Das Kapital von Marx ist die Übermutter. Keine linke Theorie, die auch nur einen Funken Anstand hat, das heisst, Gesellschaftskritik betreibt – und ich meine Kritik, und nicht ein bisschen dem Establishment auf die Zehen trampeln wie zum Beispiel Thomas Piketty –, die sich nicht direkt oder indirekt auf das Hauptwerk des Meisters beziehen würde. Und warum? Weil es ohne Marx nicht geht. Kein unschuldiges Über-den-Bildschirm-Flimmern von Börsennachrichten, kein Bericht über ermordete südafrikanische Minenarbeiter, keine Dokumentation über Anti-Fussball-WM-Proteste in Brasilien, die Arbeitsbedingungen bei Foxconn in China, das Massensterben von Bienen, kein unterwürfiges Lächeln der Deutschen Kanzlerin auf der Tagung der deutschen Automobilindustrie oder ein wie auch immer ausfallendes Schweizer Abstimmungsergebnis kann ohne die Einsichten der Kritik der politischen Ökonomie wirklich begriffen werden.
Marx zentrale Kritik zielte auf den von der bürgerlichen (heute: neoliberalen) Ökonomie behaupteten scheinbar unvermittelten 615-544-7507 , «natürlichen» Charakter der Gesellschaft. Die Ökonomen seiner Zeit fanden die kapitalistische Produktionsweise – über die sie eigentlich niemals sprachen – nicht nur richtig, sondern alternativlos. Die erstaunliche Aktualität der Marxschen Kritik zeigt, dass sich daran bist heute nichts geändert hat. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Verarmung und «Verrohung» (Marx) der industriellen Arbeiter, so auch die Anstellung von Kindern im Alter von 5-10 Jahren in Web- und Spinnfabriken und die häufigen Todesfälle infolge Überarbeitung und Lungenkrankheiten bei den Kleinsten als beste aller möglichen Welten gesehen. Der Job der damaligen wie der heutigen Ökonomen war und ist es entsprechend, Zustände dieser Art nicht zu kritisieren, sondern zu «erklären» – und somit zu rechtfertigen. Marx sah sich vor die Aufgabe gestellt, nicht nur der Mär von der Gottgegebenheit der Gesellschaft ein Ende zu setzen, sondern – als kritischer Ökonom und Wissenschaftler – herauszufinden, warum die arbeitende Bevölkerung trotz täglicher Schufterei arm bleibt, während das grösste Problem der Nichtarbeiter darin zu bestehen scheint, ob man Marie, das Hausmädchen, vor die Tür setzen sollte oder nicht. Anders gesagt: Wie kann es sein, dass, wie die bürgerliche Ökonomie behauptet, ein Austausch von Äquivalenten stattfinden soll – Arbeitslohn für die verausgabte Arbeitskraft von Arbeitern in bestimmten Arbeitsstunden –, während Nichtarbeiter so viel mehr Geld nicht nur haben, sondern vermehren und horten? «Das Geheimnis der Plusmacherei muss sich endlich enthüllen.» (MEW 23, 189). Im Kapital wird gezeigt, dass es in der schönen bunten Welt kapitalistischer Produktion zwar um nichts anderes geht als darum, Waren zu produzieren und zu verkaufen. Aber durch den Verkauf von Waren entsteht kein Mehrwert. So ist das geläufige «Waren gewinnbringend verkaufen» ein ideologischer Ausdruck der neoliberal-bürgerlichen Ökonomie, die sich über ihre eigenen Widersprüche nicht im Klaren ist, denn die «Kapitalistenklasse eines Landes kann sich nicht selbst übervorteilen.» (MEW 23, 177). Sind also Waren im Wert von 4000 CHF in der Hand von Unternehmer Egli, der «so pfiffig sein» mag, Unternehmer Suter übers Ohr zu hauen und sie ihm für 5000 CHF zu verkaufen, so hat er augenscheinlich Gewinn gemacht. Sieht man genauer hin, stellt man fest: Vorher waren 4000 CHF in der Hand von Herrn Egli, 5000 CHF in der Hand von Herrn Suter (Gesamtsumme: 9000 CHF), nun liegen die 5000 beim Egli und die 4000 beim Suter (Gesamtsumme: 9000 CHF). Die Geldmenge hat sich um kein Atom vergrössert, sondern nur den Besitzer gewechselt. Um «das Geheimnis der Plusmacherei zu enthüllen», müsste also auf dem Markt eine Ware entdeckt werden, die das verrückte Kunststück vollbringt, in ihrem eigenen Verbrauch Wert zu schaffen. Marx’ revolutionäre wissenschaftliche Leistung besteht darin, diese besondere Ware in der menschlichen Arbeitskraft entdeckt zu haben: Während der Produktion verbraucht sie sich, während sie gleichzeitig Wert – und Mehrwert! – schafft. So kann der Kapitalist zwar mit Fug und Recht behaupten, Arbeitskraft zu entlohnen, aber niemand sieht der Arbeitskraft an, dass sie, feilgeboten in ihrer «lebendigen Leiblichkeit» einen Warenwert schafft, der über das Lohnäquivalent um ein Vielfaches hinausgeht – sei es, dass man die Arbeitskraft längere Stunden einsetzt als sie braucht, um sich zu reproduzieren, sei es, dass man durch verbesserte Produktionstechniken die Produktivität steigert, um den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken (im 21. Jahrhundert findet hauptsächlich letztere Form zur Mehrwertproduktion Anwendung).
Die Produktion eines absoluten, sowie eines relativen Mehrwerts, findet so in der unbemerkten Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit statt. Die Ausbeutung der Arbeitskraft wie der Natur entsteht demgemäss «hinter dem Rücken der Produzenten», dafür aber mit der Perversität einer unersättlichen Mehrwertproduktion um der Mehrwertproduktion willen bei gleichzeitiger vollständiger Ablösung von den rationalen Absichten irgendwelcher Akteure. Das Kapital wird so zum Oxymoron eines «automatischen Subjekts»: Die Gesellschaft ist sich ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit nicht mehr bewusst. Die Tatsache, dass die etablierte ökonomische «Wissenschaft» nicht einmal über ihre fundamentalste Rechengrösse, das Geld, Rechenschaft ablegt, ist da nur ein Kollateralschaden gesellschaftlicher (Selbst)-Missverständnisse. Der Anfang des Kapital gibt dagegen Auskunft über den Zusammenhang von Geld, Arbeit und Wert: und zeigt, dass jede quantitative Operation mit Geld von seinem qualitativ-gesellschaftlichen Charakter abhängt – und somit veränderlich ist. Wäre das jedoch den neoliberalen Ökonomen gestern wie heute, die die gesellschaftlichen Verhältnisse wahlweise als naturbedingt oder gottgewollt anpreisen, klar, müssten sie sich selbst abschaffen. Aber ein wenig träumen wird man ja noch dürfen.