Seit der Hinrichtung von Sokrates gehört der heimtückisch oder durch ein Gerichtsurteil angeordnete und brutal exekutierte Tod von Philosophen zur Geschichte des Denkens. Mögen jeweils die Umstände und Anlässe, die Nutzniesser und Opfer verschieden gewesen sein; in jedem dieser Fälle stellt sich das Erschrecken über die Erkenntnis ein, dass mit der Ermordung und damit der Vernichtung der physischen Existenz eines Menschen auch dessen Gedanken ausgelöscht werden sollten. Ignacio Ellacuría SJ und seine fünf Mitbrüder Ignacio Martín Baró, Segundo Montes, Amando López, Joaquín López y López und Juan Ramón Moreno wurden vor 25 Jahren am 16. November 1989 auf dem Gelände der „Zentralamerikanischen Universität“ (UCA) in San Salvador von einem Kommando der Eliteeinheit Atlacatl umgebracht, weil sie nach der Meinung des Generalstabes der salvadorianischen Armee – wie dieser vor und nach der Tat mehrfach die Ermordeten öffentlich bezeichnet hatte – zu den „intellektuellen Köpfen“ der politischen Opposition gehörten. Dass gleichzeitig mit ihnen ihre Köchin Julia Elba Ramos und deren Tochter Celina Ramos getötet wurden, geschah auf ausdrücklichen Befehl des für die Kommandoaktion verantwortlichen Obersten: Es sollte keine Zeugen des Verbrechens auf dem Universitätsgelände geben.
Martha Doggett hat den 1993 veröffentlichten Abschlussbericht des „Lawyers Committee for Human Rights“ (Washington) über den Ablauf des Verbrechens, über die polizeilichen Untersuchungen und die verschiedenen Gerichtsverfahren gegen die Täter unter den Titel „Death Foretold“ gestellt.[1] Mit dieser Formulierung spielte sie auf zwei Sachverhalte an. Einmal erbrachte der Bericht den Nachweis, dass die Ermordung der sechs Jesuiten präzise geplant worden war und dabei kaltblütig auch der gewaltsame Tod der beiden, zufällig im Haus der Jesuiten anwesenden Frauen in Kauf genommen wurde. Zugleich gelang den Verfassern der Nachweis, dass das Verbrechen vom 16. November 1989 im Rahmen einer politischen Strategie der Regierungen El Salvadors, welche diese während der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfolgten, geplant und ausgeführt wurde. Sowohl die Regierung der christdemokratischen Partei wie die der ARENA-Partei genossen dabei die Unterstützung der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika; diese gewährte über ein Jahrzehnt lang massive finanzielle Militärhilfe, ermöglichte den Offizieren der salvadorianischen Armee eine Generalstabsausbildung in der „School of the Americas“ und sandte zusätzlich amerikanische Militärberater nach El Salvador. Als strategische Vorgabe diente dabei die Theorie eines „Konflikts auf niederem Niveau“ (Low Intensity Conflict): Man verfolgte einerseits das Ziel, einen militärischen Sieg über die jeweilige Guerilla (im Fall von El Salvador über die sich im Jahre 1980 formierte Frente Farabundi Marti de la liberación nacional, FMLN-FDR) zu erringen, und man förderte gleichzeitig demokratische und rechtsstaatliche Verfahren (u.a. Wahlen), soweit sich diese innerhalb dieser strategischen Zielvorgabe bewegten.
In dieser Lage sah sich in El Salvador jede Person und jede Organisation, die sich für eine Verhandlungslösung mit der Guerilla einsetzte, nicht nur dem Vorwurf, ein Kommunist zu sein, sondern einer lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt. Gleichzeitig kam es zu einer Vielzahl von Massakern durch militärische Kommandos gegen die Zivilbevölkerung (erwähnt seien nur die am Rio Sumpul und in El Mozote), und paramilitärische Gruppen liessen systematisch Menschen verschwinden, ohne dass eine wirksame Verfolgung der Täter durch die Polizei und Gerichte erfolgte (die sogenannte Impunidad).
In einer solchen bedrohlichen Situation befand sich auch die UCA und ihr Lehrkörper. Gegen die Einrichtungen der Universität wurden mehrfach Bombenattentate vollführt, und gegen ihren Rektor Ignacio Ellacuría kam es regelmässig zu Todesdrohungen.[2]
Ignacio Ellacuría war 1979 Rektor der UCA geworden. Diese Funktion übte er bis zu einer Ermordung 1989 aus. Sie gab ihm die Möglichkeit, die „Option für die Armen“, für die er sich seit Beginn der siebziger Jahre als Hochschullehrer für Philosophie und als Mitglied der Zentralamerikanischen Jesuitenprovinz eingesetzt hatte, nun auf einer breiteren Ebene und nicht nur im akademischen Milieu zur Geltung zu bringen. Zu Beginn der achtziger Jahre gewann er die Einsicht, dass keine der Konfliktparteien, weder die Regierung noch die Guerilla militärisch die Situation für sich entscheiden könne.[3] Ellacuría setzte sich darum bis zu seiner Ermordung für eine Verhandlungslösung ein, die den „Rechten und Bedürfnissen der armen Mehrheit der Bevölkerung“ gerecht zu werden vermag. Dafür engagierte er sich nicht nur im Rahmen seiner eigenen Forschungen, sondern auch in den ihm aufgrund seines internationalen Ansehens als Philosophen und Theologen möglichen weltweiten Kontakten. Gleichzeitig gelang es ihm auch, die UCA als eine akademische Institution in sein „nationales Dialog-Projekt“ einzubeziehen: neben den Curricula der einzelnen Fachrichtungen der UCA waren es vor allem das von Segundo Montes gegründete Institut für Menschenrechte (IDHUCA) sowie das von Ignacio Martín-Baró errichtete Institut für Meinungsforschung (IUDOP), die durch ihre Dokumentationen, Umfragen und Forschungen die nötigen Grundlagen zur Debatte über die Lage in El Salvador beitrugen. Ignacio Ellacuría selbst veröffentlichte Aufsätze in den „Estudios Centroamericanos“ (ECA), in denen er für einen Verhandlungsprozess und gegen eine militärische Lösung plädierte, und er benützte regelmässig das von ihm eingerichtete „Forum für Nationale Fragen“ (Cátedra de la realidad nacional), um den Dialog zwischen den Vertretern der Konfliktparteien und mit den betroffenen Bürgern zu fördern.[4]
Noch heute überrascht die Anschlussfähigkeit der Philosophie und der Theologie von Ignacio Ellacuría für lokale, regionale und globale Kontexte[5], für die er während seines Lebens massgebliche Beiträge geleistet hatte. Sie zeigt sich aber ebenso in der breiten internationalen Wirkungsgeschichte, die seine Publikationen nach seinem Tode bis heute gefunden haben.[6]
Ignacio Ellacuría gilt bis heute als Meisterschüler des spanischen Philosophen Xavier Zubiri (1898-1983).[7] Ihre Zusammenarbeit, die in den sechziger Jahren bei einer Promotionsarbeit über die Philosophie Zubiris erwuchs, überstieg das übliche Lehrer-Schülerverhältnis. Ellacurías Einfluss auf die Spätphilosophie Zubiris ist nicht unerheblich.
Zubiris Kritik an der seit Sokrates dominierenden Philosophie ging davon aus, dass in dieser Tradition das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und verstehendem Erkennen nicht als eine dynamische Einheit begriffen wurde. Dies hat nicht nur ein dingliches Verständnis der Wirklichkeit zur Folge, vielmehr kann die den Dingen eigene Dynamik und damit deren inhärente Appellstruktur nicht mehr erkannt werden. Ellacuría radikalisierte diesen Grundgedanken Zubiris, indem er den mit der Appellstruktur gegebenen Zusammenhang der Dinge als einen geschichtlich Gewordenen begriff. Jedes menschliche Erkennen ist davon nicht nur in seinen Gehalten, sondern auch in seiner Art und Weise des Erkennens geprägt. Aus diesem Grunde kommt ein Erkennen nur dann zustande, wenn es die Bedingungen, unter denen es sich vollzieht, wahrnimmt. Für Ellacuría wurde aus diesem Grunde die Frage nach dem „Ort“ der Erkenntnis von grundlegender Bedeutung. Und wenn er davon sprach, dass unter den sozialen und ökonomischen Bedingungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die grosse Mehrheit der Marginalisierten und Armen diesen Ort des Erkennens ausmachen, meinte er, dass in deren Lebenswelt das, was „die Wirklichkeit in ihrem Innersten zusammenhält“, erkennbar ist. Hierbei geht dem erkennenden Menschen nicht nur die Not der Menschen auf, sondern auch die Dringlichkeit einer radikalen Änderung. Unter dieser Voraussetzung gelingt Erkenntnis nur dann, wenn sie ein ihr entsprechendes Handeln einschliesst. Ellacuría formulierte dies mehrfach, dass das Erkennen seiner vollen Funktion „einschliesslich des Erkennens der Realität und des Verstehens des Sinns der Realität nur dann nachkommt, wenn [es] ein reales Tun auf sich nimmt“[8].
Dieses anspruchsvolle philosophische Programm, das Ellacuría in einer Vielzahl von Aufsätzen skizziert hat, gab ihm die Möglichkeit für seinen politischen und sozialen Einsatz als Hochschullehrer und als Rektor der UCA. Sie war auch der Anlass für seine Gegner, ihn und seine Mitbrüder zu töten, und sie ist bis heute der Anstoss einer internationalen philosophischen Debatte.[9]
[1] Vgl. Martha Doggett, Death Foretold. The Jesuits Murders in El Salvador. Georgetown University Press, Washington, D.C. 1993, 36 – 71 (Rekonstruktion des Hergangs des Massakers); 73 – 278 (Polizeiliche Untersuchungen und der Prozess).
[2] Vgl. Teresa Whitfield, Paying the Price. Ignacio Ellacuría and the Murdered Jesuits of El Salvador. Temple University Press, Philadelphia 1995, 203 – 352.
[3] Vgl. Ignacio Ellacuría, Solución politica o solución militar para El Salvador, in: ECA 36 (1981) 295 – 324.
[4] Nachdem die ARENA-Partei unter dem Präsidenten Alfredo Cristiani im März 1989 die Regierung von El Salvador übernommen hatte, nahm Ellacuría eine kritische Relektüre seiner, in der ECA seit 1969 veröffentlichten Beiträge über die politische und gesellschaftliche Lage El Salvadors vor, um sie später in einem Sammelband zu veröffentlichen. Diese Beiträge wurden posthum in drei Bänden veröffentlicht: Escritos políticos. UCA Editores, San Salvador 1991.
[5] Auch wenn diese Anschlussfähigkeit die gesamte Philosophie und Theologie Ellacurías prägt, wird sie prägnant in seinen Beiträgen zur Menschenrechtspolitik deutlich. Vgl. die Beiträge in: Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino, Fe y justicia. Desclée de Brouwer, Bilbao 1999.
[6] Vgl. u. a.: Juan Antonio Senent de Frutos, José Mora Galiana, Ed., Ignacio Ellacuría 20 años después. Actas del congreso internacional Sevilla, 26 a 28 de octubre 2009. Sevilla 2010.
[7] Vgl. Héctor Samour, voluntadde liberación. La filosofía de Ignacio Ellacuría. Editorial Comares, Granada 2003, 11 – 28 ; Francisco de Aquino Júnior, Theologie als Einsicht in die Gottesherrschaft. Die Methode der Befreiungstheologie nach Ignacio Ellacuría. Regensburg 2014, 163 – 169.
[8] Ignacio Ellacuría, Eine Kirche der Armen. Für ein prophetisches Christentum. Freiburg 2011, 63.
[9] Neben den „Escritos Políticos“ erschienen posthum noch folgende Publicationen: Escritos Univesitarios. 1 Band, 1999; Escritos Filosóficos. 3 Bände, 1996, 1999 und 2001; Escritos Teológicos. 4 Bände, 2000 und 2002; Filosofía de la realidad histórica. 1990. Seit neuestem liegen in deutscher Sprache der Sammelband „Eine Kirche der Armen. Für eine prophetisches Christentum“ (Freiburg 2011) und die Übersetzung von „Filosofia de la realidad histórica“ vor: Philosophie der geschichtlichen Realität. Aachen 2010. Beide Publikationen sind von Raúl Fornet-Ponse ins Deutsche übersetzt worden.