»Europa befindet sich in seiner wohl schwersten Krise seit 1945. Eine wachsende Zahl historisch versierter Zeitgenossen sieht sich bereits an die Lage vor 1933 erinnert.« (Claus Offe 2013)
Vergleiche mit der Zeit vor 1933 mögen als Überdramatisierung erscheinen und doch bringen sie die Lage in Europa auf den Punkt. Verlangte die Europäische Idee ursprünglich den Primat der Politik über die Ökonomie (Negt 2012), so wird in der realen Europäischen Union (EU) seit Langem das Gegenteil praktiziert. Die Vorherrschaft des Ökonomischen belastet den Integrationsprozess. Heute ist die EU ökonomisch und sozial tiefer gespalten, als sie es vor der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes und der Einführung des Euro war. Seit der globalen Krise von 2008/09 haben Länder wie Griechenland oder Spanien eine mehrjährige wirtschaftliche Schrumpfungsphase durchlaufen, Bevölkerungsmehrheiten leben in prekären Verhältnissen und selbst bei günstiger Konjunktur würde es mindestens zwei Jahrzehnte dauern, bis wirtschaftlich das Vorkrisenniveau erreicht wäre. Anders ist die Situation in Staaten, die als vorläufige Gewinner aus der Krise hervorgegangen sind. Vor allem das »deutsche Jobwunder« beeindruckt. »Deutschland«, so der italienische Politologe Angelo Bolaffi, »spielt heute in Europa eine hegemoniale Rolle […] im Sinne von Gramsci. Hier weiß man, was good governance ist. Deutschland ist das bessere Gesellschaftsmodell« (FR vom 23.02.2014).
Während Bolaffi in einer funktionierenden »Sozialpartnerschaft« von Kapital und Arbeit den wichtigsten Erfolgsgaranten sieht, setzen marktorthodoxe Ökonomen andere Akzente. Nach ihrer Auffassung haben die Agenda-2010-Politik und insbesondere die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder das Ende der alten Bundesrepublik eingeläutet. Die Reformen seien nötig gewesen, um die »deutsche Krankheit« überregulierter Arbeitsmärkte und ausufernder Sozialstaatlichkeit zu besiegen (Straubhaar 2012). Ist das »deutsche Jobwunder« also Resultat eines Bruchs mit dem Sozialkapitalismus der alten Bundesrepublik? Oder hat die Kontinuität einer sozialpartnerschaftlichen Tradition für moderate Anpassungen an die veränderten Rahmenbedingungen gesorgt und so zum Aufstieg Deutschlands in Europa beigetragen? Der nachfolgende Beitrag stimmt keiner der beiden Deutungen zu; er begründet eine andere Sicht der Dinge. Ein nicht ausschließlich, aber auch auf sozialer Teilhabe beruhender gesellschaftlicher Integrationsmodus ist, so die These, zum Objekt einer inneren Landnahme geworden. Die schöpferische Zerstörung des Sozialkapitalismus blieb jedoch unvollständig. Über konkurrierende politische Projekte und in gewisser Weise zufällig wurde sie bis zu einem Punkt getrieben, an dem sich die Überreste wohlfahrtsstaatlicher Arrangements noch als robust genug erwiesen, um die Krise einigermaßen erfolgreich zu managen. Im Ergebnis ist jedoch keine erneuerte soziale Marktwirtschaft (Müller-Jentsch 2011) entstanden, die Europa und der Welt als Vorbild dienen könnte. Herausgebildet hat sich eine hoch selektive Wettbewerbsgesellschaft, die Sozialeigentum nur noch gewährt, um Gefolgschaft im Inneren mit einer »halbhegemonialen« (Habermas 2014: 85-94) Dominanzpolitik im europäischen Raum zu verbinden. Um diese These zu begründen, werden zunächst der Krisenverlauf rekonstruiert (1) und der Motor kapitalistischer Landnahmen analysiert (2). Es folgt eine Beschreibung jener inneren Landnahme, die den Aufstieg eines Kapitalismusmodells bewirkt, dessen Dominanz die Spaltung Europas forciert (3) und daher die Frage nach grundlegenden Alternativen aufwirft (4).
1. Der Krisenverlauf
Beginnen wir mit dem Krisenverlauf. Zu den beeindruckendsten ideologischen Leistungen kapitalistischer Eliten gehört die erfolgreiche Umdeutung der globalen Finanz- in eine vorwiegend hausgemachte Schuldenkrise europäischer Staaten. Als Verursacher der Fiskalkrise gelten dem marktradikalen Mantra Länder der süd- und osteuropäischen Peripherie, die »durch den billigen Kredit, den der Euro brachte, zu teuer geworden« seien, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können (Sinn 2013: 103). Die Behauptung, die Bevölkerungen der Krisenländer hätten über ihre Verhältnisse gelebt und so die Verwerfungen ausgelöst, setzt indessen auf Gedächtnisverlust, denn sie blendet den Einfluss des globalen Crashs an den Finanzmärkten auf die europäischen Ereignisse schlichtweg aus.
Blicken wir zurück. Es war eine US-amerikanische Immobilienkrise, die binnen kürzester Zeit den Zusammenbruch des globalen Finanzsystems auslöste. Die Krisengeschichte hatte, zunächst fast unbemerkt, mit insolventen Hausbesitzern aus der Arbeiterschaft begonnen. Aufmerksamkeit erregten die Privatinsolvenzen jedoch erst, als Angehörige der Mittelklassen betroffen waren. Banken hatten die unkalkulierbaren Risiken von Immobilienkrediten, die an flexible Zinssätze gekoppelt waren, mittels Verbriefung, das heißt über eine Kombination von hohen mit scheinbar geringeren Risiken, breit gestreut. Diese vermeintliche Demokratisierung von Risiken erwies sich als Achillesferse des globalen Finanzsystems. Faule Kredite, die von zahlungsunfähigen Hausbesitzern nicht mehr bedient werden konnten, mündeten in die Pleite von Lehmann-Brothers und lösten schließlich eine Bankenkrise aus, die sich nicht mehr auf die USA begrenzen ließ. Erfasst wurden Kreditinstitute und Finanzmarktunternehmen, die, wie zum Beispiel deutsche Landesbanken, über Zweckgesellschaften am Immobilienboom partizipieren wollten. Der Vertrauensverlust im Bankensystem brachte das Interbankengeschäft und die Kreditvergabe faktisch zum Erliegen, Bankenkrise und Kreditklemme wiederum bewirkten einen globalen Flächenbrand, der zeitverzögert auch die sogenannte Realökonomie (besser: Produktionsökonomie ohne Finanzsektor) erreichte. Dabei traf eine nunmehr alles überwölbende Krisenkonstellation auf nationale Ökonomien mit endogenen Schwächen und Ungleichgewichten. Als die Weltwirtschaft ab 2010 auf einen Wachstumspfad zurückkehrte, blieben zahlreiche regionale und nationale Krisenherde zurück, die mit je besonderen Wachstumsmodellen, Formen des Krisenmanagements und Antikrisenprotesten korrespondierten.
Besonders heftig hatte sich die Krise zunächst in jenen Ländern ausgewirkt, die – wie die USA, England oder Spanien – seit den 1990er Jahren mit einer Art Bastard-Keynesianismus versucht hatten, stagnierende Löhne durch billige Immobilienkredite zu kompensieren. Im spanischen Fall wurde der Krisenverlauf wesentlich vom Niedergang des spekulationsgetriebenen Wachstums im Bausektor beeinflusst. Baltische Staaten wie Lettland, die als Musterknaben für neoliberale Reformen gegolten hatten, waren wegen der Bankenkrise nicht mehr in der Lage, Staatskredite umzuschulden und gerieten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit, was die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen ließ (Leschke et al. 2014: 243-272). Wieder anders verlief die Krise in exportstarken Ländern. Deutschland, das 2009 ein Rekord-Negativwachstum von -4,7 Prozent des BIP verzeichnete, wurde vom Wegbrechen der Auslandsnachfrage in die Rezession getrieben (Deutsche Bank 2013). Rohstoff exportierende Länder, darunter Russland, sahen sich wegen des weltweiten Einbruchs der industriellen Produktion mit fallenden Weltmarktpreisen konfrontiert. Und selbst die großen Flächenstaaten China und Indien, die nicht vollständig in das globale Finanzsystem integriert waren, entgingen dem Krisenstrudel nicht; aufgrund geringer Auslandsnachfrage verlor allein China binnen kürzester Zeit 20 Millionen Jobs (Stiglitz 2010: 9).
Entgegen der Behauptung, der Zusammenbruch an den Finanzmärkten habe sich primär auf Vermögensbesitzer ausgewirkt, wurden die Ärmsten der Armen, unter ihnen überproportional viele Frauen (Karamessini/Rubery 2013), von den Krisenfolgen besonders hart getroffen. In Mexiko, Ecuador oder Haiti, wo ganze Bevölkerungsschichten von den Überweisungen ausgewanderter Arbeitskräfte abhängig sind, bedingte die Entlassung von Bauarbeitern oder Hausbediensteten Unterernährung und Hungertote. Obwohl die Weltwirtschaft 2010 um durchschnittlich fünf Prozent und 2011 noch einmal um vier Prozent gewachsen ist, waren 2011 offiziell noch immer 197 Millionen und damit 27 Millionen Menschen mehr arbeitslos als vor der Krise; 900 Millionen Menschen lebten laut ILO unter der absoluten Armutsschwelle von zwei US-Dollar pro Tag. Mit anderen Worten: »Die Krise kaskadierte von einem Wirtschaftszweig zum nächsten und von einem geografischen Ort zum anderen, wobei alle möglichen indirekten Auswirkungen und Rückkoppelungseffekte im Spiel waren, die zu kontrollieren oder gar aufzuhalten und umzukehren schier unmöglich zu sein schien« (Harvey 2014: 41).
In der Eurozone trafen die Auswirkungen des Crashs auf ein zerbrechliches suprastaatliches Gebilde, das Länder mit stark differierender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit in einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit Gemeinschaftswährung integrierte. Die Europäische Union hatte es Regierungen ermöglicht, auf der suprastaatlichen Ebene Handlungszwänge zu implementieren, die dann in Gestalt marktzentrierter Politiken national als vermeintliche Sachzwänge exekutiert werden konnten. Währungsunion und Euro bedeuteten die Vollendung dieses Projekts. Sie haben den Staaten der Eurozone die Möglichkeit genommen, Wettbewerbsdefizite mittels Abwertung ihrer nationalen Währung wenigstens auf Zeit auszugleichen. Daher bleibt den schwächeren Ökonomien als Instrument nur noch die »innere Abwertung« (Streeck 2013: 237), sprich: der ständige Druck auf Löhne, kollektive Sicherungssysteme und soziale Standards. Die globale Finanzkrise hatte ihren Tiefpunkt bereits überschritten, als diese fragile europäische Konstellation ihr eigenes Krisenpotential entfaltete. Die Ereigniskette begann in Griechenland. Dort hatte die globale Finanzkrise die strukturellen Grenzen eines nationalen Wirtschaftsmodells sichtbar gemacht, das die seitens der EU forcierte Freisetzung von Arbeitskräften aus dem traditionalen, agrarisch-handwerklich geprägten Sektor durch die Ausweitung von Staatsbeschäftigung zu kompensieren suchte (Steinko 2013: 140-155). Korrupte Eliten und ein ineffizientes Steuersystem hatten schon vor der Krise zu einer Schieflage des Staatshaushaltes beigetragen. Als das Staatsdefizit 2009 statt der erwarteten sechs Prozent auf zwölf Prozent anstieg, verlangten Investoren, die griechische Schuldscheine zuvor kaum anders behandelt hatten als deutsche Staatsanleihen, höhere Zinsen. Die Banken reagierten mit geradezu panikartigen Versuchen, griechische Wertpapiere zu verkaufen. Angesichts des Wertverfalls und der Zinssteigerungen war der griechische Staat nicht mehr in der Lage, den Schuldendienst aus eigener Kraft zu meistern.
Griechenland blieb nicht allein. Innerhalb ihres Teilsystems völlig rational, suchten Ratingagenturen, Anleger und Spekulanten nach weiteren Wackelkandidaten innerhalb der Eurozone. Diese waren unter anderem mit Irland, Island, Italien, Portugal und Spanien rasch gefunden. Erst das Versprechen der Europäischen Zentralbank, praktisch unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, gebot dem spekulativen Treiben Einhalt. Doch die strukturellen Finanzprobleme der Krisenstaaten blieben. In ihrem Bestreben, systemrelevanten Kreditinstituten das Überleben zu sichern, hatten die europäischen Staaten teilweise dramatische Neuverschuldungen in Kauf genommen. Für die kostspieligen Rettungsmaßnahmen, die sie über Kredite finanzierten, wurde ihnen anschließend von genau jenen Finanzmarktunternehmen, die im Angesicht der Krise lauthals nach Staatsintervention gerufen hatten, die Rechnung präsentiert. Die Misstrauenserklärungen der Finanzmärkte bestraften vor allem die Nehmerländer von Finanzhilfen in Süd- und Osteuropa mit sinkender Kreditwürdigkeit und steigenden Zinsen. Auf diese Weise wurde die griechische Krise zur Geburtshelferin des europäischen Konsolidierungsregimes. Aufgrund der fiskalpolitischen Gegenmaßnahmen hat sich, so Wolfgang Streecks großartige Krisenanalyse, ein europäischer »Konsolidierungsstaat« herausgebildet, der Schuldenabbau und Haushaltsdisziplin oberste Priorität einräumt. Das Verhältnis von europäischem Staatensystem und kapitalistischer Ökonomie wird neu formiert – und zwar gänzlich »ohne Betäubung« (Streeck 2013: 166).
2. Kapitalistische Landnahme und das Überschuss-Absorptionsproblem
Als die Auswirkungen der Krise den deutschen Sozialkapitalismus trafen, war dessen schöpferische Zerstörung längst im Gange. Wir haben diesen Prozess an anderer Stelle als kapitalistische Landnahme des Sozialen beschrieben (Dörre 2009, 2012). Landnahme ist als Kategorie für Theorien zentral, die den industriellen Kapitalismus als expansives System analysieren und kritisieren. Ungeachtet ihrer sonstigen Heterogenität teilen entsprechende Konzepte die Annahme, dass kapitalistische Gesellschaften sich nicht ausschließlich aus sich selbst heraus reproduzieren. Kapitalistische Entwicklung vollzieht sich als komplexe Innen-Außen-Bewegung. Stets beinhaltet sie die Internalisierung von Externem, die Okkupation eines nicht oder nicht vollständig kommodifizierten Anderen.
In der (west-)deutschen Arbeitssoziologie hat zuerst Burkart Lutz Landnahme als eine Schlüsselkategorie genutzt, um die nachlassende Prosperität des Sozialkapitalismus zu erklären. Gegen ein modernisierungstheoretisches Kontinuitätsparadigma gerichtet argumentierte Lutz, die Entwicklung industrieller Gesellschaften folge keinem natürlichen Wachstumspfad, sondern durchlaufe immer wieder Phasen der Stagnation und der Krise. Jeder Wachstumsschub beruhe auf einer Durchsetzung neuer Strukturparameter und lasse sich »als eine Phase je spezifischer Landnahme durch den expandierenden industriell-marktwirtschaftlichen Teil der Volks- und Weltwirtschaft beschreiben« (Lutz 1984: 62). In dieser Verwendung ist »Land« ein Synonym für »nichtkapitalistische Milieus« (Luxemburg 1975 [1913]: 303, 314). Als Protagonisten von Landnahmen agieren dominante Klassenfraktionen, große Unternehmen und der Staat. Über soziale Konflikte mit Repräsentationen kapitalloser Gruppen und Klassen vermittelt, betreiben sie die Durchsetzung neuer Strukturparameter. Präziser: Sie sind bemüht, die kapitalistische social order, den hegemonialen »kapitalistischen Geist« (Boltanski/Chiapello 2003), so anzupassen, dass halbwegs kohärente Beziehungen zwischen Regulationsweise, Produktionsmodell und Akkumulationsregime wirtschaftliches Wachstum ermöglichen.
Betrachten wir den sozioökonomischen Wirkungsmechanismus etwas genauer. Ökonomische Krisen sind im Kapitalismus zunächst nichts anderes als Störungen des Kapitalflusses. Geld wird fortwährend mit dem Ziel investiert, mehr Geld zum Investor zurückfließen zu lassen. Insofern ist der Kapitalismus »nichts, wenn er nicht in Bewegung ist« (Harvey 2011: 23). Allerdings stößt der Kapitalfluss fortwährend auf selbsterzeugte Grenzen. Kapitalistische Gesellschaften beziehen ihre Dynamik wesentlich aus der Fähigkeit, absolute Grenzen der Akkumulation in überwindbare Barrieren zu verwandeln (ebd.: 373). Schranken der Akkumulation können während jeder Phase (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) auftreten, die das Kapital im Zuge seiner erweiterten Reproduktion durchläuft, und jede dieser Störungen kann »den kontinuierlichen Fluss des Kapitals verlangsamen und unterbrechen und damit eine Entwertungskrise auslösen« (ebd.: 372 f.). Potentielle Krisenursachen sind ungenügendes Startkapital für kapitalintensive Innovationen, Arbeitskräfteknappheit, Disproportionalitäten zwischen wirtschaftlichen Sektoren, Knappheit an natürlichen Ressourcen oder andere ökologische Verwerfungen, wirtschaftliche Ungleichgewichte durch rasche organisatorische und technologische Veränderungen, Arbeiterwiderstand, Unterkonsumtion oder auch Ungleichgewichte, die im Geld- und Finanzsystem ihren Ursprung haben (Harvey 2014: 52).
Jede ökonomische Krise ist in Ursachen und Verlauf einmalig. Kleinere Krisen, die im Konjunkturzyklus alle sieben, acht Jahre auftreten, müssen jedoch, ebenso wie zahlreiche andere Störungen des Kapitalflusses, systematisch von einem Krisentyp unterschieden werden, dessen Entfaltung das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Regulationen berührt. In der Entwicklungsgeschichte des deutschen Sozialkapitalismus können die Große Depression (1873-1895), die Große Weltwirtschaftskrise (1929-1932) und die Neue Depression (1973-1974) als »große Krisen« kapitalistischer Akkumulation bezeichnet werden (Priewe 1985: 9-50). Wie im Falle der Großen Depression halten solche Krisen mitunter lange Zeit an. Unabhängig von ihrer Dauer gilt für diesen Krisentypus jedoch, dass die zentralen Akteurs-Institutionen-Netzwerke (Staat-Finanzwelt-Nexus; Staat-Unternehmens-Nexus, Staat-Arbeit-Nexus) ihre Regulationsfunktion nicht mehr erfüllen können. Die Störungen des Kapitalflusses verweisen auf eine zunehmende Inkompatibilität ökonomischer Sektoren und gesellschaftlicher Teilsysteme. »Große Krisen« sind daher immer auch Krisen von Produktionsmodellen, Reproduktionsweisen, Wohlfahrtsstaaten und – soweit vorhanden – demokratischen Institutionen. Sie dienen dazu, einen zunehmend dysfunktionalen alten durch einen neuen Modus operandi kapitalistischer Landnahmen zu ersetzen, um auf diese Weise Wachstum zu erzeugen.
In einem Teil der politökonomischen Literatur werden die Perioden zwischen »großen Krisen« als lange Wellen kapitalistischer Akkumulation interpretiert. Solche Perioden lassen sich jedoch allenfalls ex post rekonstruieren. Es existiert kein endogener Mechanismus, der lange Wellen »gesetzmäßig« erzeugen könnte (Harvey 2014: 99). Allerdings finden in »großen Krisen« grundlegende Richtungsentscheidungen statt. Trotz historischer Singularität offenbart sich in jeder ökonomischen Krise aber eine gemeinsame Grundproblematik, die David Harvey als Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem (Harvey 2014: 32) bezeichnet. Diese Problematik besteht vereinfacht gesagt darin, dass für eine kapitalistische Ökonomie, die während einer Produktionsperiode um durchschnittlich drei Prozent wächst, in der nachfolgenden Periode absorptionsfähige Märkte geschaffen werden müssen, was ohne markterweiternde Investitionen nicht möglich ist. Daher gilt als Faustformel: drei Prozent Wachstum erzwingen drei Prozent zusätzliche Investitionen, um kapitalistische Gesellschaften mittels innovationsgetriebener Marktexpansion dynamisch zu stabilisieren. Je höher das Reichtumsniveau von Gesellschaften und je größer das Wachstum, desto schwerer wird es jedoch, neue Märkte im erforderlichen Umfang zu erschließen. Dieses Kapitalüberschuss-Absorbtionsproblem ist die zentrale ökonomische Triebkraft hinter kapitalistischen Landnahmen. Das Streben nach immer neuen Lösungen für das Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem erklärt, weshalb der Akkumulationsprozess des Kapitals, »die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte des Erdrunds«, über »alle Produktivkräfte der Erde« benötigt, soweit diese in den Schranken der Mehrwertproduktion mobil zu machen sind (Luxemburg 1975 [1913]: 312).
3. Was verbirgt sich hinter dem »deutschen Jobwunder«?
Ökonomische Krisen, so lässt sich festhalten, resultieren aus Grenzen kapitalistischer Akkumulation, die überwunden, zeitlich verschoben und räumlich verlagert werden, um schließlich an neue Grenzen zu stoßen. Nimmt man die Zeitspanne zwischen der Neuen Depression der 1970er Jahre und der globalen Krise von 2008/09, so zeichnet sich als grobes Muster für die kapitalistischen Zentren eine gleichgerichtete Bewegung ab. Bei der Neuen Depression handelte es sich zumindest in der Wahrnehmung kapitalistischer Eliten um eine Profitklemmen-Krise, die, durch relative Arbeitskräfteknappheit und wachsende Lohnabhängigenmacht verursacht, die Unternehmensgewinne schmälerte. Vom Wegfall der Blockkonfrontation zusätzlich begünstigt, motivierte diese Grenze dominante kapitalistische Akteure zu Weichenstellungen für innere Landnahmen, die den Wohlfahrtsstaat und die von ihm geschützten Sektoren als ein Außen betrachteten, das es zu okkupieren galt. Eine Vielzahl unterschiedlicher Kommodifizierungspolitiken setzte an marktbegrenzenden Institutionen und Organisationen an, beschnitt das kollektive Sozialeigentum besitzloser Klassen und schwächte die organisationsgebundene wie auch die institutionelle Macht von Lohnabhängigen. Im Ergebnis erzeugten (Re-)Kommodifizierungspolitiken, Niedergang von Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen, sinkende Löhne und die Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse jedoch neue Schranken der Akkumulation. Steigende Produktivität und größerer Output an Gütern und Dienstleistungen stießen »auf das Problem der fehlenden Nachfrage« (Harvey 2014: 24). Diese neue Grenze ließ sich durch die Expansion des Finanzsektors zeitlich verschieben, über transnationale Produktionsnetzwerke räumlich verlagern und mittels Ausweitung des Kreditsystems auf einkommensschwache Gruppen vorübergehend überwinden. Das jedoch um den Preis einer allmählichen Verdichtung struktureller Widersprüche, die schließlich im Finanzsektor eskalierten. Die Krise von 2008/09 hatte ihr Epizentrum in der Organisation eines deregulierten Finanzsektors, der auch deshalb nicht mehr zu kontrollieren war, weil er an den Immobilienmärkten über die Kreditvergabe sowohl das Angebot als auch die Nachfrage steuerte (Kredite sowohl an Baufirmen als auch an einkommensschwache Hauseigentümer). Die eigentlichen strukturellen Ursachen der großen Kontraktion von 2008/09 sind jedoch geschwächte Lohnabhängigenmacht und zunehmende vertikale Ungleichheiten (ebd.: 118).
In Deutschland nahmen diese Grenzverschiebungen einen besonderen Verlauf. Eine Vielzahl molekularer Veränderungen vor allem in exportorientierten Unternehmen und eine Serie marktaffiner Reformen haben in der Summe einen Modellwechsel bewirkt (Streeck 2009, Dörre 2009: 21-86). Das verdeutlicht ein Blick hinter die schöne Fassade des »deutschen Jobwunders«, das sich bei genauerer Betrachtung als Übergang zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft erweist. Für eine solche Interpretation spricht eine ganze Reihe von Argumenten. Zur Legendenbildung um die vermeintliche Überlegenheit des German Capitalism hat (1) die Behauptung beigetragen, die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder hätten neue Erwerbsarbeit geschaffen. Das ist definitiv falsch. Die Erwerbsstatistik belegt, dass das Volumen an geleisteten und bezahlten Arbeitsstunden zwischen 1991 und 2013 durchschnittlich um mehr als zehn Prozent gesunken ist (IAB 2014). Selbst nach der Krise von 2008/09 ist die Zahl der Erwerbstätigen zunächst rascher gestiegen, als das Volumen an geleisteten Arbeitsstunden. Dies wäre an sich kein Problem, sofern das Absinken des Arbeitsvolumens mit einer egalitären Arbeitszeitverkürzung und einem Lohnausgleich einherginge. Das ist jedoch nicht der Fall. Stattdessen wird das vorhandene Arbeitsvolumen nicht nur auf immer mehr Erwerbspersonen, sondern vor allem asymmetrisch verteilt. Der Beschäftigungsaufbau erfolgt nicht ausschließlich, aber doch in hohem Maße über eine Integration vor allem von Frauen und jüngeren Alterskohorten in prekäre Jobs.
Dieser Trend könnte sich aufgrund der günstigen Konjunktur 2014 etwas abschwächen. Prognostiziert wird eine Steigerung des Gesamtarbeitsvolumens auf 58,78 Milliarden Stunden (Höchststand seit 1991, IAB 2014); das Jahresarbeitsvolumen pro Erwerbstätigem soll auf durchschnittlich 1.395 Stunden und damit um 0,5 Stunden gegenüber dem Vorjahr zunehmen. Daraus jedoch bereits auf eine Trendumkehr zu schließen, ist mehr als vermessen. An der asymmetrischen Verteilung des Arbeitsvolumens hat sich nichts Grundlegendes geändert. Während Minijobber real durchschnittlich nur zwölf Wochenstunden arbeiten, obwohl sie eher 20 Stunden erwerbstätig sein möchten, sind für qualifizierte Angestellte 50, 60 und mehr Wochenstunden keine Seltenheit. Arbeitszeiten und Arbeitsverteilung sind in einem hohen Maße polarisiert. Ein Arbeitsvolumen, das nach einer langen Schrumpfungsphase im Jahr 2014 noch immer nicht das Niveau von 1991 erreicht hat und das zudem in ungleicher Weise auf eine Rekordzahl von Erwerbstätigen (im ersten Quartal 2014 lag die Zahl der abhängig Beschäftigten um 2,7 Millionen über dem Beschäftigungsniveau im dritten Quartal des Jahres 1992) verteilt wird, verweist auf eine Arbeitsmarktintegration mittels nicht-standardisierter und häufig prekärer Beschäftigung.
Das vermeintliche »Jobwunder« beruht in hohem Maße auf einer Wiederkehr »unwürdiger«, weil gesellschaftlich missachteter Erwerbsarbeit. Die feudalen Gesellschaften des 15. bis 18. Jahrhunderts ließen Bettler und Vagabunden die disziplinierende Gewalt von Zünften und der Armenpolizei spüren. Die Freisetzung aus der hierarchischen Ordnung, wie sie sich im Übergang zur industriell-kapitalistischen Produktionsweise vollzog, bedeutete für die Betroffenen häufig Zwangsverarmung. Die Gewalt der zerfallenden feudalen Ordnung richtete sich gegen potenzielle Lohnarbeiter. Es entstand Lohnarbeit, deren Nützlichkeit anerkannt wurde, ohne dass dies mit gesellschaftlicher Wertschätzung verbunden war. Im Zuge der Freisetzung von Lohnabhängigen und ihrer Familien aus wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen ist es, auch in Deutschland, auf einem völlig anderen gesellschaftlichen Reichtums- und Sicherheitsniveau zu einer Wiederkehr dieses Phänomens gekommen. Die prekarisierten Gruppen der postwohlfahrtsstaatlichen Ära sind die »Vagabunden« des 21. Jahrhunderts (Castel 2011: 68). Sie sehen sich mit einem historisch neuen Typus diskriminierender Prekarität konfrontiert, der zunehmend auch jene Bevölkerungsteile erfasst, die zuvor zu den Gesicherten zählten.
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung konstituiert die Prekarisierung (2) eine Hierarchie, in der diejenigen, die in den schwierigsten Verhältnissen leben und die zugleich über die geringsten Machtressourcen verfügen, sich als Angehörige minoritärer Gruppen erleben, deren alltägliche Lebenspraxis von den Standards der »Mehrheitsgesellschaft« abweicht. Dieser Sonderstatus wird auch über Geschlecht, Nationalität und Ethnie konstruiert; er stellt jedoch etwas Eigenes dar. Immer scheint es, als lasse sich die nächste Stufe in der sozialen Hierarchie, die ein wenig Mehr an »Normalität« verspricht, durch eigene Anstrengung erklimmen. Prekarität in den reichen bundesdeutschen Gesellschaften ist daher nicht nur eine soziale Lage oder eine vorübergehende Pathologie. Es handelt sich um ein Kontroll- und Disziplinierungsregime, das die Arbeitsgesellschaften insgesamt verändert. Hinter der Fassade einer vermeintlichen Rekorderwerbsbeteiligung ist Prekarität zu einer »normalen« Organisationsform der Arbeit mit ihren eigenen Merkmalen und Existenzformen« geworden (Castel 2011: 136). Diese Organisationsform bringt offiziell registrierte Arbeitslosigkeit zum Verschwinden, indem sie Erwerbslose in unsichere, instabile Beschäftigungsverhältnisse integriert. »Hartz IV« entfaltet dabei eine ähnliche Wirkung wie die Armenhäuser und die Zwangsmaßnahmen in der zerfallenden Feudalordnung. Leistungsbezieher der Grundsicherungen gehören in Deutschland zu den »neuen Vagabunden«, denen mit dem Sozialbürgerstatus zugleich ihre Würde genommen wird (Dörre/Scherschel/Booth et al. 2013).
Prekäre Beschäftigung mit einem Niedriglohnsektor im Zentrum, der bis zu 23 Prozent der Beschäftigten umfasst und sich durch eine enorme Lohnspreizung und geringe Aufwärtsmobilität auszeichnet, hängen (3) wie ein Bleigewicht an den Löhnen und Gehältern abhängig Beschäftigter. Eine Folge ist, dass die Ungleichheit zwischen kapitalbesitzenden und kapitallosen Klassen zunimmt. Verdienten Dax-Manager in Deutschland 1987 wie auch noch Mitte der 1990er Jahre in etwa das 14-Fache der im gleichen Unternehmen beschäftigten Arbeiter und Angestellten, lag die Relation zu Beginn der 2000er Jahre schon beim 24-Fachen, um danach auf das 54-Fache anzusteigen (Schwalbach 2011). Demgegenüber hat es bei den Nettolöhnen zwischen 2000 und 2010 mit Ausnahme des obersten Zehntels der Lohnbezieher Einbußen gegeben; die Reallöhne sind allein seit der Jahrtausendwende um durchschnittlich rund vier Prozent gesunken. Erst in jüngster Zeit ist es den Gewerkschaften gelungen, die Produktivitätsspielräume wieder auszuschöpfen. Die schon immer ungleiche Verteilung der Vermögen hat im Zeitverlauf ebenfalls weiter zugenommen. Das obere Zehntel der Haushalte verfügt über mehr als 50 Prozent der Vermögenseinkünfte, während die unteren 50 Prozent der Haushalte nur gut ein Prozent der Nettovermögen, also so gut wie nichts besitzen (Lebenslagen 2012: IX). Noch größer ist die Schieflage, wenn man nur das oberste Prozent der Vermögensbesitzer betrachtet. Neuere Berechnungen, die die Forbes-Liste mit Umfragedaten kombinieren, gehen davon aus, dass allein das oberste Prozent der Haushalte über 32 Prozent der Vermögen verfügt (Vermeulen 2014; der Vergleichswert in den USA liegt bei 35 Prozent).
Die Ausprägung klassenspezifischer Ungleichheiten verleiht (4) dem Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem zusätzlich Brisanz. Die Konzentration von Reichtum in den Händen weniger bedeutet, dass der angeeignete Überschuss schwer zu reinvestieren ist, das auch, weil dem individuellen kapitalistischen Konsum physische Grenzen gesetzt sind. Angesicht von Überkapazitäten und begrenzten Gewinnmöglichkeiten in der Produktionsökonomie bleiben riskante Anlagen im Finanzsektor für die Vermögensbesitzer attraktiv. Zugleich bedeutet die Anhäufung von Geld als universeller Form des Reichtums eine Akkumulation sozialer Macht, die sich für politisches Lobbying nutzen lässt. Das zeigt sich unter anderem in der Steuerpolitik. Um den Zufluss von liquidem Kapital zu sichern, werden Regierungen zu Steuerentlastungen für Vermögende genötigt. Auch in Deutschland macht sich seit Jahren eine nach oben umverteilende Wirkung des Steuersystems bemerkbar. Die Polarisierung der Einkommen fällt nach Steuern schärfer aus als beim Bruttoverdienst. Verantwortlich sind nicht zuletzt die Steuerentlastungs- und Steuersenkungsgesetze der Jahre von 1998 bis 2005. Die Steuerlast allein der 450 reichsten Deutschen hat sich dadurch von gut 43 auf 31 Prozent verringert. Die Belastung der reichsten Deutschen mit einem Durchschnittseinkommen von 174 Millionen Euro fiel gar von 48,2 auf 27,7 Prozent. Eine Folge ist, dass staatliche Aufgaben sukzessive über die Privatisierung öffentlichen Vermögens und über Kreditaufnahme finanziert werden müssen. Der Entwurf zum 4. Armut-Reichtums-Bericht deutet die Folgen an: Während die privaten Vermögen wachsen und ihre Konzentration zunimmt, werden öffentliche Vermögenswerte »abgeschmolzen«. So nahm das staatliche Nettovermögen zwischen 1992 und 2009 um 700 Mrd. ab, zugleich hat sich das Nettovermögen privater Haushalte von 4,6 auf zehn Billionen Euro nahezu verdoppelt.
Von dieser Konstellation profitiert die finanzkapitalistische Dienstklasse gleich doppelt. Denn einerseits verschuldet sich der Staat bei steuerlich entlasteten, privaten Vermögensbesitzern, denen er andererseits, wie 2008/09 geschehen, im Krisenfall auf Kosten der weniger vermögenden Steuerzahler beispringt, um die großen Vermögenswerte, die die Kreditinstitute sammeln, wegen ihrer vermeintlichen Systemrelevanz zu schützen. Die so betriebene risikolose Vermögens- und Reichtumsmehrung war eine wesentliche Ursache für den Crash von 2008/09 und das damit verbundene soziale Desaster. Die weitgehend unangetastete gesellschaftliche Position von Klassen(fraktionen), die an der Geldmacht partizipieren, sorgt dafür, dass die Krisenherde im Finanzsektor fortbestehen.
Wenn überhaupt von einem Erfolg des German Capitalism gesprochen werden kann, so gilt das (5) für die Konsolidierung des industriellen Sektors. Mit einem Anteil von 30,5 Prozent an der Bruttowertschöpfung der Europäischen Union ist Deutschland mit Abstand die wichtigste europäische Industrienation. Während der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung seit der Jahrtausendwende in allen anderen EU-Staaten rückläufig ist, hat er in Deutschland leicht (um 0,1 Prozent ) zugenommen. Zusammen mit Österreich ist Deutschland das einzige EU-Land, in dem die Industriebeschäftigung nach 2008 um rund sechs Prozent gestiegen ist (Deutsche Bank 2013: 6). Herzstück des Industriesektors sind der Maschinenbau und die Automobilindustrie (2011 jeweils ca. 16 Prozent an der industriellen Bruttowertschöpfung). Beide Branchen zeichnen sich durch ihren hohen Exportanteil (2012: 62 Prozent und 64 Prozent) aus. Viele Unternehmen der genannten Branchen können auf eine lange Tradition zurückblicken. Sie kooperieren eng mit etablierten Zuliefernetzen, Ausrüstern und Forschungseinrichtungen und sind trotz ihres häufig mittelständischen Charakters und ihrer von Familien geprägten Eigentümerstrukturen international gut positioniert. Zur Stabilität des industriellen Sektors trägt bei, dass die Exportbranchen besonders gut auf die wachsende Nachfrage aus Asien und insbesondere aus China eingestellt sind. Produkte deutscher Unternehmen werden für den wirtschaftlichen Aufholprozess benötigt oder von einer rasch wachsenden Mittelschicht dieser Länder nachgefragt. Aus diesem Grund ist es gelungen, »die industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu steigern, obwohl es im Exportsektor nach wie vor ein Hochlohnstandort ist« (ebd.: 7). Erfolgreich ist die deutsche Wirtschaft somit vor allem dort, wo die diversifizierte Qualitätsproduktion noch einigermaßen funktioniert. Während die Beschäftigten in anderen Sektoren überdurchschnittliche Einbußen hinnehmen mussten, ist es in der industriellen Exportwirtschaft gelungen, die effektiven Löhne zumindest zu halten oder gar zu steigern (Hauptmann/Schmerer 2012). Dieses »Industriemodell« lässt sich aber nicht auf andere Länder übertragen. Es funktioniert aufgrund lange gewachsener Kooperationsbeziehungen und nicht nur trotz, sondern wegen vergleichsweise hoher Löhne, die den Stammbelegschaften noch immer gezahlt werden.
Dass es (6) während der großen Krise von 2008/09 gelungen ist, diesen industriellen Sektor zu erhalten, ist das Resultat eines Krisenmanagements, das – unter maßgeblichem Einfluss der Industriegewerkschaften – faktisch eine Abkehr von der Agenda-Politik der Regierung Schröder und eine Rückkehr zur Industriepolitik und zu beschäftigungspolitischen Maßnahmen aus den 1980er und 1990er Jahren bedeutete. Staatlich finanzierte Langzeitkurzarbeit und Prämien für das »Abwracken« älterer Pkw sorgten dafür, dass die Beschäftigung während der Krise nicht dramatisch einbrach. Vielfach bedurfte es konfliktfähiger Betriebsräte und Gewerkschaften, um sicherzustellen, dass beschäftigungssichernde Maßnahmen auf der Betriebsebene auch realisiert wurden (Schmalz/Dörre 2013). Allerdings war dieser Krisenkorporatismus nicht überall und gleichermaßen erfolgreich. Das Krisenmanagement hat den Industriegewerkschaften zu neuer gesellschaftlicher Anerkennung verholfen und ihnen neue Mitglieder beschert. Wirksam war es vor allem für Stammbeschäftigte in Exportbranchen. In schwächer organisierten Dienstleistungsbereichen mit hohen Frauenanteilen ließ sich Vergleichbares nicht durchsetzen. Das erfolgreiche Krisenmanagement hat die Machtasymmetrien am Arbeitsmarkt daher nicht grundlegend zugunsten »schwacher Interessen« und prekär Beschäftigter korrigieren können.
In diesem Zusammenhang ist es (7) wichtig, auf einen zentralen Schwachpunkt des deutschen Wirtschaftsmodells zu verweisen. Die Förderung des exportorientierten Industriesektors ist in Deutschland traditionell mit einer Geringschätzung und Abwertung von Humandienstleistungen und reproduktiven Tätigkeiten verbunden. Den exportstarken Branchen mit hohen Anteilen an qualifizierten Beschäftigten im Hochtechnologiebereich steht ein expandierender Sektor mit niedrig entlohnten, instabilen und häufig wenig anerkannten Dienstleistungstätigkeiten gegenüber, dessen Arbeitsproduktivität nach herkömmlichen Maßstäben hinter der des industriellen Sektors zurückbleibt. Zugleich verschiebt sich, an Beschäftigungsverhältnissen gemessen, das Gewicht zwischen den Branchen. Allein in der stark expandierenden Sozialwirtschaft, deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung innerhalb eines Jahrzehnts von 4,5 Prozent auf 6,2 Prozent gestiegen ist, arbeiten rund 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In den Bereichen Altenpflege, Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe sind damit ebenso viele Menschen tätig wie im Maschinen- und Fahrzeugbau, dem industriellen Herzstück der deutschen Wirtschaft. Daran zeigt sich: In Relation zu den hochproduktiven Exportbranchen nimmt das Gewicht des weniger produktiven, aber beschäftigungsintensiven Sektors mit bezahlten Sorgearbeiten (gemeint sind alle Tätigkeiten, die der »Herstellung von Arbeitskraft« dienen) zu. Aus der Exportperspektive erscheint das zumindest einzelwirtschaftlich als Kostenproblematik, weil die professionellen Reproduktionstätigkeiten zu einem erheblichen Teil über staatliche Transfers finanziert werden. Eine wettbewerbsorientierte Steuerpolitik, die den Zufluss von liquidem Kapital sichern soll, Vermögende und Unternehmen entlastet und so Einnahmeprobleme des Staates verursacht, lässt großzügige Transfers zugunsten von Humandienstleistungen und bezahlten Sorgearbeiten nicht zu. Die Bereitstellung von Sorgeleistungen als öffentlichem Gut gerät zusätzlich unter Druck, weil es an staatlich finanzierter zahlungsfähiger Nachfrage mangelt. Darauf reagieren die maßgeblichen Akteure mit einem Mix aus Kommodifizierung, Verwettbewerblichung, Prekarisierung der Arbeitsbedingungen und Rückverlagerung von Sorgeleistungen in die Privathaushalte.
Die Verwettbewerblichung bewirkt im Care-Sektor, dass (halb-)staatliche und Non-Profit-Organisationen, die Sorgeleistungen bereitstellen, sich in ihrer Funktionsweise mehr und mehr gewinnorientierten Unternehmen annähern. Nach Werner Sombart schafft sich die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung ihre eigenen Organisationen, indem sie die Abläufe Zwecksetzungen unterordnet, die auf möglichst exakten quantitativen Kalkulationen beruhen. Ein solcher Prozess lässt sich im Bereich bezahlter Sorgearbeiten beobachten. Entgegen ihrer an der Person und dem Körper orientierten Logik werden helfende und pflegende Tätigkeiten standardisiert, zerlegt, in Zeitvorgaben gezwängt, betriebswirtschaftlichen Kostenkalkülen unterworfen und auf diese Weise vereinnahmt, ohne dass sie deshalb dem Gewinninteresse kapitalistischer Unternehmen unmittelbar subsumiert sein müssen. Professionelle Sorgearbeit wird zu einem Markt, dessen Organisationen sich mehr und mehr in betriebswirtschaftlich kalkulierende Unternehmen verwandeln, während die Einkommen, Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Wertschätzung der Beschäftigten wohlfahrtsstaatlich normierte Standards deutlich unterschreiten. Der deutsche Exportismus beruht somit auf einer kapitalistischen Landnahme auch der Humandienstleistungen und Sorgearbeiten. Landnahme bedeutet hier Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Exportsektors mittels verstärkter Abwertung und Prekarisierung von (bezahlten) Sorgearbeiten. Dabei stehen sich die Sektoren keineswegs als homogene Blöcke mit antagonistischen Interessen gegenüber. Auch im Exportsektor wird ein auf »Sozialeigentum« gegründeter Bürgerstatus aufgebrochen, auch hier finden sich prekär Beschäftigte und die Disziplinierung von Stammbelegschaften. Im Falle der Sorgearbeiten ist ein Sozialbürgerinnenstatus aber gar nicht oder nur schwach institutionalisiert. Traditionell eine Domäne von Frauenarbeit, lassen sich seit Langem reproduzierte geschlechterspezifische Diskriminierungsmechanismen nutzen, um die gesellschaftliche Abwertung dieses Bereichs zu konservieren und so Reproduktionskosten zu senken.
4. Gibt es Alternativen?
Fassen wir zusammen: Die Wettbewerbsgetriebene Landnahme hat das Modell des Sozialkapitalismus nicht einfach durch ein anderes ersetzt. Die Landnahme des Sozialen wirkt – darin der von Karl Marx so eindrucksvoll beschriebenen sogenannten ursprünglichen Akkumulation vergleichbar – über Freisetzung von Arbeitskräften, den »Stoffwechsel« zwischen inneren kapitalistischen und äußeren nichtkapitalistischen Märkten sowie über eine Amalgamierung alter und neuer Produktionsformen. Arbeitskräfte werden mit politischer Hilfe aus den noch immer geschützten Segmenten mit wohlfahrtsstaatlich abgesicherter Lohnarbeit freigesetzt. Es kommt zu einem »Stoffwechsel« zwischen noch vergleichsweise abgesicherten inneren und prekarisierten, durch Überausbeutung geprägten äußeren Teilarbeitsmärkten. Und die selektive Enteignung von »Sozialeigentum« bringt Amalgame aus Stammbelegschaften mit noch einigermaßen intaktem Sozialbürgerstatus einerseits und niedrig entlohnten, wenig anerkannten, prekär beschäftigten Arbeitskräften andererseits hervor. Sozialkapitalismus und Sozialbürgerstatus sind nicht vollständig verschwunden. Für Stammbelegschaften in den Exportindustrien und in Teilen des öffentlichen Dienstes ist dieser Status der Lohnarbeit noch immer existent, und in diesen Bereichen werden noch immer Normalitätsstandards für Erwerbsarbeit definiert, die subjektiv den Maßstab für Abweichung und Prekarität darstellen. Doch die subdominanten Überreste des Sozialkapitalismus sind nun in ein Wettbewerbsregime integriert, das an die Stelle sozialer Teilhabe mehr und mehr die disziplinierende Kraft ständiger konkurrenzbasierter Bewährungsproben setzt, die Festangestellte, prekär Beschäftigte und selbst Erwerbslose in unterschiedlicher Weise zu meistern haben (Dörre/Scherschel/Booth et. al. 2013).
Wenn man in Europa überhaupt etwas von einem »deutschen Modell« lernen kann, so in erster Linie vom alten Sozialkapitalismus. Noch halbwegs robuste soziale Sicherungen und einigermaßen konfliktfähige Gewerkschaften, das belegt das deutsche Krisenmanagement, sind eine Mindestbedingung für soziale Nachhaltigkeit, die sich als Bestandsfestigkeit gegenüber Krisen definieren lässt. Dennoch gibt es keinen Grund, wegen des Abdankens des alten Sozialkapitalismus in Wehmut zu verfallen. Die Abwertung von Humandienstleistungen und reproduktiven Tätigkeiten ist ein Erbe aus vergangenen Zeiten, das selbst während der Blütezeit dieser Kapitalismusvariante auf besonders verfestigten sexistischen und rassistischen Diskriminierungen beruhte. Hinzu kommt, dass sich die neue Wettbewerbsgesellschaft, wie schon zuvor der alte Sozialkapitalismus auf gesellschaftliche Naturbeziehungen gründet, die sich nicht beliebig in die Zukunft verlängern lassen. Das lange Zeit wichtigste und geradezu selbstverständlich anvisierte Mittel zur Überwindung ökonomischer Krisen, die Generierung von Wirtschaftswachstum, hat sich in der Gegenwart in einen Treiber ökologischer Zerstörung verwandelt. Die globale Krise von 2008/09 ist nicht primär durch ökologisch bedingte Knappheiten verursacht worden. Selbst Peak oil wird bisher nur über spekulative Einwirkungen auf die Benzinpreise weltwirtschaftlich wirksam. Das Erreichen des Kipppunktes führt zunächst nur dazu, dass zuvor unrentable Vorkommen mit gesteigertem Risiko erschlossen und ausgebeutet werden. Knappheiten, die sich nicht in Preisen niederschlagen, bleiben, sofern nicht andere Regulierungen greifen, im Akkumulationsprozess jedoch unbeachtet, ihre Kosten werden von den Unternehmen externalisiert und der Gemeinschaft aufgebürdet. Das Grundproblem dieses Externalisierungsmechanismus ist, dass er das Überschreiten der Belastungsgrenzen natürlicher Systeme unsichtbar macht.
Das Jahr 2009 lieferte dafür Anschauungsunterricht. Nicht etwa höhere Ressourceneffizienz oder beschleunigtes Umsteigen auf erneuerbare Energien, sondern ökonomisches Minuswachstum und Einbruch der industriellen Produktion sorgten für einen Rückgang klimaschädlicher Emissionen. Als die Konjunktur 2010 anzog, war das Rekordniveau der Emissionen aus 2008 (31,5 Millionen Tonnen CO²-Emissionen) jedoch rasch wieder erreicht. Der globale CO²-Ausstoß übertrifft inzwischen noch die pessimistischsten Prognosen des UN-Klimarates. Die jüngste Studie im Auftrag des Club of Rome, die für die Klimaintensität Peak 2030 annimmt und dabei von einem Anteil der erneuerbaren Energien von 40 Prozent bis 2052 sowie einer Stagnation der Weltbevölkerung bei acht Milliarden Menschen (2040) ausgeht, hält eine Erderwärmung von vier bis fünf Grad bis zum Jahrhundertende für wahrscheinlich (Randers 2012). Treibhausemissionen und Klimawandel stellen jedoch nur eine Dimension ökologischer Krisenherde dar. Nicht minder gravierend ist die Vernutzung endlicher natürlicher Ressourcen und fossiler Energieträger. An den endlichen Ressourcen gemessen, lebt die Welt schon seit dem Ende der 1970er Jahre über ihre Verhältnisse. Der ökologische Fußabdruck, der den Ressourcenverbrauch im Verhältnis zur ökologischen Tragfähigkeit des Planeten misst, ist dafür ein wichtiger Indikator. Schon vor der Jahrtausendwende lag der menschliche Ressourcenverbrauch etwa 20 Prozent über der ökologischen Tragfähigkeit. Und auch hier zeigt sich eine Parallelität zu den Emissionen. In den Krisenjahren zwischen 1980-1983 näherte sich der Ressourcenverbrauch zuletzt der Tragfähigkeitsgrenze an. Seither ist er in einem Maße gestiegen, der die »Möglichkeitsgrenzen« längerfristigen Wirtschaftswachstums zumindest in den fortgeschrittenen Kapitalismen immer näher rücken lässt (Rockström et. al 2009).
Wegen der Kumulation solcher Risiken macht es Sinn, die gegenwärtige Konstellation als ökonomisch-ökologische Doppelkrise zu bezeichnen. Weder ökologische noch ökonomische Krisen lassen sich auf die eine Ursache zurückführen. Der Begriff Doppelkrise bezeichnet lediglich eine räumliche und zeitliche Synchronisation höchst unterschiedlicher Krisenherde. Das historisch Neue der gegenwärtigen Krisenkonstellation besteht darin, dass das Wachstumsdilemma fortgeschrittener Kapitalismen offen zutage tritt. Entweder es gelingt den Gesellschaften des globalen Nordens, materielles Wachstum ökologisch und sozial nachhaltig zu gestalten, oder sie sind gezwungen, ihre Entwicklung dauerhaft vom Zwang zu permanentem Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Aus diesem Grund sind ökologische Grenzen der Kapitalakkumulation nicht nur, was David Harvey (2014: 86) nahelegt, eine Schranke unter anderen; vielmehr zeugt das Überschreiten dieser planetarischen Belastungsgrenzen von Krisen ökologischer Nachhaltigkeit, die sich zureichend nur jenseits einer tauschwert- und kapitalzentrierten Perspektive begreifen lassen.
In seiner gegenwärtigen Verfassung leistet der deutsche Wettbewerbskapitalismus keinen signifikanten Beitrag, um im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit umzusteuern. Zwar hat es mit dem Ausstieg aus der Atomenergie und den Energie-Einspeise-Gesetz Zugeständnisse an die ökologischen Bewegungen gegeben, doch die jüngsten Korrekturen an der Energiewende erfolgen im Interesse der großen Energiekonzerne und keineswegs zufällig, die Treibhausgas-Emissionen in Deutschland sind wieder angestiegen. Unter dem Druck der ökonomischen Verwerfungen wird die ökologische Krise verdrängt – eine Hypothek auf die Zukunft, deren Preis künftige Generationen zahlen werden.
Für die tagespolitische Auseinandersetzung lässt sich immerhin festhalten, dass die politischen Eliten in Deutschland mit einer Art Doppelstrategie agieren. Im Inneren sind sie, nicht zuletzt aufgrund des Drucks aus der Gesellschaft, dabei, mit einem gesetzlichen Mindestlohn zumindest die schlimmsten Folgen der Agenda-Politik zu korrigieren. In Europa verfolgt die Regierung Merkel hingegen einen anderen Kurs. Hier ist sie die Protagonistin eines Austeritätsregimes, das den Geist von »Hartz IV« auf die Krisenländer anwenden will. Die innere Landnahme des Sozialen hat Deutschland in Europa in eine Position gebracht, die es nun erlaubt, den Schwerpunkt von der inneren Abwertung auf die äußere Landnahme zu verlagern. Die Bundesrepublik ist zum wichtigsten Gläubiger der europäischen Krisenstaaten geworden. Niedrige Zinsen für deutsche Anleihen erlauben es, den Staatshaushalt der Bundesrepublik zu sanieren. Zugleich wird den Schuldnern eine Politik aufgezwungen, die Finanzhilfen nur gegen Reformen gewährt. Reform steht in diesem Zusammenhang für eine radikalisierte Enteignung von Sozialeigentum, für den Abbau sozialer Rechte und Angriffe auf die letzten verblieben Bastionen von Gewerkschaftsmacht und tariflich geschützter Beschäftigung.
Die Folgen dieser Politik lassen sich in den Krisenländern besichtigen. Hier findet der Übergang zu einem Gesellschaftstypus statt, wie er lange Zeit nur aus dem globalen Süden bekannt war. Ökonomische Schrumpfung und eine fortwährende Landnahme des Sozialen erzeugen Gesellschaften, in denen nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern mehr oder minder alle gesellschaftlichen Basisinstitutionen und Lebensverhältnisse instabil geworden sind. In diesen Gesellschaften leben Bevölkerungsmehrheiten in prekären Verhältnissen; soziale Unsicherheit ist zu einem Dauerzustand geworden. In einem Regime, das auf Instabilität in Permanenz gegründet ist, bedeutet Regieren eine Maximierung von Unsicherheit bei gleichzeitiger Gewährung jenes Minimums an sozialer Absicherung und Regulierung, das gerade noch notwendig ist, um Aufstände und Revolten zu vermeiden oder doch unter Kontrolle zu halten. Ob und wie lange dies gelingen kann, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine völlig offene Frage. Feststeht jedoch, dass zunehmende Ungleichheit und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse den Bevölkerungen der Krisenländer auch Chancen nehmen, eine ökologische Wende einzuleiten.
Wenn Deutschland ein Beispiel für Europa sein soll, dann, so viel ist gewiss, können die Anregungen weder aus dem alten noch aus dem neuen »Modell« bezogen werden. Ein alternatives Modell mit Anregungsfunktion hätte für Wege zu stehen, die geeignet sind, Verwettbewerblichung, ökologische Zerstörung und die Prekarisierung von Arbeit umzukehren. Die Vielgestaltigkeit von Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen erschwert kollektive Identitätsbildung und schränkt die Möglichkeiten zur Ausübung von Gegenmacht ein. Wenn es überhaupt eine Chance geben soll, den kapitalistischen Expansionismus zu attackieren, so bleibt als Option zur Bündelung multipler sozialer Identitäten wohl nur die Vision einer Ausweitung von Demokratie. Demokratie, verstanden als Herrschaft des Volkes, die in der Lage ist, privilegierte Eliten herauszufordern, müsste jedoch neu definiert werden, um dergleichen leisten zu können. Sie wäre nicht mehr ausschließlich als politische Demokratie, sondern zusätzlich als ökonomische Kategorie neu zu bestimmen (Meiksins Wood 2010: 293). Da die materiellen Ressourcen und Zeitbudgets für reproduktive Tätigkeiten durch den Produktionssektor fremdbestimmt werden, ist Demokratisierung letztendlich nur über neue Formen von Produzentendemokratie zu erreichen, d. h. Demokratie hätte sich in einem umfassenden Sinne als sozialer Antriebsmechanismus auch der Wirtschaft zu bewähren (ebd.: 294).
Die Verschränkung von flexibler Produktion und sozialer Reproduktion impliziert, dass Demokratisierung mit einer Umverteilung von Ressourcen aus den hochproduktiven in die weniger produktiven Sektoren einhergehen muss. Selbiges hieße auch, einen Bruch mit dem kapitalistischen Prinzip der Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen herbeizuführen. Gesellschaften, die im Rahmen einer umfassenden Demokratisierungsstrategie die Aufwertung von Sorgearbeit und Sorgearbeiterinnen betreiben, wären in diesem Sinne moderne Postwachstumsgesellschaften, die ihre Arbeitsproduktivität nur noch allmählich und nicht auf Kosten lebendiger Arbeit steigerten. Einstweilen sind solche Gesellschaftsentwürfe allenfalls vage Visionen. Unklar ist, ob eine politische Ökonomie pluraler Arbeitsvermögen, die Sorgeleistungen als gleichwertige Tätigkeiten einschließt, gesellschaftlich überhaupt durchsetzbar ist. Immerhin zeigt sich, dass Gesundheit, Pflege, Bildung und Erziehung auch in Deutschland zunehmend zu sozialen Konfliktfeldern werden. Arbeitskämpfe in diesen Feldern sind weiblich geprägt, sie finden Resonanz bei prekär Beschäftigten und sie erfassen mit Erzieherinnen, Ärzten oder dem Pflegepersonal von Kliniken Gruppen, deren Berufsethos sich lange gegen Streiks sperrte. Ein Berufsethos, das sich am Wettbewerbsprinzip reibt, wird mitunter gar zur wichtigsten Quelle einer Kritik an prekären Arbeitsbedingungen wie auch der Verschlechterung von Pflegeleistungen (vgl. Kutlu 2013, S. 226ff.).
In einem sehr begrenzten Feld deutet sich an, was auf der europäischen Bühne dringend benötigt wird – ein konfliktorischer demokratischer Impuls, eine neue Variante des »demokratischen Klassenkampfs«. Etienne Balibar hat dies sinngemäß so formuliert: Demokratie sollte gegenwärtig weniger von ihren Institutionen als von ihren oppositionellen Akteuren, von sozialen Bewegungen, von Bereitschaft zu Protest und Widerständigkeit her definiert werden. Dem sei hinzugefügt, dass eine Zivilgesellschaft, der es um die längerfristige Prägung solidarischer Orientierungen geht, mindestens dreierlei zu leisten hat. Erstens muss sie die Einsicht verbreiten, dass von Solidarität nur die Rede sein kann, sofern diejenigen, die vom Prozess der europäischen Einigung am meisten profitiert haben, nun auch die Hauptlast der Konsolidierung tragen und den Krisenländern endogen begründete und demokratisch legitimierte Aufbau- und Entwicklungsoptionen eröffnen. Zweitens – und hier stimme ich Claus Offe zu – lassen sich solche Einsichten nur verankern, wenn zugleich daran gearbeitet wird, dass die Europäer sich »gegenseitig nicht primär durch ihre Staatsangehörigkeit, sondern als Individuen und Angehörige sozialer Klassen zu Kenntnis nehmen« (Offe 2013). Dies wäre drittens die Voraussetzung dafür, dass der angehäufte private Reichtum, der sich paradoxerweise mit jeder Krise vergrößert, angemessen besteuert und zugunsten vor allem der verwundbarsten Gruppen umverteilt werden könnte (Piketty 2014). Dies wäre im Übrigen auch eine wesentliche Voraussetzung für ökologisches Umsteuern, denn nur in vergleichsweise egalitären Gesellschaften gibt es eine realistische Chance, positionalen und daher auf permanente Steigerung gerichteten Konsum zu überwinden. Die Widerbelebung des demokratischen, das heißt innerhalb demokratischer Spielregeln ausgetragenen Klassenkampfs ist eine Grundbedingung für die Überwindung der europäischen Krise. Sie ist zugleich eine Alternative zur Verwilderung des sozialen Konflikts, die sich schon jetzt in Aufständen, Revolten, in Labour Unrest und teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen bemerkbar macht.
Die verbleibende Hoffnung für Europa liegt darin, dass sich ein neuer demokratischer Grundkonsens herausbildet, der wesentlich von unten geformt und durch soziale Bewegungen und Proteste vermittelt werden muss. In diesem Zusammenhang lautet, auch um einen Kompass für konterhegemoniale Bewegungen zu haben, meine These: Als Antwort auf die Krise benötigen wir ein Leitbild ökologisch und sozial nachhaltiger, demokratisch verfasster Arbeit. Es geht um ein Leitbild, das Elemente von Bruch mit, der Reform von und Alternativen zur kapitalistischen Wettbewerbslogik beinhaltet. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte in den Gegenwartsgesellschaften. Schon jetzt können kapitalistische Ökonomien nicht in Reinform existieren. Sie bleibt auf die Funktionsfähigkeit von Sektoren angewiesen, die weder nach Wachstumsimperativen funktionieren noch dem Profitmotiv gehorchen. Das gilt für einen erheblichen Teil der angesprochenen ernährenden, erziehenden, bildenden, pflegenden und sorgenden Tätigkeiten. Für die entsprechenden Sektoren, häufig Domänen von Frauen, gilt, dass ein bestimmter Wachstumstyp, der die Wegrationalisierung menschlicher Arbeitskraft impliziert, zwangsläufig zu Lasten der Arbeits- und Dienstleistungsqualität geht.
Wenn überhaupt, so sind es aber diese Sektoren, die in den fortgeschrittenen Kapitalismen langsam wachsen können. Aufwertung und bessere Bezahlung eines Teils dieser Tätigkeiten, Finanzierung über Steuern und umverteilende Politik, neue Eigentumsformen wie genossenschaftlich organisierte Dienstleister, innovative Verzahnungen von Öffentlichem und Privatem, Demokratisierung von Dienstleistungsarbeit durch Mitbestimmung von Produzenten und Klienten, geschlechtergerechte Arbeitszeitverkürzungen und vor allem Zeit für Arbeit an der Demokratie lauten einige wichtige Stichworte für eine Transformationsperspektive, welche die Frage nach sinnvoller Arbeit ins Zentrum rückt. Eine solche Transformation käme nicht ohne die öffentliche Kontrolle gesellschaftlicher Schlüsselsektoren (Energie, Finanzen) aus. Sie hätte die großen, marktbeherrschenden Unternehmen zu dem zu machen, was sie implizit bereits sind – zu öffentlichen Institutionen, deren Aktivitäten an einen demokratischen Kollektivwillen gebunden sind. Dies wäre eine Perspektive, die in einem allgemeineren Sinne die Stärkung gesellschaftlicher gegenüber ökonomischer und staatlicher Macht und damit die Erweiterung von Demokratie bedeuten würde. Eine solche Alternative ist politisch gegenwärtig im höchsten Maße unwahrscheinlich. Deshalb könnte es vornehme Aufgabe einer öffentlichen Soziologie (Burawoy 2008) sein, die Debatte zu beginnen, um alternativen Ideen eine länderübergreifende Öffentlichkeit zu bieten.
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* Dieser Beitrag ist dem Sammelband Arbeit in Europa. Marktfundamentalismus als Zerreissprobe, Klaus Dörre, Kerstin Jürgens, Ingo Matuschek (Hg.), 2014, entnommen. Wir danken dem Campus Verlag für die Nachdruckgenehmigung.