Wenn es nach Claudia von Werlhof ginge, ja hätte sie jemals die Gelegenheit dazu gehabt, in dieser Sache Einfluss zu nehmen, so würde es diese Festschrift wahrscheinlich gar nicht geben. Claudia von Werlhof mag zwar in ihrer Erscheinung unübersehbar und in ihren messerscharfen Analysen unüberhörbar sein, doch ist sie zuletzt eine bescheidene Frau, der es immer nur um die Sache geht, niemals um ihre Person. Als wir im Sommer 2012 die Idee dazu hatten, eine Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags unserer gemeinsamen Doktormutter herauszugeben, wussten wir also, dass wir dies nur auf eine Art machen konnten: auf geheimem Wege. Denn wir, eine Gruppe von DoktorandInnen von Claudia von Werlhof, wollen es uns nicht nehmen lassen, „unsere“ Claudia zu ehren und ihr auf diesem Wege zu danken. Von Beginn unseres Studiums an hat sie uns mit ihrem Denken berührt, geprägt und v. a. stets herausgefordert, und sie hat in unseren Lebenswegen – so verschieden sie auch sein mögen – tiefe Spuren hinterlassen.
Zunächst haben wir gar nicht erwartet, dass dieses Festschrift-Projekt auf so breite Zustimmung stoßen würde. Doch es zeigte sich schnell, dass fast alle AutorInnen, die wir angefragt hatten, umgehend ihre Bereitschaft bekundeten, sich mit einem Beitrag daran zu beteiligen. Auch die Suche nach einem Verlag, der die Herausgabe zu möglichst günstigen Konditionen übernehmen sollte, war rasch erfolgreich. Norbert Willenpart, Leiter des Peter Lang-Büros in Wien und mittlerweile langjähriger Bekannter von Claudia von Werlhof, zeigte sich sofort von diesem Projekt begeistert. Darüber hinaus bot uns der Verlag an, das Buch ohne hohe Druckkosten zu produzieren – ein Angebot, das wohl auf anerkennender Wertschätzung für Claudias Arbeit und auf Basis jahrzehntelanger erfolgreicher Zusammenarbeit[1] beruht. Angesichts der Schwierigkeit, Mittel für Publikationsprojekte aufzutreiben, haben wir dieses Angebot gerne und dankbar angenommen. Und alle haben „dichtgehalten“!
Claudia von Werlhof als Vor-Denkerin
Es ist gar nicht so einfach für uns, das bewegte Leben von Claudia von Werlhof in gegebener Kürze zu schildern, wie es für Festschriften dieser Art üblich ist. Wie der Titel des Buches zum Ausdruck bringen soll, handelt es sich bei Claudia von Werlhofs Leben um eines, das vor allem durch die bedingungslose Übernahme von Verantwortung im Sinne der Aufklärung erkannter Missstände sowie durch das Mitgefühl und die Anteilnahme an der Situation derjenigen, die durch diese zu Schaden kommen, geprägt ist. Weder hat Claudia von Werlhof jemals die Konfrontation gescheut, wenn es darum ging, Dinge anzusprechen, die nicht in den „Mainstream“ passen, noch hat sie je gezögert, auf kompromisslose Art Parteilichkeit zu demonstrieren – ob mit den Frauen, der Natur oder den Indigenen. In einer Welt aber, in der diese von ihr so empfundene „Selbstverständlichkeit“, sich mit der Natur und den Unterdrückten zu solidarisieren, keinesfalls zur Norm gehört – gerade und v. a. nicht in den Wissenschaften –, ist diese für sie so charakteristische Grundhaltung gleichbedeutend mit Dissidenz. Einen spannenden Beleg dafür, wie ein von solcher Dissidenz geprägter Lebensweg aussehen kann, liefert uns Renate Genth in ihrer „Laudatio für Claudia“, in der sie nicht nur über ihr erstes Zusammentreffen mit Claudia (damals noch in Bielefeld) und die jahrzehntelange Zusammenarbeit berichtet, sondern bspw. auch die Bedeutung betont, die die einschneidende Erfahrung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 für das weitere Leben und Denken von Claudia von Werlhof hatte. Zugleich dient die Laudatio unserem Buch als Einleitung, weshalb wir uns auf diesem Wege noch einmal ganz herzlich bei Renate Genth für die Erlaubnis bedanken möchten, ihre anlässlich der Emeritierungsfeierlichkeiten für Claudia von Werlhof im Juni 2011 an der Universität Innsbruck gehaltene Festrede in der vorliegenden Festschrift abdrucken zu dürfen.
Vielleicht vermag das Bild auf dem Buchumschlag ganz gut die angesprochene Grundhaltung auszudrücken, mit der unsere Jubilarin ihr Leben bisher gelebt hat. Es stammt von Uschi Beiler, einer Tiroler Künstlerin und langjährigen Freundin von Claudia von Werlhof. Es zeigt eine amazonenhafte Gestalt[2] in widerständiger Haltung, vor Kraft strotzend und mütterlich zugleich, mutig hinblickend, neue Wege beschreitend, ohne die Verbindung zum Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Es scheint uns ein treffendes Bild dafür zu sein, wie wir Claudia von Werlhof kennen und schätzen gelernt haben – als Frau, die sich, wie sie selbst immer sagt, Zeit ihres Lebens der Frage danach verschrieben hat, was die Welt im Innersten „auseinanderreißt“. Und das beinhaltet die Frage, wie wir angesichts der existenziellen Bedrohung durch die gegenwärtige Krise, die als Krise des Kapitalismus und der Moderne schlechthin immer unvorstellbarere Ausmaße annimmt, das „gute Leben“ und damit einen Weg in eine lebensfreundliche Zukunft (wieder-)finden können. Das Wirken von Claudia von Werlhof lässt sich aber kaum auf einen bestimmten Bereich einschränken. So ist sie nicht nur eine leidenschaftliche Denkerin und außergewöhnliche Wissenschaftlerin, sondern vor allem auch alleinerziehende Mutter, Aktivistin und seit kurzem auch ausgebildete Dorntherapeutin. Eine Trennung von Theorie und Praxis scheint es in ihrem Leben nicht zu geben – Denken, Handeln und Fühlen sind immer miteinander verbunden, genauso wie sie sich gleichermaßen Geist, Seele und Leib zuwendet.
„Ihr habt den Kopf nicht nur zum Haareschneiden!“ Diesen Satz haben wir seit unserer ersten Begegnung mit Claudia unzählige Male gehört. Als wir sie kennengelernt haben – die einen von uns früher, die anderen später –, wurde uns klar, dass sich unser Denken auf radikale Weise ändern würde, ja müsste. Als StudentInnen am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck sahen wir uns bis zu diesem Zeitpunkt (und mit wenigen Ausnahmen) vor allem mit Lehrenden und Inhalten konfrontiert, die man als „systemaffirmativ“ bezeichnen könnte – positivistische, disziplinäre Wissenschaft par excellence. Dank Claudia von Werlhof bestand Grund zur Hoffnung: Ein anderes Denken, ja eine andere Wissenschaft ist (auch an der Universität) möglich!
Zur Kritischen Patriarchatstheorie
Im Geiste dieser Dissidenz sind über die Jahrzehnte hinweg, in denen Claudia von Werlhof als Universitätslehrerin tätig war (23 Jahre davon als Ordinaria am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck), unzählige Bücher, Artikel und Manuskripte entstanden, deren Erkenntnisse wir seit geraumer Zeit unter dem Titel „Kritische Patriarchatstheorie“ zusammenfassen. Was aber ihre Entstehung betrifft, so reicht die Kritische Patriarchatstheorie bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als die Frauenforschung als neue Sichtweise in den Wissenschaften eingeführt wurde. Im Rahmen des „Bielefelder Ansatzes“ (den Claudia von Werlhof gemeinsam mit Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies entwickelte) gelang unter Anknüpfung an die maßgeblich von Immanuel Wallerstein geprägte „Weltsystemanalyse“ sowie unter großem theoretischen und praktischen Aufwand eine kapitalismuskritische Revision der „Drei-Welten-Theorie“ aus der Perspektive der sog. „Entwicklungsländer“. Claudia von Werlhof hat diesbezüglich jahrelang empirisch-soziologische Studien in verschiedenen Ländern Lateinamerikas betrieben. Während die Ergebnisse dieser neuen Frauenforschung aber zunächst v. a. sozial-, kultur- und ökonomiekritisch angelegt waren, wurden sie in den 80er und 90er Jahren zunehmend durch naturwissenschafts-, ökologie- und technologiekritische Forschungen ergänzt, die insbesondere in einer sozialwissenschaftlichen Kritik der „Maschine“ sowie einer Kritik des modernen Naturverhältnisses kulminierten. Hier waren nicht zuletzt die Forschungen von Renate Genth von entscheidender Bedeutung. Auf Basis der feministischen Technikkritik der 90er Jahre, die an die Technikkritik der vorangegangenen Jahrzehnte anknüpfte, kam es dann auch zur Ausprägung eines neuen und umfassenderen Patriarchatsbegriffs, der neben dem Herrschaftsaspekt zunehmend dessen wahnhaften „Schöpfungs“-Charakter in den Vordergrund rückte. Über den Umweg zahlreicher Alchemie-kritischer Überlegungen ging daraus schließlich die Theorie des „kapitalistischen Patriarchats“ als Projekt einer „Schöpfung aus Zerstörung“ hervor. Das Patriarchat wurde fortan nicht länger lediglich als von Herrschaft geprägte Familien- und Staatsordnung analysiert, sondern als umfassender Versuch der Herstellung einer „technologischen Formation“, die insbesondere seit Beginn der Neuzeit gesellschaftsumbildend wirkte. Gleichzeitig entwickelte sich die Moderne Matriarchatsforschung, die noch lebende Matriarchate in die Analyse mit einbezog und von der zahlreiche Impulse für die Patriarchatskritik ausgingen. Während die gegen Ende der 90er Jahre entstandene, weitgehend patriarchats-, ökologie- und kapitalismusunkritische sog. „Gender-Forschung“ nämlich bewusst den Anschluss an die bestehende Wissenschaft und Politik suchte, waren sich moderne Matriarchats- und kritische Patriarchatsforschung einig im Widerstand gegen die Globalisierung eines konzernorientierten und kriegerischen Neoliberalismus.
Es mag an dieser Stelle sinnvoll erscheinen, in gebotener Kürze auf die zwei zentralen Begriffe einzugehen, die für die Kritische Patriarchatstheorie als umfassender, zivilisationspolitisch ausgerichteter Gesellschaftstheorie entscheidend geworden sind: den neuen Begriff von „Zivilisation“ sowie den bereits erwähnten, erweiterten „Patriarchats“-Begriff. „Zivilisation“ nämlich intendiert im patriarchatskritischen Kontext nicht den üblicherweise gemeinten Unterschied zu „Barbarei“/„Wildheit“, sondern es wird davon ausgegangen, dass alle historisch vorfindbaren gesellschaftlichen Großordnungen als „Zivilisationen“ verstanden werden können, die sich anhand von fünf Grundverhältnissen umfassend beschreiben lassen. Zu diesen Grundverhältnissen zählen das Naturverhältnis (zu dem Ökonomie und Technik gehören), das politische Verhältnis (in dem die Regeln der gesellschaftlichen Verfasstheit formuliert sind), das Geschlechterverhältnis (das das Zusammenleben von Männern und Frauen sowie die Reproduktion der Gattung betrifft), das Generationenverhältnis (hier geht es um das Zusammenleben der Generationen und damit um das Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft) sowie das Transzendenzverhältnis (das die Fragen nach dem Woher und Wohin des menschlichen Lebens innerhalb der Natur behandelt). Erst mit diesem neutralen und somit objektiven Zivilisationsbegriff ist ein adäquates Analyseinstrumentarium geschaffen worden, das einen seriösen, unvoreingenommenen Vergleich insbesondere von „Matriarchat“ und „Patriarchat“ als den beiden „Grundmodellen“ von Zivilisation, über die wir weltweit und historisch verfügen, ermöglicht. Und so wird vor dem Hintergrund dieses neuen Zivilisationsbegriffs unter „Patriarchat“ auch keine bloße Hausväter- oder allgemeine Herrschaftsordnung verstanden, die durch Aufklärung, „Fortschritt“ und Kapitalismus angeblich zunehmend verschwindet, sondern eine allgemeine Gesellschaftsordnung im Sinne von „Zivilisation“, die historisch entstanden ist und heute in Gestalt des „kapitalistischen Patriarchats“ ihren vorläufigen „Höhepunkt“ erreicht hat. Der Unterschied zum Matriarchat, dessen Grundverhältnisse nach den Erkenntnissen der Modernen Matriarchatsforschung im Prinzip lebensfreundlich, egalitär und gewaltfrei gestaltet sind, besteht dabei darin, dass diese im Patriarchat prinzipiell gegenteilig, d. h. lebensfeindlich, autoritär, gewalttätig und ohne Bewusstsein von Verantwortung angelegt sind. Und so geht die Kritische Patriarchatstheorie letztlich von der These aus, dass es sich beim Patriarchat um ein Projekt handelt, das sich gegen die Zivilisation des Matriarchats als „mütterlicher Ordnung“ richtet und die Absicht verfolgt, diese in eine „väterliche Ordnung“ zu verkehren. Insbesondere durch den mit Beginn der Neuzeit möglich gewordenen „Fortschritt“ in Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie wird in diesem Sinne nichts Geringeres als die im Prinzip vollständige Unabhängigkeit von Mutter (und) Natur durch eine „Schöpfung aus Zerstörung“ jenseits der Naturzyklen zu erreichen versucht, wobei dieses Vorhaben heute in der technologischen „Ersetzung“ bzw. im Projekt der völlig andersartigen, „posthumanen“ „Neu-Schöpfung“ des Lebens, der Gesellschaft, ja der Erde selbst gipfelt.
Was diesen letzten Punkt anbelangt, so hat sich Claudia von Werlhof in den vergangenen Jahren intensiv mit der Entwicklung und Anwendung atomarer und postatomarer Militärtechnologien befasst, wodurch es ihr möglich wurde, ihre „Alchemie-These“ und damit die Kritische Patriarchatstheorie um eine zusätzliche Ebene zu erweitern. So charakterisiert sie die modernste Form der Alchemie als „Militär-Alchemie“ und zeigt auf, dass das utopische Projekt einer „Schöpfung aus Zerstörung“ eine neue Makro-Dimension in Form des „ultimativen Muttermords“ an der Erde selbst erreicht hat: der Planet als solcher, so Werlhof, soll in eine riesige (Kriegs-)Maschine verwandelt werden. Das Jahr 2010 könnte in dieser Hinsicht als entscheidender Wendepunkt in Claudia von Werlhofs Leben und Wirken betrachtet werden. Öffentlich wies sie auf eine Diskussion hin, die die Anwendung derartiger Technologien im Umwelt- und Katastrophenbereich thematisierte, insbesondere auf die Arbeiten von Rosalie Bertell (v. a. auf ihr Buch „Planet Earth. The Latest Weapon of War“) sowie die Erkenntnisse anderer engagierter NaturwissenschaftlerInnen auf diesem Gebiet. Es folgte eine Reihe von Kontroversen und Konflikten, die nicht nur „altbekannte GegnerInnen“ auf den Plan rief, sondern auch den schmerzlichen Bruch mit WeggefährtInnen zur Folge hatte. Werlhof sah sich regelrechten Diffamierungen ausgesetzt, die sie als Wissenschaftlerin wie als Person zu diskreditieren versuchten. Dennoch setzte Claudia von Werlhof ihre Forschungen auf diesem Gebiet fort. Und indem sie sich als Sozialwissenschaftlerin verstärkt mit (militärisch‑)naturwissenschaftlichen Zusammenhängen vertraut machte sowie deren Alternativen studierte, ließ sie die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen weit hinter sich. Noch im Jahr 2010 gründete sie die „Planetare Bewegung für Mutter Erde – PBME“, und 2011 war es ihr möglich, eine deutsche Fassung von Rosalie Bertells Buch unter dem Titel „Kriegswaffe Planet Erde“ zu veröffentlichen. Claudia von Werlhof arbeitet derzeit an ihrem opus magnum zur Kritischen Patriarchatstheorie, in dem sie sich mit dem Patriarchat als „Zivilisation der Alchemisten“ beschäftigt.
Zum Inhalt des Buches
So liegt sie nun vor, diese Festschrift stattlichen Umfangs, die Beiträge von langjährigen WeggefährtInnen und FreundInnen, SchülerInnen und Geistesverwandten, aber auch KritikerInnen von Claudia von Werlhof vereint. Und wir sehen: Es ist gut geworden! So bewegt und vielfältig sich Claudias Leben zeigte, so begegnen uns auch die Beiträge in diesem Buch. Kaum übersehbar ist zunächst die Tatsache, dass darin deutsch- wie englischsprachige Artikel nebeneinander zu finden sind, und selbst ein spanischer Beitrag (mit englischer Übersetzung) hat den Weg ins Buch gefunden. Wir haben uns bewusst gegen eine einheitliche Übersetzung ins Deutsche entschieden, um die internationale Vernetzung von Claudia von Werlhof aufzuzeigen, deren Engagement und Arbeit weit über die Grenzen Österreichs und Europas hinausreichen. So finden wir also Beiträge, die sowohl sprachlich, im Ausdruck, in ihrer Form, in ihrem Inhalt und von der Perspektive her vielfältiger nicht sein könnten. Und doch weisen sie alle – auf die eine oder andere Weise – einen Zusammenhang mit Claudia von Werlhofs Werk und Wirken auf. Es ging uns nicht darum, einen Sammelband zur Kritischen Patriarchatstheorie zu publizieren, sondern das Umfeld der Kritischen Patriarchatstheorie zu erkunden, Kontinuitäten und Brüche festzustellen und aufzuzeigen, aus welchem Kontext heraus die Kritische Patriarchatstheorie entstanden ist und sich weiter entwickelt hat.
Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt (I.), der den Titel trägt: Claudia von Werlhof als Wegbegleiterin in die Dissidenz, oder: Über die Praxis des „sentipensar“, finden wir Artikel, die sich aus sehr persönlicher Perspektive mit Claudia von Werlhof und ihrem Werk auseinandersetzen. Diese Beiträge befassen sich unter anderem mit der eigenen Biographie und mit Claudia von Werlhofs Spuren, die darin zu finden sind.
Den Anfang macht Gustavo Esteva, dessen empathischer Essay Ausdruck seiner ganz eigenen Wahrnehmung von Claudia als einer radikalen und dissidenten Denkerin und Aktivistin ist, die in ihrer Kritik des herrschenden Systems keine Angst kennt. Er erinnert sich an den Beginn ihres wissenschaftlichen Werdegangs, an ihre Arbeit mit Indigenen und KleinbäuerInnen in Lateinamerika sowie an die wissenschaftlichen Texte, die daraus vor über 30 Jahren entstanden sind. Bis heute haben sie an Aktualität nichts eingebüßt. Der Begriff der „Hausfrauisierung“ liegt Esteva dabei besonders am Herzen, trug dieser doch wesentlich zum Verständnis der Rolle der „Dritten Welt“ für die industrialisierten Länder des Nordens bei. Claudia von Werlhof war zudem eine der ersten, die die Bedeutung der Antiglobalisierungsbewegung der Zapatisten in Mexiko erkannte. Die Freundschaft, die die beiden über die Jahre und über die geographische Distanz hinweg aufrecht erhalten konnten, führt Esteva abschließend vor allem auf eine Gemeinsamkeit zurück: das „sentipensar“ – das denkende Fühlen oder fühlende Denken.
Als nächstes kommt Mariam Irene Tazi-Preve zu Wort. Sie liefert uns in ihrem Beitrag einen an ihrer persönlichen Erfahrung als Studentin und spätere Wissenschaftlerin angelehnten Überblick über Claudia von Werlhofs Schaffen als Professorin an der Universität Innsbruck. Als ehemalige Doktorandin beschreibt sie ihr Kennenlernen der Kritischen Patriarchatstheorie, ihre Begeisterung sowie das Interesse am Gehörten in Claudias Vorlesungen und Seminaren. Sie teilt mit uns die Widerstände und Konflikte, denen sie auf ihrer weiteren beruflichen Laufbahn begegnete, sowie die Probleme und Hindernisse, die sie am eigenen Leib in der Praxis der Arbeitswelt zu spüren bekam. Dabei verknüpft sie ihren Erfahrungsbericht mit der Darstellung ihrer aktuellen Forschungsschwerpunkte zu Mutterschaft im Patriarchat sowie der Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie als zentraler Säule der patriarchalen Gesellschaft.
Und schließlich blickt Ursula Scheiber mit uns gemeinsam zurück an den Beginn ihres „Eintauchens“ in die Kritische Patriarchatstheorie sowie ihrer Beschäftigung mit den Bergen als Doktorandin bei Claudia von Werlhof. Sie erkennt dabei die Begriffe „Berg“ und „Leben“ als zentral für ihre wissenschaftliche Forschung, die in ihrer Synthese als „Bergleben“ die lebensbejahende Prämisse für eine mögliche Alternative zum gegenwärtigen, feindlichen Umgang mit der alpinen Bergnatur bilden. Diesen analysiert Scheiber als lokalen und vor Ort stattfindenden Versuch, die patriarchale Utopie einer „Neuschöpfung“ des Berges aus seiner Zerstörung heraus umzusetzen. Die Lebendigkeit der Berge (wieder) wahrzunehmen und demnach ein naturfreundliches und lebensbejahendes Naturverhältnis einzunehmen, formuliert sie als möglichen Ausweg aus der zerstörerischen Krisensituation, die gegenwärtig das zukünftige Leben in den Bergen grundlegend bedroht.
Der zweite Abschnitt (II.) Das „kapitalistische Patriarchat“ als Weltsystem – Allgemeine Analyse und konkrete Beispiele des Umgangs mit Frauen und Natur widmet sich, wie der Titel bereits andeutet, nicht nur der generellen Analyse des „kapitalistischen Patriarchats“ als „allgemeinem Kriegssystem“, sondern zeigt anhand konkreter Beispiele zudem auf, wie v. a. Natur und Frauen, die im Kapitalismus als auszubeutende „Ressourcen“ gleichgesetzt werden, unter der patriarchalen Gesellschaftsordnung in ihrer modernen Ausprägung zu leiden haben.
Den Beginn macht hier Immanuel Wallerstein, dessen Weltsystemanalyse für Claudia von Werlhofs Schaffen und somit für die Entstehung der Kritischen Patriarchatstheorie von großer Bedeutung war. In seinem Artikel World-System Analysis and Critical Theory of Patriarchy eröffnet uns Wallerstein einen Einblick in die Verbindung zwischen beiden Theoriegebäuden – der Weltsystemanalyse und der Kritischen Patriarchatstheorie. Dabei zeigt er nicht nur Kontinuitäten in Thesen und Ausgangnahmen, sondern vor allem auch Brüche, Differenzen und Grenzen auf. Wallerstein geht davon aus, dass wir gegenwärtig zwei tiefgreifende, miteinander verwobene Strukturkrisen erleben: die Krise des kapitalistischen sowie die Krise des patriarchalen Systems. Er geht in seinen Ausführungen der Frage nach möglichen Alternativen nach und betont, dass eine demokratische und egalitäre Gesellschaft nicht ohne das Konzept des „buen vivir“ entstehen kann. Gemeinsam mit Claudia von Werlhof gelte es, eine „bessere“, nicht-patriarchale Welt zu suchen, die nicht unter dem Primat der Kapitalakkumulation steht. Zudem müsse man u. a. ökologische Fragen in den Blick nehmen, neue Konzepte für Energiegewinn und -verbrauch finden sowie bestehende Bedürfnisse hinterfragen. Wallerstein schließt mit dem Aufruf, Differenzen zu überwinden, um stattdessen mit gemeinsamen Kräften für eine mögliche „bessere“ Welt zu kämpfen.
In ihrem Artikel The Raid wendet sich Barbara Alice Mann sodann einem der Kernelemente des Patriachats zu: der Angriffs- und Überfallskultur. Sie beschreibt aus indigener Sicht das Dilemma, in dem die Menschen, die in eine derartige Kultur hineingeboren werden, stecken sowie die falschen Hoffnungen und Illusionen, die eine solche mit sich bringt. Vom Feudalismus über den Kolonialismus bis hin zum „Turbokapitalismus“ zeigt Mann historisch und aktuell auf, wie sich die Angriffskultur des Patriarchats zunehmend ausbreitet und immer mehr Opfer fordert – allem voran Frauen und indigene Völker auf der ganzen Welt sowie Mutter Erde. Wer aus einer von der Überfallskultur geprägten Zivilisation ausbrechen will, sieht sich mit dem Angriff auf das eigene Menschsein und der Bedrohung seines Lebens konfrontiert – eine Tatsache, die auch Claudia von Werlhof bereits im Zusammenhang mit ihren Forschungen zur „Militäralchemie“ am eigenen Leib erfahren musste. Barbara Mann schließt ihren Beitrag mit der Frage nach einer Alternative zum Patriarchat im Allgemeinen sowie dem Kapitalismus im Besonderen und verweist auf das Matriarchat und die Schenkökonomie.
Der dritte Beitrag des zweiten Abschnitts stammt von Veronika Bennholdt-Thomsen. Sie beschäftigt sich in ihrem Aufsatz Von Frauenforschung und Frauenstudien zu Gender Studies mit der Relevanz der Geschlechterfrage und ihrer spezifischen Begrifflichkeit für den Entwicklungs- bzw. Globalisierungsdiskurs. Dabei zeigt sie auf, dass der sog. „gender“-Ansatz, wie er Ende der 1990er Jahre gegen jene Frauenforschung installiert wurde, die sie gemeinsam mit Claudia von Werlhof und anderen Mitstreiterinnen zwei Jahrzehnte zuvor erkämpft hatte, zur Zurückweisung der „biologistisch“ legitimierten Geschlechterhierarchien gar nicht notwendig sei. Als Bestandteil der Entwicklungsideologie diene er, wie sie bspw. anhand der WTO-Politik aufzeigt, vielmehr der Rechtfertigung der neoliberalen Globalisierung, bei der es sich um einen spezifischen Enteignungsprozess handle, der die von örtlichen, genealogischen und leiblichen Zugehörigkeiten bestimmte natürliche Vielfalt negiere und durch eine am Weltmarktprofit orientierte, künstlich produzierte Monokultur internationaler Chemiemultis ersetzen wolle (hybrides und genmodifiziertes Saatgut statt regionale Versorgungs-Lebensmittel). Sie zeigt, wie verheerend der „gender“-Ansatz, den sie als „Biologismus pur“ dechiffriert, insbesondere in der deutschsprachigen Rezeption gewirkt hat und plädiert als Alternative für die Subsistenzperspektive, die sich am „Mutterprinzip“ orientiert.
Im Anschluss daran rückt Jörg Becker in seinem Beitrag Der Missbrauch von Frauen in der Kriegsbildberichterstattung wesentliche Zusammenhänge innerhalb des „militärisch-sexistisch-medialen Industriekomplexes“ in den Mittelpunkt. Mit ausgewählten Beispielen aus Russland, Österreich, Israel, dem Iran und Libyen, dargestellt anhand von Bildern aus einer Privatsammlung von über 200 Pressefotos mit dem Motiv „Frauen im Krieg“, führt er unterschiedliche Zeugnisse der strukturellen Vermengung von Herrschaft, Gewalt, Krieg, Sexualität und Geschlecht vor Augen. Dabei wird die Visualisierung patriarchaler Macht und Gewalt durch eine deskriptive Form des Kommentars ergänzt, die zugleich historische Kontinuitäten und Brüche innerhalb der modernen Kriegsberichterstattung deutlich werden lässt.
Und last but not least erzählt Andreas Exenberger in seinem Aufsatz über die Arroganz des Kapitalismus und die Beharrlichkeit der Natur die Geschichte eines Industrietycoons, der an dem Versuch gescheitert ist, den Dschungel zu besiegen. Es handelt sich dabei um Henry Ford, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die erste Kautschukplantage in der westlichen Hemisphäre errichten wollte und dafür sein Konzept der effizienten Fabriksarbeit als Industriestadt „Fordlândia“ in den brasilianischen Dschungel verpflanzte. Exenberger schildert, wie sich das Ökosystem, in das die eigens konstruierten Bäume zur Kautschukgewinnung eingebettet wurden, gegen seine Vernichtung zur Wehr setzte und wie die errichtete Monokultur schließlich an einer Blattkrankheit einging. Die Geschichte von „Fordlândia“ könne, so Exenberger, als eine Art Miniatur der Kolonisierung gesehen werden und erinnere frappierend an viele spätere Entwicklungsprojekte, die vom technokratischen Geist des Kapitalismus getragen sind, der stets an der „alchemistischen“ Neuschöpfung von Mensch und Natur, d. h. der Verwandlung des wahren Lebens in etwas Künstliches, scheitere.
Während sich Abschnitt II. vorwiegend der Analyse und beispielhaften Abschilderung der Auswüchse des kapitalistischen Systems gewidmet hat, geht es im dritten Abschnitt (III.), einen Schritt weiter, bereits um mögliche Alternativen dazu. Dementsprechend lautet der Titel: Auswege aus dem „kapitalistischen Patriarchat“ – Die Subsistenzperspektive als dissidente Praxis weltweit. Hier finden sich konkrete Beispiele von Konzepten und Bewegungen wieder, die Ausdruck der Bemühungen sind, alternative Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu erarbeiten.
Den Beginn macht die Ökofeministin Vandana Shiva, die sich in ihrem Beitrag kritisch mit den Begriffen und Konzepten der „green economy“ sowie des „nachhaltigen Wirtschaftens“ auseinandersetzt. Dabei entlarvt sie „green economy“ als den patriarchalen Versuch, unter einem „ökologischen Deckmantel“ sämtliche natürliche Güter sowie die Erde selbst weiterhin zu technologisieren, zu monetarisieren und zu privatisieren. Die zunehmende Zerstörung der Natur, die Beschneidung demokratischer Prinzipien und die weltweite Zunahme von Gewalt und Armut analysiert sie als eine ausweglose Situation, in der die „green economy“ keine Alternative darstellt, auch wenn sie sich als solche präsentieren möchte. Stattdessen plädiert sie für eine „Gaia-Ökonomie“, die die Rechte von Mutter Erde achtet, sowie eine damit verbundene Erddemokratie als eine politische Bewegung, die von „unten“ kommend entstehen muss.
Silvia Federici wendet sich danach aus feministischer Perspektive den „commons“ als Grundlage einer alternativen, antikapitalistischen Wirtschaftsweise zu, die gegenwärtig durch verschiedene soziale Bewegungen eine Renaissance erleben. Dabei streicht sie besonders die traditionelle Verbindung von Frauen und „commons“ hervor: Frauen sind als die primären Subsistenzproduzentinnen diejenigen, die sich als erste gegen die laufende fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation von Boden und Naturgütern zur Wehr setzen (müssen). Federici weist allerdings auch darauf hin, dass aufgrund der Gefahr der Plünderung sowie der Usurpation durch das kapitalistische System bei der Suche nach Alternativen Vorsicht geboten sei. Trotzdem sieht sie in den „commons“ die primäre Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem, die lokal und von Frauen ausgehend (wieder)entdeckt werden müsse.
Auch Maria Mies, langjährige Weggefährtin und Mitstreiterin von Claudia von Werlhof, widmet sich in ihrem, der Internationalität des Themas entsprechend auf Englisch verfassten Text der „neuen Attraktivität“ der „alten“ Wirtschafts- und Gesellschaftsform der „commons“. Sie betont, dass „commons“ nur sinnvoll sein und als Alternative gelebt werden können, wenn sie in eine Gemeinschaft der Verbundenheit und eine Wirtschaft der Subsistenz eingebettet sind und damit das gemeinsame Sorge-Tragen sowie die generelle Pflege des Lebens ermöglichen. Mies schildert die ursprüngliche Charakteristik der „commons“ sowie ihre Zerstörung durch Privatisierung der ehemaligen Gemeingüter. Dieser Prozess war und ist bis heute begleitet von Gewalt und Krieg und wurde im 20. Jahrhundert global institutionalisiert. In ihrem Text geht sie sowohl auf konkrete Widerstandsbewegungen gegen die Vereinnahmung und Privatisierung der „commons“ als auch auf das Internet ein – jenes vielgepriesene „neue Gemeingut“, dessen zerstörerische Wirkung und Charakter sie ebenfalls kritisch beleuchtet.
Resisting Capitalist Patriarchy: The Nayakrishi Way heißt der Artikel von Farida Akhter, der uns im Anschluss daran zunächst einen kurzen Einblick in ihre persönliche Beziehung sowie die bestehende inhaltliche Nähe zur Patriarchatskritik und Subsistenzperspektive von Claudia von Werlhof, Maria Mies und Veronika Bennholdt-Thomsen liefert. Die gemeinsame Betroffenheit sowie der Zusammenhang zwischen Frauen des Nordens und Südens innerhalb des kapitalistisch-patriarchalen Systems stehen für Akhter im Zentrum. Sie widmet sich speziell den destruktiven Auswirkungen des patriarchalen Natur- und Geschlechterverhältnisses in Bangladesh. Am Beispiel der „Nayakrishi“-Initiative beschreibt sie, inwieweit Landwirtschaft und Produktion jenseits der Trennung von Produzent und Produkt bzw. der systematischen Anwendung destruktiver Technologien im Rahmen industrieller Produktionsweise erfolgen können. Dem neoliberalen Diktat „TINA“ (There is no alternative!) hält Akhter dabei das „TAMA“ (There are many alternatives!) entgegen und zeigt damit die Bedeutung dissidenter Praxis gegenüber der neoliberalen Globalisierung auf.
Der letzte Aufsatz dieses Abschnitts mit dem Titel Wenn die Bauern wiederkommen – revisited stammt von Christa Müller, die auf aktuelle Phänomene unterschiedlicher Gegenbewegungen zur heutigen postfordistischen Industrie- und Konsumgesellschaft, wie z. B. das „guerilla gardening“, eingeht. Sie interpretiert die erstarkenden Gegenbewegungen als Zeichen der sich „zuspitzenden Verwerfungen“ der Gegenwart. Dabei beschreibt sie die zentralen Hintergründe und Motive einer subsistenzorientierten, heterogenen, jungen Ökobewegung, der es neben gelebter Partizipation und Wissensaustausch v. a. um eine Versorgungsökonomie jenseits von Verwertungslogik geht. Zugleich lenkt Müller ihre Aufmerksamkeit auf die unmittelbaren Auswirkungen der Einflussnahme neuer subsistenzorientierter Praxen und Kulturtechniken auf das Selbstverständnis moderner Städte.
Nach diesem eher praxisbezogenen Teil geht es in Abschnitt IV. vorwiegend um theoretische Fragen und Problemkonstellationen, die innerhalb des begrifflichen Bezugsrahmens Natur – Leben – Leiblichkeit – Zusammenhang angesiedelt werden können. So steht hier weniger eine spezifisch ökonomische Kapitalismuskritik im Vordergrund, sondern es geht, dem Untertitel des Abschnitts entsprechend, um philosophische Überlegungen zu einem anderen Naturverhältnis. Dies impliziert Technikkritik genauso wie die Kritik an herrschenden Denkformen und Ideologien v. a. in Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Natur, sodass auch Fragen des Transzendenzverhältnisses nicht unberührt bleiben.
Der Abschnitt beginnt mit dem Beitrag von Renate Genth mit dem Titel Vom alten Naturverhältnis zur modernen Naturwissenschaft – Mortifikation als systemische Methode, in dem sie sich mit der gegenwärtigen Krise im Naturverhältnis sowie den Konsequenzen daraus beschäftigt. Unter Anwendung des Begriffs der „Mortifikation“, den sie Claudia von Werlhofs Konzeption der patriarchalen Alchemie als „Schöpfung aus Zerstörung“ entlehnt, veranschaulicht Genth die Praxis patriarchaler Alchemie („Mortifikation“) als „Patriarchat in Aktion“ in moderner Naturwissenschaft, kapitalistischer Wirtschaft und Maschinentechnik. Sie verweist auf die konkrete Ausgestaltung des für die Moderne charakteristischen lebensfeindlichen Naturverhältnisses in Form von Abstraktion und zugleich auf die immer bedrohlicher werdende „Mortifikation“ des lebendigen Denkens. Angesichts der zunehmenden Aufkündigung des Wirklichkeitsverhältnisses, das sich nicht zuletzt in der grundlegenden Abnahme menschlicher Denk-, Unterscheidungs- und Handlungsfähigkeit äußert, zeigt sich Genths Analyse zufolge die Notwendigkeit einer bislang ungenügenden Wiederbelebung einer „Ethik der Lebensfreundlichkeit“ und der Durchsetzung echter menschlicher Vernunft.
Danach versucht Simone Wörer in ihrem Artikel Homo transformator und die Krise der Weiter-Gabe die These zu belegen, wonach der Kern des Patriarchats von psychotischer und nekrophiler Qualität ist. Insbesondere seit der Neuzeit, v. a. mit der Etablierung der modernen (Natur-)Wissenschaft und der Entwicklung der Maschinentechnik, werde die konkrete Realisierung der Utopie (als kollektiv-psychotische Phantasie) einer patriarchalen Neuschöpfung von Welt als mutter- und naturunabhängiger radikalisiert. Im Zuge der Anwendung der Kritischen Patriarchatstheorie als Bildungstheorie führt Wörer ein neues Menschenbild ein, den „homo transformator“. Er ist zentraler Akteur der „Megamaschine“ und soll v. a. in den Institutionen, die die Bereiche Bildung und Wissenschaft, d. h. Wissensgenerierung und Wissensvermittlung, okkupieren, (technologisch) hergestellt werden. Als Kontrast dazu und vor dem Hintergrund der Bestrebung, eine patriarchatskritische Theorie der Gabe zu formulieren, eröffnet uns Wörer in ihrem Beitrag den Blick auf ein mögliches alternatives Bildungs- und Wissenschaftsverständnis als „Weiter-Gabe“, in dessen Zentrum Genevieve Vaughans „homo donans“ steht.
Angesichts des allseits (wieder-)entdeckten „Körperdiskurses“ setzt sich die Philosophin Elisabeth List im Anschluss daran in ihrem Artikel Was heißt Leben? Biopolitik, Biotechnologie und die Frage nach dem Lebendigen mit Formen der Verfügung und Instrumenten zur Herrschaft über das Leben auseinander. Leben, so List, erscheine im Kontext der Biotechnologien und der Biopolitik als wissenschaftlich, politisch und technisch zu kontrollierende Ressource. In ihrem Blick auf erkenntnistheoretische Prämissen und Entwicklungen zeigt sie auf, wie das Leben als „Erzeugnis des Labors“ und mit dem Vorstoß in die molekulare Dimension zunehmend technisch manipulierbar und verfügbar gemacht wird („life sciences“). Sie weist darauf hin, dass Biopolitik seit der Antike darauf abzielt, den „Volkskörper“ mittels Überwachung, Bestrafung bzw. mit verschiedenen Techniken der Medizin und schließlich der Biotechnologie zu modellieren, um bevölkerungspolitische Ziele zu realisieren. Insbesondere der Körper der Frau als „generatives Potential“ sei vornehmliches Objekt biopolitischer Kontrolle und biotechnologischer Manipulation. List stellt in ihrem Artikel die Frage danach, was das „Leben“ ist und betont die Notwendigkeit einer „Sicht von innen“ auf die Situiertheit und Positionalität, die sie als Grundstrukturen des Lebendigen herausarbeitet. Daneben verweist sie v. a. auf die (ureigene) Spontaneität, Selbstbewegung, Umweltfähigkeit, Sensitivität und Leiblichkeit. List zeigt, dass erst die Erfahrung und Akzeptanz der Begrenzung des Lebens uns letztendlich eine neue Sicht desselben eröffnen könne, die dieses nicht mehr zum Objekt erklärt.
Danach geht Mathias Behmann in seinem Aufsatz mit dem Titel Natur und Leiblichkeit bei Heidegger und Descartes – Patriarchatskritische Überlegungen zu einer Rehabilitation ‚vorkritischer‘ Metaphysik der Frage nach, wie innerhalb der Philosophie auf die gegenwärtige Zivilisationskrise zu reagieren wäre, die im Kern als Krise des Naturverhältnisses der vorherrschenden Gesellschaftsordnung begriffen wird – dem global gewordenen „kapitalistischen Patriarchat“. Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der subjekt- bzw. transzendentalphilosophischen Tradition abendländischen Philosophierens, dargestellt anhand von Descartes und Heidegger, plädiert er für eine Wiederaufnahme des Naturbegriffs bzw. der Natur in den philosophischen Diskurs, die seit Descartes und Kant als eigenständige, lebendige Realität keine Rolle mehr spielt. Gegen den modernen Anthropozentrismus (inkl. Heidegger) ginge es, so Behmann, um den Aufbau einer neuen matriarchal-animistischen Naturphilosophie. Nur eine solche könne über den Umweg der Etablierung eines neuen Naturverständnisses einen Beitrag zur Lösung der gegenwärtigen Zivilisationskrise leisten, die auf einem antagonistischen Naturverhältnis basiert. Heideggers Frühphilosophie scheint dafür aber ungeeignet, weil sie nicht aus der transzendentalphilosophischen Umklammerung ausbricht und somit „idealistisch“ bleibt, während bei Descartes die Natur zwar noch als Substanz vorkommt, allerdings bereits in einer neuzeitlich deformierten Form (res extensa), wie sie ihrerseits die Grundlage bildet für die naturwissenschaftlich-technisch-ökonomische Weltbemächtigung und damit das alchemistische Welt-neu-„Schöpfungs“-Projekt des „kapitalistischen Patriarchats“.
Die „Negativität“ bildet für Werner W. Ernst die methodische „Ausgangnahme“ für eine „Mängelanalyse“, die er in seinem Beitrag „Negativität“, „Trennung“ und „vorlaufender Zusammenhang“ anhand von fünf grundlegenden und miteinander verwobenen „Modalitäten“ entfaltet: 1. Herkunft, Ursprung, Hervorbringung bzw. die Frage nach dem Anfang; 2. Liebe und Sexualität; 3. Gemeinschaft und Organisation; 4. Ökonomie; 5. Wissenschaft, Technik und Kunst. Allen thematisierten Bereichen ist eine auf (gewaltsamer) Trennung beruhende, setzende Denkform („Denkgewalt“) gemein. Darin kommt nach Ernst eine tiefgreifende Beschädigung des Menschen zum Ausdruck, der erst aus dem Verständnis des Zusammenhangs dieser Modalitäten und der je eigenen Verstrickung in diese („Eigendelinquenz“) entgegengewirkt werden könne. Werner Ernst zeigt auf, dass wir, solange wir „systemisch denken“, am zerstörerischen Geschehen der von ihm herausgearbeiteten Fundamentalmängel teilhaben, diese sogar weiter vorantreiben. Ein „Ausstieg“ aus dem System, so schwer vorstellbar ein solcher auch sein möge, kann nur über den Zusammensturz aller Systeme erfolgen, dem Hinter-uns-Lassen der „Systeme im Kopf“. Dann erst, so Ernst, könnte sich uns der (rettende) Blick auf ein Denken jenseits der Denkgewalt und der Setzungslogik offenbaren, ein nicht anthropozentrisches Denken, welches dem „vorlaufenden Zusammenhang“ geschuldet ist.
Der letzte Abschnitt (V.) des Buches mit dem Titel Jenseits des patriarchalen Paradigmas: Moderne Matriarchatsforschung, Matriarchatspolitik und die Ökonomie des Schenkens enthält Beiträge, die sich mit erkenntnistheoretischen und handlungsanleitenden Paradigmen auseinandersetzen, die sich generell an der Pflege des Lebens sowie am „Mutter-Kind-Verhältnis“ orientieren. Hier wird, da es um vorpatriarchale Verhältnisse geht, jener historische Bruch zum Patriarchat in seinen unterschiedlichen Dimensionen thematisiert, durch den wir aufgefordert sind, Matriarchat und Patriarchat als „zivilisatorische Grundmodelle“ voneinander zu unterscheiden und in ihrer jeweiligen Verfasstheit zu analysieren. Erst durch den Blick in die matriarchale Frühgeschichte bzw. auf noch lebende Matriarchate der Gegenwart, so die Einsicht, kann deutlich werden, was im Kontrast dazu Patriarchatskritik bedeutet.
In diesem Sinne bringt Heide Göttner-Abendroth mit ihrem Aufsatz über Die philosophischen Grundlagen der Modernen Matriarchatsforschung vorerst Klarheit in die seit ihren Anfängen bei Bachofen und Morgan von vielen Vorurteilen geprägte Matriarchatsdiskussion, indem sie eine klare, strukturelle Definition matriarchaler Gesellschaften vorlegt, die sie – basierend auf ihren eigenen jahrzehntelangen Forschungen in noch existierenden Matriarchaten – auf ökonomischer, sozialer, politischer und kulturell-weltanschaulicher Ebene beschreibt. Sie zeigt ihren Weg auf, der sie von der ursprünglichen Beschäftigung mit der europäisch-westlichen Philosophie, in der sie zunehmend ihre Identität als Frau vermisste, zur Begründung der Modernen Matriarchatsforschung als neuem Paradigma mit eigener Methodologie geführt hat, die einerseits aus einer weit gespannten Interdisziplinarität, andererseits aus einer tiefgreifenden Ideologiekritik besteht. So wurde es ihr möglich, den von patriarchaler Herrschaftsideologie geprägten und damit tendenziösen Begriff von „Geschichte“ zu korrigieren und v. a. auch die Ethnologie von Rückprojektionen bürgerlich-patriarchaler Verhältnisse in die frühe Kulturgeschichte zu befreien. Matriarchale Gesellschaften nämlich dürfen nicht – parallel zum Begriff „Patriarchat“ – als „Frauen- bzw. Mütterherrschaft“ begriffen werden, sondern es handelt sich dabei, wie Göttner-Abendroth betont, um friedliche, herrschaftsfreie, egalitäre Konsens- bzw. Ausgleichsgesellschaften mit einer sakralen Kultur, in der die gesamte Welt als göttlich gilt.
Im Anschluss daran geht Kurt Derungs in seinem Beitrag mit dem Titel Kontinuität, Diskontinuität und animistische Naturphilosophie der Frage nach, wie in der Archäologie und den Kulturwissenschaften allgemein mit der Interpretation von gesellschaftlichen Umwälzungen und Brüchen verfahren wird. Dabei plädiert er für einen Paradigmenwechsel weg von klassisch patriarchalen Fortschrittstheorien, wie etwa evolutionistischen Ansätzen oder dem materialistisch-dialektischen Weltbild, die zwar Veränderungsprozesse im Sinne soziologischer Brüche feststellen, diese aber umgehend in einem Kontinuum des steten Wachstums und Kulturfortschritts verorten. Geht man hingegen vom matriarchalen Paradigma aus, d. h. von der gesellschaftlichen Verfasstheit matrifokaler Gemeinschaften, wie sie die Moderne Matriarchatsforschung beschreibt, können, so Derungs, andersgesetzliche (nicht-patriarchale) Phänomene erst in ihrer ursprünglichen Bedeutung, abseits etwa kolonialistischer Projektionen, erkannt und damit Brüche als echte Zäsuren deutlich werden. Den großen Bruch vom animistisch-matrifokalen Paradigma zur Etablierung einer patriarchalen Trennungs- und Herrschaftsideologie erläutert Derungs dabei anhand von vier Beispielen aus der Landschaftsanthropologie, wobei es bei allen erwähnten Muttergöttinnen bzw. ursprünglich allumfassenden Landschaftsahninnen im Laufe ihrer Transformationsgeschichte nicht nur zu einer Reduktion ihrer Funktion, sondern auch zu einer Vermännlichung bzw. „Verväterlichung“ im Sinne einer Usurpation ihrer schöpferischen Potenz kommt.
Und abschließend plädiert Genevieve Vaughan in Shifting the Paradigm to a Maternal Gift Economy für ein neues Paradigma, das die Schenkökonomie („gift economy“) als mütterlich-nährendes Prinzip sichtbar macht. Anhand der ursprünglichen Erfahrung, dass in der Mutter-Kind-Beziehung nicht das Tauschprinzip, sondern das Schenkprinzip wirksam ist, zeigt Vaughan auf, dass es sich beim Schenken um eine Ur-Logik handelt, die aller Ökonomie zugrunde liegt, wobei sie vom Tauschparadigma des kapitalistischen Marktes pervertiert, geplündert und systematisch zerstört wird. Die Schenkökonomie wird von indigenen und matriarchalen Gesellschaften praktiziert, doch auch im Kapitalismus findet sie ihren Ausdruck, beispielsweise in der Haus- und Pflegearbeit sowie generell in allen Tätigkeiten, die der Subsistenzorientierung entspringen. Vaughan zeigt auf, wie die Schenklogik Beziehungs- und Gemeinschafts-stiftend wirkt – dies, so Vaughan, betreffe nicht nur den zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch die Beziehung zwischen den Menschen und der Natur. Sie appelliert daran, dass es anstelle der Assimilation an das zerstörerische und Gabe-plündernde kapitalistisch-patriarchale System essentiell sei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir das Schenken brauchen, um überleben zu können, ja dass wir eine „maternal species“, also eine mütterlich-fürsorgliche Gattung sind. Es ist nach Vaughan an der Zeit, dies zu respektieren und aktiv zu pflegen. […]
Die Jubilarin selbst kommt in dieser Festschrift nicht mit einem eigenen Beitrag vor. Wir wollen es uns jedoch nicht nehmen lassen, dieses Vorwort mit ihren Worten abzuschließen:
„Aber unser Denken, Fühlen und Handeln wird letztlich an den Fragen der Zeit gemessen werden und nicht an dem, was uns lieber wäre. Das Leiden an dieser Zeit der Zerstörung, nicht ihre aus dieser Sicht fragwürdige Idylle, ja, unsere weltweite Betroffenheit und unser Wunsch, dieser Situation, die wir als systematisch produzierte zu begreifen gelernt haben, ein Ende zu bereiten, haben der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, Analysen und Praxen zu sein.“[3]
Innsbruck, im Februar 2013
1 Seit 1996 erscheint im Peter Lang Verlag die von Claudia von Werlhof herausgegebene Reihe „Beiträge zur Dissidenz“, die mittlerweile bereits 28 Bände zählt.
2 Uschi Beiler übermittelte uns ihr Bild mit den Worten: „Claudia ist eine echte Amazone! Sie geht unbeirrbar ihren Weg, nichts kann sie aufhalten, für Mutter Erde zu kämpfen! Vergelt’s Göttin!“
3 Werlhof, Claudia von: Die „Kritische Patriarchatstheorie“ – Alternative zur Herrschafts- und Transformationslogik neuzeitlicher Wissenschaft. In: Projektgruppe „Zivilisationspolitik“ (Hg.): Kann es eine „neue“ Erde geben? Zur „Kritischen Patriarchatstheorie“ und der Praxis einer postpatriarchalen Zivilisation, Peter Lang, Frankfurt a. M., 2011, S. 40
* Bei diesem Text handelt es sich um das leicht gekürzte Vorwort der HerausgeberInnen von Verantwortung – Anteilnahme – Dissidenz: Patriarchatskritik als Verteidigung des Lebendigen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Claudia von Werlhof. Dem Peter Lang Verlag danken wir für die Abdruckgenehmigung.