweite Natur“, dass der Einfluss von einer natürlichen Knappheit auf eine Krise äusserst schwierig zu erfassen ist. Das heisst natürlich nicht, dass mit der Verschwendung von Naturressourcen nicht grosse Profite gemacht werden können, wie mit dem Fleischkonsum und der Verbauung der Landschaft mit Einfamilienhäusern oder der Entwaldung, dem Verlust von Biotopen und Arten und der Verwüstung und Verschmutzung der Meere. Die Wachstumsdynamik des Kapitalismus legt nahe, dass die Umweltzerstörung rasch zunehmen wird, aber an Grenzen stösst, die bislang immer überwunden wurden. Grosse Umweltprobleme gab es seit den Anfängen der Industrialisierung, z. B. in Manchester, dem Zentrum der britischen Textilindustrie.
Es ist also schwierig, absolute, unüberwindbare Grenzen zu definieren. Ein gutes Beispiel ist die Sicherung von billigem Erdöl durch die USA. Politisch ist die Betonung rein natürlicher Grenzen der Akkumulation problematisch, da sie auf ein Reinwaschen des Kapitalismus hinauslaufen kann, z. B. wenn Bewegungen des Ölpreises mit natürlichen Knappheiten statt mit Profitstreben und Spekulation erklärt werden. Von Linken muss dagegen weiter herausgearbeitet werden, dass die heutige Wachstumsdynamik in eine ökologisch katastrophale Richtung treibt. Hohe Erdölpreise und die Ideologie des „peak oil“ haben im Interesse des Agrobusiness zur Produktion von Agrodiesel geführt, und zwar mit katastrophalen Folgen wie massives Ansteigen der Getreidepreise und Hungerkrisen.
Bebaute Umwelt
Dieser Begriff ist in der Theorie von Harvey zentral. Urbanisierung heisst bebaute Umwelt, ein riesiger Bereich von kollektiven Produktions- und Konsumptionsmitteln. Es ist die Methode, überschüssiges Kapital zu absorbieren. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Staat-Finanz-Nexus. Überzogene Investitionen in die bebaute Umwelt sind ein wichtiger Krisenfaktor. Bebaute Umwelt aber die materielle Voraussetzung für den Fortgang der Akkumulation, muss finanziert, gewartet und dem Wachstum angepasst sein. Die bebaute Natur wird ständig verändert und umgebaut. Der Staat kommt ins Spiel mit Steuern. Die Arbeiterschaft in bebauter Umwelt wie in Wasserversorgung, Wartung der Infrastruktur, Landschaftsgestaltung ist heute genau so wichtig und zahlreich wie traditionelle Industriearbeiter. Bei einer Desindustrialisierung kommt es zu sozialen und materiellen Verlusten. Dies kann nicht nur in einzelne Sektoren, sondern in der ganzen Wirtschaft zu einer Krise führen. Bebaute Umwelt ist Sinnbild für die Aussage von Marx, dass das Kapital auf von ihm selber produzierte Grenzen stösst.
3.4. Vierte Schranke: Ungeeignete Technologien und Organisationsformen
Eine der grossen Stärken von Marx ist die Theorie der relativen Mehrwertsteigerung. Die Jagd nach Extraprofiten führt zur ständigen Entwicklung neuer Technologien und Organisationsformen. Und die dadurch bewirkte Steigerung der Produktivität erlaubt eine Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiterschaft selbst bei sinkenden Reallöhnen, die „Walmartisierung“. Technisch ist der Kapitalismus revolutionär, denn dank der Konkurrenz ist keine regulierende Instanz nötig. Die Achillesferse der bürokratischen und realsozialistischen Staaten war der technologische Rückstand. Die verabsolutierte Bedeutung der Technologien führt zur Fetischisierung der Technologie, die heute als angebliche Lösung aller Probleme gilt. Wichtig ist aber nicht nur die Konkurrenz, auch der Staat spielt eine entscheidende Rolle bei Innovationen, insbesondere der militärisch-industrielle Komplex mit seiner von ihm abhängigen universitären Forschung. Diese spielt eine zentrale Rolle in den Bereichen Ernährung, Gesundheit, Landwirtschaft, Transport, Kommunikation, Energie, militärischer Bewaffnung, innere Sicherheit und Überwachung.
Harvey spricht von „Schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter): Innovationsschübe können für Teile des Kapitals zerstörerisch sein, eine Entwertung früherer Investitionen und Fähigkeiten. Marx erklärte mit der technischen Erneuerung den tendenziellen Fall der Profitrate als immanenten Sachzwang. Das lässt sich als Gesetz wohl nicht halten. Technische Neuerungen können auch dazu dienen, Produktionsmittel und Energie einzusparen. Marx nannte auch zahlreiche Gegentendenzen wie die steigende Ausbeutungsrate, sinkende Produktionskosten durch kapitalsparende Innovationen, sinkende Rohstoffpreise durch Veränderungen im Aussenhandel, Zunahme der industriellen Reservearmee, Entwertung von Kapital in Krisen u. a. m.
Aber entscheidend ist die permanente Eröffnung neuer Produktionsfelder zur Lösung des Kapitalüberschuss-Absorptionsproblems. Dies ist der Lebensretter der Kapitalakkumulation. Die Hegemonie der USA beruhte oder beruht auf der technischen Wettbewerbsfähigkeit.
Ein weiterer Faktor sind die Auswirkungen auf die Klassenbildung, der Aufstieg von neuen Dynastien (Bill Gates, Paul Allen, Jack Welch, Michael Bloomberg u. a.), Entmachtung anderer Dynastien (historischer, z. B. der „Eisenbahnbarone“).
Die Komplexität der heutigen Technologien fördert die Herrschaft der Experten und Technokraten. dies ist nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, auch wirtschaftlich arbeiten sie nicht für das Gemeinwohl, sondern in die eigene Tasche, halten ihre Methoden intransparent und geheim (z. B. Finanzprodukte) und können so ganze Branchen in den Ruin treiben. Technische Innovationen sind von daher höchst zwiespältig. Sie sind schöpferisch und zerstörerisch und spielen eine zentrale Rolle bei Destabilisierungen und Krisen.
3.5. Fünfte Schranke: Widerstand oder Ineffektivität des Arbeitsprozesses
Die ArbeiterInnen verfügen nach Marx im Arbeitsprozess über die eigentliche Macht und das Recht, auch wenn der Unternehmer meist die institutionellen und politischen Trümpfe in der Hand hat. Verweigerung der Kooperation ist zentraler Ansatzpunkt dieser Schranke – das Kapital muss andauernd planen, wie die ArbeiterInnen gefügig zu halten sind. Wichtigstes Mittel dazu ist die technische Innovation, um Leute zu entmachten, die Entscheidungsgewalt in die Maschine zu verlagern. Der Arbeitsprozess bleibt ständig umkämpft. Regulierungen des Arbeitsprozesses sind an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich. Diese Unterschiede sind ein wesentliches Merkmal des globalen Kapitalismus. Mögliche Blockaden sind ständig präsent und müssen immer wieder aufs Neue umgangen werden.
3.6. Sechste Schranke: Mangel an zahlungskräftiger Nachfrage
Der Aufwand für Werbung unterstreicht die Bedeutung dieser Schranke: Manipulation der Bedürfnisse. Noch wichtiger als Werbung ist die Herausbildung von Lebensformen, welche die Aufrechterhaltung des Konsums erforderlich machen. Zuerst in USA 1945 ff.: Lebensstil in den Vorstädten mit Auto etc. Heute haben Verbraucherstimmung und Konsumklima eine Schlüsselfunktion in der Akkumulation. 70% der US-Wirtschaftstätigkeit beruht auf dem privaten Konsum. Quelle der Konsumnachfrage sind die Löhne – diese hinken immer hinter dem BSP her. Durch Lohnsenkungen kann die Akkumulation blockiert werden: Unterkonsumptionstheorie. Viele erklären damit die Krise der 1930er-Jahre.
Rosa Luxemburg beschäftigte sich intensiv mit diesem Problem. Für eine zusätzliche Nachfrage gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens mit Geld, vgl. die heutige Politik der EZB. Diese ist in der Wirkung begrenzt und kann Inflation erzeugen. Zweitens mit zusätzlicher Nachfrage ausserhalb des kapitalistischen Systems: imperialistische Durchdringung, Absatzmärkte z. B. in Indien für britische Waren, Öffnung Chinas im 19. Jhd. Diese zweite Stabilisierungsmöglichkeit verlor mit der Ausdehnung des Kapitalismus an Bedeutung, insbesondere seit 1970. Der Aufstieg der Schwellenländer, insbesondere Chinas hat neue Verhältnisse geschaffen: Es zeichnet sich eine Umkehr der Reichtumsflüsse ab. Der Imperialismus erhält ein neues Gesicht. Entscheidend wird der Export von Kapital (vgl. weiter unten).
Die zusätzliche Nachfrage muss heute von innen her geschaffen werden. Das wichtigste Problem des entwickelten Kapitalismus: die Reinvestition der Überschüsse. Die Unterkonsumption erweist sich als das Problem, für die produzierten Überschüsse profitable Anlagemöglichkeiten zu finden. Die Kehrseite heute der Unterkonsumptionskrise ist die Überakkumulationskrise.
Heutige Antworten auf die Unterkonsumptions- bzw. Überakkumulationskrise bestehen erstens im Luxuskonsum, der im Endeffekt eine schwache Quelle der Nachfrage ist. Und zweitens in der Reinvestition der Überschüsse, der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten für die Überschüsse. Für diese gibt es drei grundlegende Bedingungen:
• Das Geld muss sofort reinvestiert und darf nicht gehortet werden. In diesem Punkt decken sich die Ansichten von Marx und Keynes: Es gibt keinen Zwang zur Reinvestition; vor allem dann nicht, wenn unsichere Situation, Verlust an Vertrauen, Eintrübung der Profitaussichten herrschen, also die Liquiditätsfalle von Keynes. Je mehr gehortet wird, desto schlechter werden die Profitaussichten, wie die Abwärtsspirale in den 1930er-Jahren. Das Gegenmittel von Keynes heisst Defizitspending; dies wurde 2008 von China und USA auch praktiziert.
• Zeitliche Spanne zwischen Investition und Produktion des Überschusses muss überbrückt werden, das ist die Funktion des Kredits. Kredit und Finanzsystem sind die zentralen Mittel, um das Problem der mangelnden Nachfrage zu lösen. Das hat seinen Preis: Ein Teil des Mehrwerts muss an die Kreditgeber (Banken, Finanziers, Sparer) in der Form von Zinsen und Gebühren abgetreten werden. Kredite für eine durchschnittliche Wachstumsrate ist eine Bedingung für das Überleben des Kapitalismus.
• Der Kredit muss für den Kauf von Gütern und Produktionsmitteln, die schon produziert sind, verwendet werden. Die Konzentration von Vermögen wird ja damit gerechtfertigt (Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt: Die Profite sind die Arbeitsplätze von morgen). Es steht den Vermögensbesitzern aber frei, in die Produktion zu investieren oder mit Finanzinstrumenten zu spekulieren (Aktien, Immobilien, Kunstgegenstände, Anteile an Equity- oder Hedgefonds), um Gewinne zu machen. Gelingt es nicht, eine Nachfrage von innen zu schaffen, und stossen damit die ständige Investition der Überschüsse und die Expansion der Produktion an Schranken, kommt es, wie heute, zu einer Überakkumulationskrise.
Eine weitere Voraussetzung, um die Ausweitung der Produktion am Leben zu erhalten, ist die Konkurrenz, die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsverhältnisse. Baran und Sweezy halten fest: Eine übermässige Monopolisierung kann in die Krise führen wie etwa die Stagflation der 1970er-Jahre. Dieses Problem löste ab 1980 die neoliberale Konterrevolution: die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Entfesselung der Zwangsgesetze der Konkurrenz waren die Garanten der endlosen Kapitalakkumulation.
Heute spielt das Kreditsystem als Zentralnervensystem der Kapitalakkumulation eine entscheidende Rolle. Seine Kontrolle und die Garantie seines Funktionierens sind massgebend. Dies kann nur Aufgabe des Staates sein und ist ein wichtiges Argument für die Verstaatlichung der Banken. Das Hauptproblem der Wirtschaftspolitik ist heute, sowohl Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt als auch gleichzeitig mit Hilfe des Geld- und Kreditsystems die Beziehung zwischen Produktion und Realisierung der Profite zu steuern. Heute gibt es eine enorme Konzentration der Macht und entsprechende Gefahren im Kreditsystem. Wenn die Kreditblase platzt, ist eine Abwärtsspirale wie 2007 programmiert. Hier muss der Kapitalismus eine äussere Macht schaffen, die ihn vor seinen eigenen Widersprüchen rettet. Früher hatte der Goldstandard eine wichtige Funktion. Heute liegt die Macht der Geldschöpfung bei neofeudalen Institutionen wie den Zentralbanken.
Schlussfolgerung: Kurzfristig können die Probleme der fallenden Profite auf Grund der fehlenden Nachfrage mit dem Kreditsystem ausgebügelt werden. Dies führt aber zu neuen Problemen und Spannungen, zur Zunahme von Risiken. Das Hauptproblem ist aber nicht die fehlende Nachfrage, sondern sind die fehlenden gewinnträchtigen Bereiche für die Reinvestition der aus der Produktion von gestern gewonnenen Überschüsse. Deshalb spricht Harvey von einer Überakkumulationskrise. Diese wird sich verschärfen, da wir es mit einer 55 Billionen Dollar Weltwirtschaft zu tun haben, die sich in den nächsten 30 Jahren verdoppeln soll.
Die letzte Grenze: Auf lange Sicht hängt das Überleben des Kapitalismus von seiner Fähigkeit ab, eine Wachstumsrate von 3% zu erreichen.
Kleiner Exkurs über Krisentheorien
Vorab in den 1970er-Jahren gab es hitzige Debatten zwischen den Anhängern der Theorie der Profitklemme, denjenigen des tendenziellen Falls der Profitrate und denjenigen der Unterkonsumptionstheorie inklusive denjenigen der Tendenz zur Stagnation wegen Monopolisierung. Seit den 1990er-Jahren hat sich die Diskussion verschoben und es wird grösseres Gewicht auf die Probleme der Umwelt (Schranken der natürlichen Umwelt) und die Probleme der Finanzialisierung und der Finanzmärkte gelegt. Aus einer differenzierten Analyse der Kapitalakkumulation ergeben sich aber verschiedene Schranken und Grenzen. Jede Schranke kann den Kapitalfluss verlangsamen oder unterbrechen, Krisen erzeugen und zu einer Kapitalentwertung führen. Wenn eine Schranke überwunden wird, stösst das Kapital auf die nächste. Beispielsweise führten die Angriffe der Neoliberalen auf Grund der Profitklemme zum Angriff auf die Arbeiterbewegung und zu einer fehlenden Nachfrage und zu Schwierigkeiten bei der Realisierung der Überschüsse.
Diese Probleme wurden mit einer Expansion des Kreditsystems angegangen, was zu einer zunehmenden Verschuldung der Privaten im Verhältnis zu ihrem Einkommen und der Staatshaushalte führte. Und dies wiederum hatte ein schwindendes Vertrauen ins Kreditsystem und die Kreditinstrumente seit 2006 zur Folge. Die Krisentendenzen wurden nicht beseitigt, sondern verschoben.
Nötig ist eine flexible, unorthodoxe Krisentheorie, welche die verschiedenen historischen und geographischen Krisensituationen zu erfassen vermag. Krisen gehören zur Kapitalakkumulation. Sie rationalisieren den Prozess, sie sind „irrationale Rationalisierer“. Krisen gehören zum Kapitalismus genau so wie Geld, Arbeitskraft und Kapital. Die Analyse und Bestimmung der jeweiligen Blockade und ihrer Überwindung erfordert eine sorgfältige Untersuchung.
So kann über die Krise 2007/2009 folgende (vorläufige) Aussage gemacht werden: Während ihr Epizentrum in den Technologien und Organisationsformen des Kreditsystems und des Staat-Finanz-Nexus liegt, besteht das grundlegende Problem in der übermässigen Macht des Kapitals gegenüber den Lohnabhängigen und der damit geschwundenen Kaufkraft und der ungleichen Einkommensverteilung. Verdeckt wird die strukturelle Krise durch einen kreditfinanzierten Konsumrausch in einem Teil und der zu schnellen Ausweitung der Produktion von Gütern in einem anderen Teil der Welt. Um die historische und geografische Entwicklung der Kapitalakkumulation in ihrer Komplexität zu verstehen, braucht es weitere Analysewerkzeuge. Insbesondere muss die Bedeutung der ungleichen Entwicklung in die Analyse der Krise einbezogen werden.
4. Harveys Ansatz, die Methode seiner Gesellschaftstheorie (Kapitel 5)
Die historische Geographie des Kapitalismus lässt sich nicht auf die Kapitalakkumulation reduzieren, auch wenn sie zusammen mit dem Bevölkerungswachstum seit etwa 1750 im Zentrum der Entwicklung der Menschheit gestanden hat. Die Gesellschaft besteht aus 7 Hauptbereichen:
• Technologie und Organisationsformen
• Gesellschaftliche Verhältnisse, Klassenverhältnisse
• Institutionelle und administrative Strukturen
• Produktions- und Arbeitsprozesse
• Beziehungen zur Natur
• Reproduktion, Alltagsleben inkl. demographische Entwicklung
• Geistige Vorstellungen
Die komplexe wechselseitige Beeinflussung dieser Bereiche formt diese ständig um. Sie können nicht isoliert untersucht werden, sondern bilden ein komplexes Ganzes, eine Totalität. Sie müssen als sich miteinander entwickelnd und sich gegenseitig beeinflussend begriffen werden. Der besondere Charakter einer Gesellschaft lässt sich zum grössten Teil dadurch bestimmen, wie diese Bereiche in den Beziehungen zueinander organisiert und strukturiert sind. Dies ermöglicht die Analyse von Spannungen, Widersprüchen, Weiterentwicklung, auch wenn diese nicht determiniert, sondern kontingent sind. Nach Harvey ist dieser theoretische Rahmen von Marx im 13. Kapitel des Kapitals in Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Darwins entwickelt worden. Marx kannte kein Primat eines einzelnen Bereichs und keine Determination. Eine historische Situation lässt verschiedene Möglichkeiten zu. Die 7 Bereiche entwickeln sich in koevolutionärer Weise. Es gelten keine Kausalverhältnisse, sondern die Bereiche sind in dialektischer Weise miteinander verwoben. Sie bilden zusammen eine Totalität, keine Maschine, eher schon ein ökologisches System. Wie Lefebvre’s „Ensemble“, Deleuze’s „Assemblage“. Die Elemente stehen in dynamischen Beziehungen zueinander. In einer solchen ökologischen Totalität sind Wechselbeziehungen flüssig und offen, auch wenn sie unentwirrbar miteinander verwoben sind. Ihre ungleiche Entwicklung erzeugt Spannungen, Widersprüche. Es gibt explosive Entwicklungen z. B. durch das Auftreten von Aids, das Auftauchen starker sozialer Bewegungen, technologischer Innovationen wie der Elektronik und der Computertechnologie, das berauschende Auflodern utopischer Politik wie 1968. Aus bürgerlicher Sicht sind nicht soziale Kräfte die bewegenden Momente, sondern der Fetisch Technologie. Diese sind zuständig für Katastrophen, Brüche und vorab für die Lösungen.
Harvey zitiert Stephen Jay Goulds Theorie des „punctualed equilibrium“: Es gibt Perioden relativ harmonischer Koevolution und Zeiten von Störungen, Brüchen, radikalen Reformen. Diese wurden von Joy für die natürliche Evolution postuliert. So finden wir 1945-1973 eine Phase harmonischer Koevolution und 1973-1982 eine Phase rascher Umstrukturierungen durch den neoliberalen Angriff auf verschiedenen Ebenen, und in den 1990er-Jahren einen radikalen Umbau des Staates und des Staat-Finanz-Nexus. In der Gesellschaftstheorie dominieren meist monokausale Vereinfachungen: technologischer Determinismus, Determination durch Ideen, Werte (Idealismus), Arbeitsprozess (Operaisten), einzelne Individuen mit der linken Version der Alltagsgeschichte, ökonomischer Determinismus bei verschiedenen Marxisten, Gouvernementalität bei Foucault.
Koevolution heisst nicht, dass allen 7 Bereichen dasselbe Gewicht eingeräumt wird. Wenn heute die Beziehungen zur Natur und der Alltag im Vordergrund stehen, so ist dies verständlich als Kompensation zum Ökonomismus der 1970er-Jahre. Ein gelungenes Beispiel einer koevolutionären Theorie ist Marxens Analyse des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Grösster Fehler früherer Versuche, den Sozialismus aufzubauen, war nach Harvey die Konzentration auf einen Bereich, z. B. Lenins Eroberung der Staatsmacht und Verstaatlichung der Unternehmen. Notwendig ist eine Umwälzung in allen Bereichen. Eine verhängnisvolle Reduktion auf die Förderung der Produktivkräfte führte zum Stillstand, verunmöglicht das Experimentieren mit neuen Formen. Wie sieht so eine korevolutionäre Strategie aus, wo beginnt sie? Sie kann überall beginnen, wenn sie nicht stehenbleibt, wo sie angefangen hat.
5. Die historische Geographie der Kapitalakkumulation
Die Geographie der Kapitalakkumulation ist zunehmend eine von ihr selbst produzierte. Das Bevölkerungswachstum entspricht der Wachstumsrate. Ohne Wachstum hätte die Bevölkerung nicht ernährt werden können. Die Bevölkerungsentwicklung gestaltet eine eigene Geographie: Zunahme, Stagnation, Abnahme, Kompensation durch Migration. Mit dem Bevölkerungswachstum und dem wirtschaftlichen Wachstum verwoben ist die Produktion des Urbanen. Der grösste Teil der anwachsenden Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Die überschüssige Bevölkerung wandert wie das Kapital: Migration entlang von Netzwerken, Remissen. Die geograpische Entwicklung ist ungleichmässig: Industrialisierung, Deindustrialisierung, Mittelklassengegenden, Slums, Industriezonen. Auf den ersten Blick ist diese Entwicklung ohne System. Wie wird geographische Verschiedenheit produziert? Auf den ersten Blick wie Karten der Wetterlagen: chaotisch und unvorhersagbar. Sie ist aber interpretierbar. Die Gesellschaft entwickelt sich ständig weiter. Meist wird die komplexe Geographie des Ganzen ignoriert, auf einzelne Faktoren reduziert und determiniert. Aber nur das Erfassen von komplexen Entwicklungen erlaubt ein bewusstes Handeln zum Besseren, ermöglicht Wissenschaft als eingreifende Praxis.
Als Prinzip Nr. 1 gilt: Alle geographischen Grenzen müssen durch die Kapitalakkumulation überwunden werden: Vernichtung des Raums durch die Zeit, Beherrschung des Raums. Diese ist für die Kapitalistenklasse von zentraler Bedeutung, auch zur Sicherung der militärischen Überlegenheit (Commune 1871, Deutsche Revolution 1848, 1918, Schweiz 1918). Was heute Globalisierung genannt wird, hatte die Bourgeoisie immer schon im Blick. Die Beherrschung von Raum und Zeit und der Natur stehen im Mittelpunkt der kollektiven Psyche des Kapitals. Wichtigstes Mittel der Raum/Zeit-Lösungen sind die Technologien. Harvey unterstreicht die Fetischisierung der Technologie: Was wären wir ohne Eisenbahn, Auto, Flugzeuge, Telefone und Computer?
Dann gibt es eine zweite Reihe von Prinzipien: Für die Produktion müssen Geld, Produktionsmittel und Arbeitskräfte an einem bestimmten Ort zusammengebracht werden. Gewisse Standorte werden dafür bevorzugt. Die Zwangsgesetze der Konkurrenz entscheiden über den günstigsten Standort. Am Anfang braucht es Unternehmergeist, Mut zum Risiko. Das Chaos der geographischen Unterschiede ist notwendige Bedingung, dass die Kapitalakkumulation beginnen kann. Die Gesetze der Kapitalakkumulation wirken erst im Nachhinein, nicht im Voraus: Der Erfolg führt zum Aufbau eines industriellen Zentrums (Manchester für Textilindustrie, Chicago für Autoindustrie); Rationalisierungen, geographische Umstrukturierungen, Aufstieg und Abstieg, werden erst im Nachhinein durch die Zwangsgesetze der Konkurrenz angestossen. Es gibt so Heldengeschichten und Fehlschläge: Sillicon Valley für IT-Industrie – Henry Fords Versuch des Aufbaus einer Gummiproduktion im Amazonas-Gebiet.
Zur Sicherung der Kontinuität der Geldströme, von Gütern, Menschen braucht es effiziente Transport- und Kommunikationssysteme. Die Geographie der Produktion reagiert sensibel auf Transportkosten. Die geographische Entfernung spielt heute eine immer geringere Rolle, bedeutet aber nicht, dass die Geographie für das hochmobile Kapital keine Rolle mehr spielt. An den Standorten mit den höchsten Profiten konzentrieren sich die Geschäftstätigkeiten: externe Skaleneffekte. Marshall im 19. Jhd.: Industriedistrikte. In der frühen Industrialisierung aufblühende Industriestädte; heute: Sillicon Valley, „Drittes Italien“ um Bologna; für die Finanzen New York, London. Wichtig sind auch die riesigen Netzwerke von Marktverbindungen. Handelsnetzwerke gibt es seit dem Frühmittelalter, Bankennetze im 16. Jhd., Medici, Familiennetzwerke im 19. Jhd., z. B. Rothschild. Heute Goldman Sachs, HSBC. Adam Smith: Die Konkurrenz um Standorte hat einen monopolistischen Charakter, z. B. Eisenbahnbau. Hohe Transportkosten schützen das lokale Gewerbe; heute aber wird die ortsgebundene Monopolmacht geschwächt. Beispiel Bier: Früher wurden lokale Marken gefördert, heute wird Bier wegen tiefen Transportkosten international vertrieben. Dennoch werden auch heute vom Standort abgeleitete Monopole gepflegt, auch wenn es keine Qualitätsunterschiede gibt (Perrier). Die Konkurrenz um die Monopolmacht ist ein wichtiger Aspekt der kapitalistischen Dynamik.
Wenn Transportkosten sinken, können Standorte verlieren. New Yersey, Connecticut, Pennsylvania als Orte der Produktion von Stahl. Die geographische Struktur von Produktion, Beschäftigung und Konsumption ist ständig im Fluss, es entstehen örtliche Krisen. Können daraus grössere Krisen entstehen? Mindestens kann man sagen, dass die letzte Krise 2006 im Häusermarkt Floridas und im Südwesten der USA begann.
6. Urbanisierung als Lösung der Überakkumulation
Die Produktion von Raum, die Verstädterung, ist zum lukrativen Geschäft geworden. Die Urbanisierung ist eine zentrale Triebfeder der Kapitalakkumulation, welche einen grossen Teil der Arbeitskräfte beschäftigt. Es gibt nicht nur das Industrieproletariat. In die Urbanisierung fliesst viel Kapital, schuldenfinanzierte Investitionen bilden oft das Epizentrum der Krise. Der Zusammenhang von Stadtentwicklung, Kapitalakkumulation und Krisenentwicklung ist genauer zu untersuchen.
Historisch hängen die Entwicklung der Städte und der Bildung von Klassen eng zusammen. Dies gilt auch für den Kapitalismus. Die Klassengesellschaft erlaubt die Produktion von Überschüssen, die eine wichtige Voraussetzung der Urbanisierung darstellen. Verstädterung ist die wichtigste Möglichkeit, Kapital zu absorbieren. Es gibt einen klaren Zusammenhang von Überschussproduktion, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum.
Harvey stellt den Prozess der Urbanisierung ausführlich dar am Beispiel von Paris 1872-1870 und am Beispiel von den USA und von New York seit 1942. Eine wichtige Änderung bringen die 1970er-Jahre: Die Urbanisierung wird global: siehe die Verstädterung von China in den letzten 20 Jahren, der Urbanisierungsschub in Lateinamerika in den 1970er-Jahren und die Schuldenkrise der 1980er-Jahrem, die Urbanisierung in Dubai, Sao Paulo, Madrid, Mumbai, Hongkong, London. Es ist der Bauboom für Reiche und Mittelschicht, zugleich das Anwachsen der Slums für Entwurzelte. In Europa sticht der Bauboom in Spanien und Irland hervor. Wichtig sind die neuen Finanzprodukte, u. a. die Verbriefung von Hypotheken: Die Risiken werden gestreut, wodurch die Angst vor den Risiken hinuntergesetzt wird. Etabliert wird ein unregulierter Sekundärmarkt, das Schattenbankensystem. Dieser Prozess verändert auch die Städte selber: Die Stadt wird ein Ort für Leute mit viel Geld (New York, London), eine Ökonomie des Spektakels. Eine zentrale Bedeutung hat die Organisierung des Konsums durch die Stadt. Neue Urbanität statt Reihenhäuschen, Vermarktung von Gemeinschaft, „umweltverträglicher“ Boutique-Lifestyle. Neoliberale Ethik des extremen Besitzindividualismus, exzessiver Konsum, finanzieller Opportunismus, Auflösung der bürgerlichen Kleinfamilie, Multikulturalismus, Gleichberechtigung der Frau u. a. m. Negative Folgen sind: Isolation, Ängstlichkeit, kurzlebige Beziehungen, Neurosen inmitten des Konsumparadieses.
Zur Urbanisierung gehört auch die „schöpferische Zerstörung“: Krisen als Motoren des Städteumbaus. Die Urbanisierung hat einen Klassencharakter; Arme, Unterprivilegierte leiden unter dem Prozess. Oft werden gewalttätige Methoden angewendet, was 1968 zum Widerstand gegen Autobahnen und Stadterneuerungen führte. Heute sind die Prozesse subtiler geworden, man denke an die haushaltspolitische Disziplinierung, den Abbau von Mieterschutzbestimmungen. Aber es gibt zunehmend Widerstand gegen Vertreibungen, auch in China und Indien sowie bei uns gegen Projekte der Gentrifizierung. Diese Opposition darf nicht unterschätzt werden. Es wird in Zukunft immer schwieriger, Erneuerungen im Namen „zum Wohle aller“ auszugeben. Die grossen Profiteure sind die Besitzer von Land: Investitionen in Immobilien, Grundbesitz, Bergwerke, Rohstoffe sind heute attraktive Geschäfte. Der Anstieg der Grundrenten, spekulative Geschäfte, Korruption im Immobilienbereich nehmen zu. Reichtum entsteht nicht nur in der industriellen Produktion. Aktuell ist Thorstein Veblen: Der Reichtum der „müssigen Klasse“ wächst.
Die Macht der Besitzer von Land und Bodenschätzen wird oft unterschätzt. Solche Geschäfte machen in entwickelten Ländern 40% der Wirtschaftstätigkeit aus und können zu einem wichtigen Hemmnis für die Produktion werden. So durch Anstieg der Grundrenten, des örtlichen Lohnniveaus, der Grundstückpreise. Der Renten- und Immobilienbereich trägt nicht nur zur Umgestaltung der Stadt bei, sondern auch zur Entstehung von Krisen und Stagnationsphasen. Keynes wollte die Euthanasie des Rentners – heute sind sie lebendiger denn je. Grundrente und Grundstückpreise sind wichtige theoretische Kategorien der politischen Ökonomie der Geographie, des Raumes, der Beziehungen zur Natur. Diese sind keine zweitrangigen Kategorien, keine abgeleiteten Verteilungskategorien, sie müssen im Mittelpunkt einer Analyse der Urbanisierung stehen. Nur mit diesen Kategorien kann die ständige Produktion von Raum mit der Zirkulation und Akkumulation des Kapitals verbunden werden. Ihre Bedeutung für die Entstehung von Krisen ist offensichtlich.
Die lange Geschichte der „schöpferischen“ Zerstörung des Bodens hat das geschaffen, was als „zweite Natur“ bezeichnet wird. Das Tempo und das Ausmass der Zerstörung haben heute massiv zugenommen. Ursprünglich als Beherrschung der Natur verherrlicht, ist man heute vorsichtiger geworden. Hauptakteure dabei sind das Kapital und der Staat. Im Vordergrund stehen Profitbedürfnisse, nicht die Bedürfnisse der Menschen. Die Prozesse sind nicht völlig kontrollierbar, die Natur rächt sich. Die „Grüne Revolution“ ist ein gutes Beispiel für eine koevolutionäre Entwicklung in allen sieben gesellschaftlichen Bereichen.
7. Staat, Staatensystem, Neoimperialismus
Bei der Raumgestaltung spielen territoriale Formen der gesellschaftlichen Organisation eine wichtige Rolle. Der Aufstieg des Kapitalismus fällt zusammen mit der Bildung von Territorialstaaten, Kolonien, imperialen Verwaltungseinheiten. Die heutigen staatlichen Strukturen gehen immer noch stark auf die Zeit des klassischen Imperialismus 1880-1925 zurück. Die Gestaltung des Raums ist eine Fähigkeit der Menschen, nicht des Kapitals: Einrichten des Hauses, des Gartens, der Stadt als „Zuhause“. Dies wird von der Kapitalistenklasse und der Baulobby ausgenützt, indem der Lokalpatriotismus mobilisiert wird, örtliche und regionale Identitäten für seine Interessen gefördert werden. „Urban engeneering“ ist die Technik, die lokale und gesellschaftliche Solidarität für Profitzwecke sich zunutze zu machen.
Territoriale Einheiten gibt es viele: von lokalen Strukturen (Nachbarschaften, Strasse) bis zu globalen Machtblöcken. Diese Einheiten verstärken ihre gefühlsmässige Loyalität oft mit der Betonung von Unterschieden, Abgrenzung und Ausschluss. Sie sind meist historisch gegeben. Es gibt aber auch Einheiten, die sich mit der Kapitalakkumulation herausbilden. Für Harvey sind das die Regionen mit einem informellen, strukturellen Zusammenhalt. Die Nationalstaaten wurden in der neoliberalen Phase radikal umgestaltet. Der Kapitalismus benötigt den Staat primär zum Schutz der Eigentumsrechte und von Marktregulierungen. Jeder Staat entwickelt dabei seine spezifischen Strukturen, seinen besonderen Charakter. Auch im Rahmen der Staaten gibt es Standortkonkurrenz um mobiles Kapital. Staatensysteme gibt es ebenfalls diverse: von Internationalen Organisationen wie dem IWF, der Weltbank und der WTO bis zu den Koordinationsgremien G7, G20, den Freihandelsabkommen und Freihandelszonen (NAFTA, CAFTA, Mercosur, ASEAN). Das Kapital, das um die ganze Welt zirkuliert, bedarf bei fehlendem Weltstaat regulierende Bedingungen. Auch im Staatensystem vollzogen sich mit der neoliberalen Offensive wichtige Veränderungen: kontrollierte Dezentralisierung, um die zentrale Kontrolle zu festigen. Vgl. dazu die Reformen zur Dezentralisierung in den USA, in China, in Grossbritannien und in Frankreich.
Kriege sind besonders erschütternde Phasen der „schöpferischen Zerstörung“. Sie werden zwar vom Kapital nicht angezettelt, letzteres profitiert aber davon: Wiederaufbau als Absorption von überschüssigem Kapital. Beide Faktoren, die Staatenbildung und die interterritoriale Konkurrenz, bilden den Ausgangspunkt für Konflikte und Kriege. Das Kapital schafft die notwendigen Bedingungen, die Staaten die hinreichenden für einen Krieg, von zentraler Bedeutung sind dabei die militärisch-industriellen Komplexe. Interterritoriale Konkurrenz führt zu Konkurrenz zwischen verschiedenen territorialen Einheiten: Regionen, Gemeinden, Nationalstaaten, Machtblöcken. Die Vermarktung der Orte wie etwa das Stadtmarketing sind wichtige Elemente der kapitalistischen Konkurrenz. Kapitalakkumulation führt nicht zu geographischer Homogenität, sondern floriert mit der Differenz, der Heterogenität, der ungleichen Entwicklung – allerdings in Grenzen: Kuba oder ein kommunistisch regiertes Italien lägen ausserhalb der Bandbreite und werden nicht geduldet. Die politische Opposition ist heute auch sehr heterogen: neben linken Bewegungen gibt’s zunehmend fundamentalistische bis zu faschistischen Bewegungen. Das Gewaltmonopol liegt traditionell beim Staat, wird aber heute von terroristischen und maffiösen Organisationen infrage gestellt. Staaten haben noch den Vorteil von modernen Überwachungstechniken und Waffensystemen.
Neuer Imperialismus: In der historischen Geographie des Kapitalismus haben Imperialismus und koloniale Eroberungen, innerkapitalistische Kriege und die Rassendiskriminierung eine dramatische Rolle gespielt. Heute muss die Theorie des klassischen Imperialismus und Kolonialismus durch eine Theorie der Hegemonie ersetzt werden (vgl. Arrighi. The long Twentieth Century 1994). Nach Arrighi gibt es eine kapitalistische Machtlogik und eine territoriale, politische Machtlogik, die nicht aufeinander zurückführbar, die beide aber eng miteinander verflochten sind. Die Verflechtung wird heute am sichtbarsten beim Staat-Finanz-Nexus. Hintergrund des Imperialismus ist die ungleiche Entwicklung im kapitalistischen System. Es geht darum, ungleiche Bedingungen zum eigenen Vorteil auszunützen, zu festigen. Mit Hilfe des Staates und des Militärs wird der eigene Wohlstand auf Kosten anderer vermehrt. Standbeine der Hegemonie sind Geld, Produktionskapazitäten und militärische Macht.
Seit 1945 lag die Hegemonie klar bei den USA. In der 2. Hälfte der 1960er-Jahre kam es durch die Kosten des Vietnamkriegs und den Sozialprogrammen zu einer Krise dieser Hegemonie. Mit dem neoliberalen Projekt Reagans wurde die Dominanz der Finanzmacht das Mittel der erneuerten Hegemonie. Die Finanzkrisen verschuldeter Länder (Lateinamerika, Asienkrise) festigten die Dominanz des US-Finanzkapitals. Mit der Krise 2006 ff. kehrte die Finanzkrise in die Zentren zurück und hat die Hegemonie der USA wohl infrage gestellt; nun ist China mit im Spiel. Dennoch kann nicht von einer Wiederherstellung des „klassischen Imperialismus“ und des Kolonialismus gesprochen werden. Die Auseinandersetzung geht um die Hegemonie. Auch führt eine Übernahme der Staatsmacht nicht zur Revolution, was die Erfahrungen in Russland und Osteuropa gezeigt haben. Heute ist eine korevolutionäre Bewegung in allen Bereichen notwendig, vor allem eine Transformation des Staates. Staaten erscheinen als sehr statisch. Dennoch zeigt die Geschichte am Beispiel der Sowjetunion und von Jugoslawien, dass sie nicht in Stein gehauen sind.
Beim Kampf um die Hegemonie spielt die Geopolitik eine wichtige Rolle. Geopolitik kann tödliche Folgen haben, wie das der Nationalsozialismus gezeigt hat. Aber auch heute spielt Geopolitik eine Rolle. China baut heute gezielt seine Marine auf, um eine Seemacht zu werden. Hinter der Intervention der USA in Afghanistan und im Irak standen geopolitische Überlegungen: Sicherung von Öl, Verhinderung einer starken regionalen Kraft im Nahen und Mittleren Osten (Irak, Iran), geopolitische Prävention gegenüber Russland und China. Geopolitische Visionen erscheinen heute anachronistisch und irrsinnig, hatten 1914 aber eine Wirkung. Geopolitik rückt heute wieder ins Blickfeld sozialwissenschaftlicher Weltbetrachtung. Im Endeffekt läuft Geopolitik auf den Versuch hinaus, die ungleiche Entwicklung zu vertiefen oder abzusichern. Das Anschwellen der Finanzgeschäfte und der Finanzmacht liess den traditionellen Imperialismus und Kolonialismus an Bedeutung verlieren.
Beim Kampf um die Hegemonie geht es wesentlich um die finanzielle Hegemonie – trotz der immer noch wichtigen militärischen Dimensionen. Der Kampf um die Beherrschung eines Territoriums hat aber an Bedeutung verloren. Geographisch ungleiche Entwicklung ist keine blosse Begleiterscheinung des Kapitalismus, sondern ist eine grundlegende Bedingung seiner Entwicklung. Deshalb werden auch die Probleme, die mit der ungleichen Entwicklung verbunden sind, nicht verschwinden. Die Produktion der ungleichen Entwicklung ist zwar sehr komplex und von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Trotzdem ist es möglich, Hinweise zu bekommen, wo die Probleme bestehen, wie sie sich auswirken und wie sie gelöst werden könnten – auch wenn präzise Voraussagen nicht möglich sind. Klar ist, dass, solange es den Kapitalismus gibt, der Zwang zur Investition der Überschüsse ein Problem und eine Gefahr darstellt. Heute werden oft Parallelen gezogen zwischen den ökonomischen Krisen der 1930er-Jahre und der Krise 2006/2009. Was dabei aber meist ignoriert wird, sind die politischen Parallelen auf dem Hintergrund der Überakkumulationskrise: der Zerfall der internationalen Zusammenarbeit, die Zunahme der geopolitischen Rivalitäten und ein mögliches Abgleiten in die gigantischste Tragödie, den grössten Schub an „schöpferischer Zerstörung“: ein Weltkrieg.
8. Was tun?
In Zeiten der Krise liegt die Irrationalität des Kapitalismus offen zutage. Kann der Kapitalismus die gegenwärtige Krise überleben? Gewiss, aber zu welchem Preis? Kann die Kapitalistenklasse ihre Macht trotz Vermögensverlusten, Umweltzerstörung und einem Verlust an Lebensstandard für einen grossen Teil der Bevölkerung aufrechterhalten? Krise ist eine Zeit der Paradoxien und der Möglichkeiten, also auch der Möglichkeit einer antikapitalistischen Alternative. Entscheidend für die Festigung der Klassenmacht der Bourgeoisie ist die weitere Entwicklung: Gibt es noch Räume, in denen das überschüssige Kapital investiert werden kann? Gibt es langfristige Lösungen für die Kapitalakkumulation? Wir könnten gegenwärtig an einem Wendepunkt stehen. Die Frage nach einer Alternative, so Harvey, stellt sich heute dringender denn je.
Unbestreitbar gibt es eine gewisse, nicht sehr tiefgreifende Legitimationskrise. Viele von der Krise Betroffene geben sich selber die Schuld für die Probleme. Auch fehlen starke Bewegungen, welche den Kapitalismus offensiv infrage stellen. Seit den 1980er-Jahren wird die Politik in eine Ware verwandelt, es ist eine starke Entpolitisierung im Gange. Bis jetzt ist die herrschende Klasse gut weggekommen. Die kapitalistischen Medien leisten der Amnesie Vorschub. Bei den Banken findet ein Konzentrationsprozess statt – sie haben die letzte Krise unbeschadet überstanden. „Grüne Technologien“ dienen zur Rechtfertigung der Kapitalakkumulation. Auch heute gilt aber der Grundsatz: Je schneller man aus der Krise herauskommt, je geringer die Kapitalentwertung ist, desto geringer ist der Spielraum für einen robusten Wiederaufschwung.
Festzustellen ist ein gewisses Revirement des Keynesianismus. Die Eliten aber halten dagegen: Gibst du ihnen den Finger, so nehmen sie die ganze Hand. Eine Bereitschaft zu wirklichen Reformen ist keine vorhanden, sie müssen dazu gezwungen werden.
Antikapitalistische Bewegungen haben sich vorab in den benachteiligten Regionen herausgebildet: Zapatisten in Mexiko, Indigene in Bolivien, Taliban im Nahen Osten. Dabei besteht das Kernproblem fort: Es gibt keine entschlossene, hinreichend vereinheitlichte antikapitalistische Bewegung, welche die Macht der Eliten infrage stellt; auch kein Programm. Dies darf uns nicht abhalten, nach Alternativen zu suchen. Wie lässt sich diese Blockade überwinden? Wenn wir aus der Blockade nicht ausbrechen, laufen wir wehrlos in die zukünftigen, wiederkehrenden Krisen hinein mit ihren tödlichen Folgen.
Das zentrale Problem ist, dass das gegenwärtige Wirtschaftswachstum, die Krisen und Kriege, Armut, Naturzerstörung sowie Verletzungen der Menschenrechte und der Würde nicht mehr weitergehen dürfen. Für eine korevolutionäre Politik müssen aus früheren gescheiterten Versuchen des Sozialismus und Kommunismus Schlussfolgerungen gezogen werden. Grundlage für eine korevolutionäre Politik ist: Eine politische Bewegung kann von jedem Punkt ausgehen; die Kunst der Politik besteht darin, diese zur gegenseitigen Verstärkung auf alle Bereiche auszudehnen. Strategische Punkte sind:
• Entwicklung und Wachstum ist nicht dasselbe. Wachstum ist keineswegs eine Voraussetzung für den Abbau von Armut, Ungleichheit und einen respektvollen Umgang mit der Natur.
• Breite Bündnisse sind mit allen nötig, die in den verschiedenen Bereichen arbeiten. Voraussetzung ist die Überwindung traditioneller Abgrenzungen und Feindseligkeiten.
• Es ist notwendig, sich mit den Auswirkungen und Rückwirkungen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen, die von anderen Orten der Welt kommen: verschiedene Orte, verschiedene Traditionen, unterschiedliche Geschichte.
• In jeder Übergangsphase braucht es gemeinsame Ziele, Leitlinien: z. B. radikale Gleichheit, Respekt vor der Natur, Kollektiveigentum, demokratische Verfahren, Selbstverwaltung im Arbeitsprozess, freiheitliche Lebensgestaltung etc.
Die grösste Schwierigkeit bildet die Klassenfrage. Sie wird heute umgangen im Gegensatz zu Problemen der Rasse, der Ethnie, des Geschlechts. Fragen des Klassenbewusstseins werden heute kaum diskutiert, hartnäckig bestritten oder völlig verdrängt. Nötig ist auch ein neuer Begriff des Eigentums, der Commons (Gemeinschaftseigentum). Der Kampf um neue institutionelle Arrangements muss ins Zentrum der politischen Überlegungen rücken. Autonomisten ist insofern recht zu geben, als die radikale Gleichheit im Arbeitsprozess von überragender Bedeutung ist, etwa Konzepte der Selbstverwaltung. Eines der Ziele der Recht-auf-Stadt-Bewegung muss die Schaffung von neuen städtischen Gemeingütern sein. Insbesondere die Natur muss als Gemeingut anerkannt sein, für das wir alle verantwortlich sind.
Notwendig ist auch eine Veränderung der philosophischen und intellektuellen Vorstellungen. Der Bankrott der Ökonomen angesichts der Krise kann nur mit der Psychologie der Verdrängung erklärt werden. Ideen sind nicht irrelevant, sie können katastrophale Folgen nach sich ziehen. Heute ist eine Revolutionierung der Denk- und Wissensstrukturen notwendig. Seit 1980 ff. ist die Repression und Ausgrenzung der Marxisten als Gegnerschaft zu Keynes, der ohne Marx nicht denkbar ist, festzustellen. Heutige Wissenschaftsstrukturen sind dysfunktional und illegitim. Auch in der Wissenschaft braucht es eine von StudentInnen geführte revolutionäre Bewegung.
Es braucht heute ein breites Bündnis der Unzufriedenen, der Entfremdeten, der Benachteiligten und Enteigneten. Diese sind gegen Naturzerstörung, gegen Armut und zunehmende Ungleichheit, sind unzufrieden mit dem zunehmend autoritären und undemokratischen Staat, sind gegen alle Formen von Diskriminierung. Auch gegen den zunehmenden Druck, der auf Schulen, Universitäten und den Medien lastet. Es ist ein Verrat der Intellektuellen, sie könnten einen wichtigen Beitrag leisten. Für eine korevolutionäre Bewegung ist es unumgänglich, das Rätsel des Kapitals zu entschlüsseln und transparent zu machen, was und wie die politische Macht verschleiert.
Lohnabhängige und Enteignete bilden die zwei grossen Blöcke. In den Fabriken ist die Ausbeutung am offensichtlichsten, die Zusammenballung erleichtert das Klassenbewusstsein, die Organisation und kollektive Aktionen wie Streiks. Die Fixierung auf die Fabrikarbeiter ist aber falsch. Die Übrigen können nicht als zweitrangige Akteure abgetan werden. Oft spielt das Prekariat mit seinen ungesicherten, schlechtbezahlten Arbeiten in den Aufständen eine zentrale Rolle, so in den Pariser Vorstädten, die piqueteros in Argentinien. Revolutionäre Bewegungen haben einen städtischen Charakter: Commune 1870/71, Leningrad 1917, Tucaman-Aufstand 1969, Paris 1968/69, Mexiko-Stadt, Bangkok 1968, Kommune in Shanghai 1976, Prag 1989, Buenos Aires 2001/2002.
Von der Akkumulation durch Enteignung Betroffene. Die Enteignung von Land, Wasser, Bodenschätzen ist voll im Gange. Die Durchsetzung von Patenten auf Saatgut, Biopiraterie, die Plünderung genetischer Ressourcen sind von entscheidender Bedeutung. Und immer wieder Privatisierungen, die räuberische Methoden des Finanzkapitals (Wucherzinsen, Enteignungen, Zwangsvollstreckungen), worin der IWF ein Meister ist. Viele Kapitalbesitzer halten Krisen für nützlich: Das Eigentum kehrt zu den Eigentümern zurück.
Der Traum ist ein Bündnis der verschiedenen oppositionellen Organisationen und Bewegungen: Allianz aller Benachteiligten und Enteigneten. Dabei gibt es zwei Schwierigkeiten. Viele Enteignungen haben erstens nicht mit der Kapitalakkumulation zu tun und führen nicht notwendig zu einer antikapitalistischen Politik. Und zweitens gibt es Enteignungen, die fortschrittlich oder notwendig sind (vgl. bürgerliche Revolutionen). Aufgabe der revolutionären Kräfte ist es nicht, die alte Ordnung zu verteidigen, sondern die Klassenverhältnisse und die kapitalistischen Formen der Staatsmacht anzugreifen. Blosse Verteidigung bringt nichts. Zum Klassenkampf gehört auch ein gewisses Mass an Gewalt, aber nicht die Gewalttätigkeit gewisser „sozialistischer“ und „kommunistischer“ Regimes. Viele Aufstandsbewegungen haben deshalb einen antikommunistischen Weg gewählt. Die Bewegungen gegen Enteignungen sind sehr vielfältig: Gegen Shell in Nigeria, gegen Biopiraterie und Landraub, gegen Privatisierungen, gegen Staudammprojekte, gegen die Politik des IWF. Viele Bewegungen sind vom Militärapparat der USA, Grossbritanniens und Frankreichs unterdrückt und zerschlagen worden, wenn sie sich gegen die Akkumulation durch Enteignung zur Wehr setzten. Die Vielfalt von Benachteiligten und Enteigneten führt auch zu einer Vielfalt von Zielsetzungen und Organisationsformen:
• Die riesige Zahl von NGOs: Auch wenn sie progressiv sind, haben sich die meisten von der antikapitalistischen Politik verabschiedet. In einigen Fällen sind sie sogar neoliberal ausgerichtet, an Privatisierungen beteiligt und streben die Integration von Benachteiligten in den Markt an (z. B. Mikrokredite). Revolutionäre Veränderungen werden von ihnen kaum angestrebt; meist sind sie von Geldgebern abhängig. Die Machtfülle der NGOs zeigt sich daran, dass sie das Weltsozialforum für sich und ihre Ziele okkupieren konnten.
• Anarchistische, autonomistische, basisorientierte Organisationen: Gemeinsam ist ihnen die Antipathie gegen die Staatsmacht. Die alltägliche Lebenssituation soll Basis jeder antikapitalistischen Alternative sein: Solidarische Ökonomie. Oft stehen sie sich aber selber im Weg, weil sie alles ablehnen, was nach Hierarchie riecht oder Fragen betrifft, die über das Lokale und den Alltag hinausweisen.
• Traditionelle Organisationen der Arbeiterbewegung und linke Parteien: Sie sind gegenwärtig geschwächt, ihre Errungenschaften aber wichtig. Eine Rückkehr zum Modell des Sozialstaats und zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik ist aber unrealistisch. Sie gingen zum Teil sogar dazu über, die neoliberale Politik zu unterstützen, um ihren eigenen Einfluss nicht zu verlieren. Aber sie scheinen sich heute eher wieder zu erholen und sich etwas nach links zu bewegen. Unklar ist z. B. die Rolle der KP in China. Ihr Verdienst ist aber bestimmt: In der korevolutionären Strategie kann man nicht davon ausgehen, dass sich eine antikapitalistische Gesellschaft aufbauen lässt, ohne die Staatsmacht zu übernehmen und diese radikal umzugestalten. Zahlreiche Fragen, wie diejenige des Privateigentums, des Wachstums bis zu Fragen der zwischenstaatlichen Konkurrenz und Hegemonie können nicht lokalen Bewegungen überlassen werden. Für eine antikapitalistische, revolutionäre Bewegung ist es eine alberne Idee, den Staat und die Dynamik des zwischenstaatlichen Systems zu ignorieren.
• Soziale Bewegungen gegen die Akkumulation durch Enteignung: Obwohl diese Bewegungen oft ein einziges Thema haben, ist es möglich, sie in ländlichen Bündnissen oder der Stadt, in einer Recht-auf-Stadt-Bewegung zusammenzuschliessen. Sie haben oft eine grosse Kampferfahrung und bringen „organische Intellektuelle“ (Gramsci) hervor. Hier gibt es viel zu lernen; deren Kampfkraft kann aber auch durch Intellektuelle aus den Mittelschichten, „Unzufriedene“, unterstützt werden.
• Emanzipierte Bewegungen zu Identitätsfragen: Mit der Feminisierung der globalen Arbeitskraft und der Armut ist die Emanzipation der Frau zu einer notwendigen Bedingung des Klassenkampfs geworden. Dasselbe gilt für die Bewegungen der MigrantInnen. Der Aufstieg des Kapitalismus baut auf Rassismus und die Unterdrückung von Frauen und Kindern, er benötigt dies in der Praxis als Mittel zur Schwächung und Zerstörung der Klassenmacht, des Klassenbewusstseins und der Solidarität. Mit einer moderaten Berücksichtigung von Multikulturalismus und Frauenrechten in den Unternehmen kann das Kapital demonstrieren, dass es wandlungs- und lernfähig ist. In der gegenwärtigen Krisensituation ist es aber wieder auf diese Spaltungen und Schwächung der Klassenbewegungen angewiesen.
Es bedarf einer grossen Arbeit, die fünf verschiedenen Strömungen in einer korevolutionären Bewegung zusammenzuführen hinsichtlich der grundlegenden Frage: Kann sich die Welt heute ökonomisch, gesellschaftlich, ideell und politisch so verändern, dass sich nicht nur die schrecklichen gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen verhindern, sondern auch das zerstörerische, exponentielle Wirtschaftswachstum bekämpfen lässt. Marx und Engels schreiben im Kommunistischen Manifest: Kommunismus ist keine Partei, sondern die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“. Es sind alle diejenigen miteinzubeziehen, die unablässig daran arbeiten, eine andere Zukunft herbeizuführen. Der traditionelle, institutionelle Kommunismus ist tot. Ist ein anderer Kommunismus heute möglich? Dass darüber in den letzten Jahren wieder diskutiert wird, ist ermutigend. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass der Kampf nicht einfach automatisch weitergeht. Die Notwendigkeit des Kampfes muss einsichtig sein. Dazu muss das Rätsel des Kapitals entschlüsselt werden.
David Harvey: Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Den Kapitalismus und seine Krisen überwinden. VSA, Hamburg 2014.