Vor ein paar Monaten beim Zügeln die Frage vor dem Büchergestell: Was wird ausgeschieden, was nicht? Nie geht man seine Bibliothek so minuziös durch wie bei dieser Gelegenheit, und da kommen Dinge zum Vorschein, ich traute meinen Augen kaum. Besonders berührt haben mich die zerfledderten, auf schlechtem Recycling-Papier gedruckten Junius-Bücher aus den Siebzigerjahren mit Adorno-Vorlesungen … vorwärts
Theorie-Galerie
Kritisches Denken entspringt nicht dem Nichts. Erfahrungen prägen uns, aber auch Lektüren. Zuweilen mag ein funkelnder Gedanke, ein einschneidender neuer Ansatz genügen, um uns zu entzünden. Wir werden davon geprägt und kommen nicht mehr davon los, auch wenn wir womöglich davon weggekommen sind. Die Theorie-Galerie versammelt solche Funken. Autorinnen und Autoren aus einem breiten Spektrum stellen jeweils ein Buch vor, das sie und ihre Weltanschauung, ihre theoretische Arbeit, ihr politisches Engagement geprägt hat. Die persönliche Lektüre wird dabei gesellschaftspolitisch bedeutsam.
So wird die Theorie-Galerie zu einem kollektiven Gedächtnis und einem kollektiven Fundus von theoretischem Bewusstsein. Sie wird laufend ergänzt.
Fritz Billeter über Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Zwei Schriften mussten wir 68er unbedingt gelesen haben: Die Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung (1972 ins Deutsche übersetzt) und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936 erstmals in Paris erschienen. Die beiden Publikationen haben wenig gemein. Das «Rote Büchlein» kam im bereits revolutionierten China heraus, es diente als Anleitung zur Praxis und richtete sich … vorwärts
Willy Spieler über Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde
Ich bin mit Jahrgang 1937 kein 68er, eher ein 56er, der seine Texte nicht mit ‹ich› beginnen dürfte. 1956 steht für eine angepasste Jugendbewegung, der die sowjetischen Panzer gegen den ungarischen Volksaufstand den Antikommunismus leicht, zu leicht machten. Suspekt waren mir freilich die damaligen Protestaktionen, Fackelzüge und Bittgottesdienste inklusive, wie ich sie als Luzerner Kantonsschüler … vorwärts
Ueli Mäder über Marianne Gronemeyer: Motivation und politisches Handeln
Marianne Gronemeyer analysiert in ihrer Studie «Motivation und politisches Handeln», was sozial Benachteiligte dazu motiviert, sich für eigene Interessen einzusetzen. Sie verknüpft ihre theoretischen Überlegungen mit konkreten Lebensgeschichten. Ich entdeckte ihre Studie im Rahmen unserer Arbeitsgruppe «Kritische Psychologie» an der Uni Basel. Die Studie begleitet mich bis heute. Nach der kollektiven Kapital-Lektüre im Basler Rosshof, … vorwärts
Peter Winzeler über Friedrich Wilhelm Marquardt: Theologie und Sozialismus
Als Pfingsten 2014 der Unternehmer und Rechtspolitiker Christoph Blocher und der linke Soziologieprofessor und Uno-Botschafter Jean Ziegler sich im «Tagesanzeiger» zum Thema Gottesglaube duellierten, gab es kein gemeinsames Erbe, kein Theorem oder Moralexempel (ob von Kant oder Marx), kein praktisches Bindeglied – ausser dem Theologen Karl Barth. Ein Zufall war das nicht. Der Faschismus hatte … vorwärts
David Loher über Karl Marx: Die Kritik des Hegelschen Staatsrechts
Dem Fragment «Kritik des Hegelschen Staatsrechts» von Karl Marx begegnete ich zum ersten Mal am Institut für Philosophie an der FU Berlin. Offiziell eingeschrieben war ich zwar am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität. Doch einmal die Woche fuhr ich statt mit dem Fahrrad an die Mohrenstrasse mit der S1 vom nahen Nordbahnhof … vorwärts
Peter Streckeisen über Pierre Bourdieu: Der Staatsadel
Zweifellos zählt «Der Staatsadel» nicht zu den bekanntesten Büchern Pierre Bourdieus. Die deutsche Ausgabe erschien erst 2004, ganze 15 Jahre nach dem französischen Original. Damit war eine erste Fährte für die Interpretation dieses Buchs verwischt, denn das ursprüngliche Erscheinungsjahr war von höchster symbolischer Bedeutung: Zum 200-jährigen Jubiläum der Französischen Revolution wollte Bourdieu aufzeigen, dass dieses … vorwärts
Anni Lanz über Ryad Assani-Razaki: Iman
Als ich Dala eröffnete, dass seine zwei Zimmernachbarn in der Dreizimmerwohnung ein Algerier und ein Türke sein werden, erschrak er und sagte unvermittelt: «Aber das geht doch nicht. Sie werden mich, den Schwarzhäutigen, nicht akzeptieren.» Diese spontane Reaktion hat mich überrascht und an Ryad Assanis Roman erinnert: «Wir können das Elend nicht besiegen. Es liegt … vorwärts
Michael Herzka über Ulrich Menzel: Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der grossen Theorie
Das Ende des Kalten Krieges war nicht nur für die direkt betroffenen Staaten eine historische Zäsur, sondern hatte auch dramatische Auswirkungen für diejenigen Länder, die damals zur ‹Dritten Welt› gezählt wurden. Das begann schon bei den Begriffen: Wenn die Zweite Welt verschwand, dann machte die Konzeption einer Dritten keinen Sinn mehr. Und mit der Auflösung … vorwärts
Stefan Howald über Projekt Ideologie-Theorie: Theorien über Ideologie
Natürlich, da gab es Louis Althusser. Ideologie und ideologische Staatsapparate, ein längerer Aufsatz, 1969 von ihm geschrieben, war auf Deutsch 1973 erschienen, in einer schlechten Übersetzung und in einer dilettantisch zusammengestellten und drucktechnisch katastrophal aufgemachten Artikelsammlung, beinahe einem Raubdruck. Darin tauchten leuchtende Gedanken auf, eher Gedankensplitter: dass Ideen, Ideologien nicht blosse Gedanken, luftige Gespinste sind, … vorwärts