Vor ein paar Monaten beim Zügeln die Frage vor dem Büchergestell: Was wird ausgeschieden, was nicht? Nie geht man seine Bibliothek so minuziös durch wie bei dieser Gelegenheit, und da kommen Dinge zum Vorschein, ich traute meinen Augen kaum. Besonders berührt haben mich die zerfledderten, auf schlechtem Recycling-Papier gedruckten Junius-Bücher aus den Siebzigerjahren mit Adorno-Vorlesungen zur Ästhetik, die er in den Jahren vor seinem Tod, während der Arbeit an der «Ästhetischen Theorie», gehalten hatte. In diesen Abschriften nach Tonbandaufnahme war ein anderer Adorno zu vernehmen als jener der Suhrkamp-Bände, einer, den auch der Anfänger verstand – und verstehen wollte, wie die Randnotizen und Unterstreichungen dokumentieren. Die Bücher kamen mit in die neue Wohnung.
Solche Raubdrucke bildeten sozusagen das Vorspiel zu Büchern, die mich in dieser Phase des Lebens und Lesens geprägt haben, Bücher, die mit den im Umkreis der Frankfurter Schule entwickelten Theorien zur Kunst arbeiteten, darunter Rudolf zur Lippes «Naturbeherrschung am Menschen». Hier war ein Geist am Werk, der die Dogmatismen jedweder linken Splittergruppenprovenienz zum Tanzen brachte, selbst mit hegelianisch geschulten Formulierungen, die doch selten tänzeln. Denn es ging um Tanz, um Ballett, um die leichteste und, so verstand es sich bisher für mich von selbst, mit Bedeutung doch am wenigsten von allen Kunstäusserungen beschwerte Form, reiner Körperausdruck. Selbstverständlichkeiten zu erschüttern ist das grösste Verdienst, das ein Buch für sich in Anspruch nehmen kann.
Mich interessierte der zweite Band, der von der «Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus» handelt. Die Ära des Kaufmannskapitals lag mir ferner. Am italienischen Quattrocento hatte zur Lippe die Entwicklung des Balletts im ersten Band dargestellt und in den Zusammenhängen von höfischer Freistellung von Reproduktion und den Zwängen ursprünglicher Akkumulation erläutert. Dass sich Gewalt und Disziplinierungen des Kapitalismus im Körper ablagern, ahnte man zwar, schliesslich tauchte damals gerade das Werk von Norbert Elias wieder aus der Versenkung auf, und Foucaults Bücher waren schon breit rezipiert, auch von zur Lippe; dies aber en détail zu zeigen und auch, wie es dazu kam, ist noch mal etwas Anderes: Sozial-, wirtschafts- und ideengeschichtlich analysierte zur Lippe die Bedingungen der Leiblichkeit und der Sinneswahrnehmung in der europäischen Moderne und zog die theoretischen Schlüsse daraus. Am Hof Ludwig XIV. ordneten sich die Tanzfiguren nach der Geometrie absolutistischer Macht, die im Wahrnehmungs- und Darstellungssystem der Zentralperspektive alle Dinge in Staat und Gesellschaft in die Fluchtlinie königlicher Emanation der Macht ordnet wie der Magnetismus die Eisenspäne: «Das hängt mit der angedeuteten zentralen Struktur zusammen, weil das ballet de cour für den König ein Mittel zur Durchsetzung seiner Herrschaft als Doktrin und gesellschaftliche Realität war und weil es in seiner kunstvollen Einheit von Herrschaftsdarstellung und Selbstbeherrschung am eigenen Leibe das ideale Medium war, die Gesellschaftsordnung zu verinnerlichen und aus dem individuellen Innern als Selbstdarstellung wieder nach außen zu kehren.»
Der Souverän blieb einbezogen in diesen Prozess der Disziplinierung des eigenen Körpers, nie wurde klarer, wie sehr diese strukturelle Gewalt nicht nur die Opfer zurichtet, sondern auch die Täter. «Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser», hatte Brecht den Nachgeborenen zu bedenken gegeben. Bei zur Lippe war zu lesen, wie umfassend solche Verstrickung zu verstehen ist, in welch tiefen Schichten der menschlichen Natur sie abgelagert ist, wie sehr sie alle Bereiche des menschlichen Lebens durchdringt und vor allem: wie tiefgreifend Gesellschaften davon geprägt sind. Auch die Französische Revolution vermochte daran nichts zu ändern, vielmehr radikalisierte das bürgerliche Zeitalter das Konzept der höfischen, auf den Fluchtpunkt des Königs ausgerichteten Geometrie zur Instrumentalisierung des Körpers zwecks Subsumtion der Arbeitskraft im Sinne maschinell gesteuerter Arbeitsteilung und, theoretisch, zum Ideal jener ordnenden Instanz, die die Gesamtheit der Körperäusserungen zu einem sinnvollen, will heissen instrumentellen Ganzen dirigiert und seinerseits als Ich auf ein kollektives Über-Ich hört.
Zur Lippes Buch war einer der substanziellsten Beiträge zur Vorgeschichte der Dialektik der Aufklärung und zu einer materialen Ästhetik, im deutschsprachigen Raum zudem ein neuer Anlauf für eine Körpergeschichte, die inzwischen zum kulturgeschichtlichen Gemein- und Tummelplatz geworden ist. Angesichts der Flut an Publikationen zu diesem Thema, könnte es hilfreich sein, sich wieder auf diesen und andere Neuanfänge aus den 1970er-Jahren zu besinnen.
Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen, 2 Bde., zweite, überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main: Syndikat, 1981.
Detlef Bauer
Rudolf war immer ein Querdenker, der aus den komplexen Zusammenhängen einzelne Schichten rausschneiden konnte und in neuen Ebenen wieder zusammen gefügt beleuchtet analysiert hat