Viele meiner Überlegungen zu den repressiven Aspekten moderner Arbeitsideologien sind von Herbert Marcuses Begriff der «zusätzlichen» Herrschaft inspiriert, den er wiederum aus seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Triebtheorie Freuds gewonnen hatte. Jenem zufolge entwickele sich Kultur stets im Spannungsfeld zwischen Lust- und Realitätsprinzip: Nur wenn der Aufschub und die Sublimierung unmittelbarer Triebbefriedigung gelinge, könne Arbeit, die immer auch Leid und Mühe darstelle, zu Fortschritt führen. Marcuses Versuch einer Historisierung und gesellschaftskritischen (Weiter-)Entwicklung der Freudschen Triebtheorie zielte aber auf die Überwindung des Konservatismus Freuds, der darin bestand, die Unterdrückung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip als ein starres Verhältnis zu bestimmen. Marcuse hierzu:
«Während jede Form des Realitätsprinzips ein beträchtliches Maß an unterdrückender Triebkontrolle erfordert, führen die spezifischen Interessen der Herrschaft zusätzliche Kontrollausübungen ein, die über jene hinausgehen, die für eine zivilisierte menschliche Gemeinschaft unerläßlich sind. Diese zusätzliche Lenkung und Machtausübung, die von den besonderen Institutionen der Herrschaft ausgehen, sind das, was wir als zusätzliche Unterdrückung bezeichnen» (S. 42).
Konkret haben aus Sicht Marcuses die Disziplinierungszwänge der modernen Arbeits- und Warengesellschaft das notwendige Minimum an Triebaufschub ins Unermeßliche gesteigert, obwohl – und so wohl die Pointe – weil gleichzeitig eine libidinöse Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip, die fast vollständige Reduktion von Triebaufschub möglich wäre:
«Unter der Herrschaft des Leistungsprinzips [als die spezifische Form des Realitätsprinzips in der bürgerlichen Gesellschaft, H.S.] werden Leib und Seele zu Instrumenten der entfremdeten Arbeitsleistung; als solche können sie nur funktionieren, wenn sie die Freiheit des libidinösen Subjekt-Objekt, das der menschliche Organismus primär ist, preisgeben» (S. 50 f.).
Teil dieser Preisgabe ist im Übrigen auch eine perfide Instrumentalisierung der Libido, die umso mehr zerstückelt wird, je mehr sie einem «genitalen Supremat» untergeordnet wird:
«Dieser Prozess erreicht die sozial notwendige Desexualisierung des Körpers: die Libido wird in einem Teil des Körpers konzentriert, wodurch fast der ganze übrige Teil Körper zum Gebrauch als Arbeitsinstrument frei wird» (S. 52f.).
Zweifelsohne ist Marcuses Gedankengebäude heute mit einem allfälligen Formwandel gesellschaftlicher Herrschaft zu konfrontieren. Dennoch reicht meiner Meinung nach der hier nur angedeutete Herrschaftsbegriff weit über die Analyse spezifischer (Klassen-)Interessen an der Abschöpfung unbezahlter (Mehr-)Arbeit hinaus, wie es herkömmliche traditionelle Marxismen vermögen. Er versucht einerseits, den vielfältigen Wegen nachzuspüren, auf denen die systemischen «Sachzwänge» einer absurden, weil ruinösen Produktionsweise bis in die Triebstruktur des modernen Subjekts vordringen. Andererseits gerät aber auch die allgegenwärtige Ideologie der Knappheit in den Blick, wie sie etwa im naturalisierten Wachstumszwang der institutionellen Linken zum Ausdruck kommt.
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1977 (Erstveröffentlichung 1955 unter dem Titel «Eros and Civilisation»).