Das Werk von Friedrich Hölderlin hat eine grosse und wechselhafte Geschichte hinter sich. Am 21. März hat sich Hölderlins 250. Geburtstag gejährt. Ein paar Gedanken dazu, warum er auch heute noch bewegt.
Der Jakobiner und der vor der repressiven Gesellschaft in den Wahnsinn Geflüchtete: Das waren zwei Bilder, mit denen Friedrich Hölderlin (1770–1843) nach 1968 einer konservativen Lesart entrissen werden sollte. Die Provokationen waren notwendig und wirken bis heute nach.
Doch so einfach macht es einem Hölderlin nicht. Sein Leben und sein Werk sind von Widersprüchen und Brüchen durchzogen. Es ist alles bitterer. Und schöner.
Ja, der ehemalige Stiftzögling, der sich dem verordneten Pfarramt zu entziehen suchte, begrüsste anfänglich die Französische Revolution, nahm 1799 und erneut 1804 Anteil an einem Umsturzversuch im Fürstentum Württemberg. Doch Politik blieb für ihn eingebettet in eine grössere «Revolution aller Gesinnungsarten und Vorstellungen», und gegen die als Entfremdung erlebte Zerspaltung der Weltzustände sollte vor allem die Poesie helfen.
Ja, sein Zusammenbruch und seine «Rasereien» im Herbst 1806, dann sein Rückzug für 36 Jahre ins Turmzimmer zu Tübingen bei Schreinermeister Zimmer und sein Verstummen hatten gesellschaftliche Auslöser, und sein Zustand führte und führt vorschnell zum Verdikt des unheilbaren «Wahnsinns». Dennoch sind schwere psychotische Störungen nicht abzustreiten.
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Zugestanden, Hölderlins Texte sind nicht gerade eingängig. Das liegt zuerst an ihrer Flughöhe. Sie sind heroisch und elegisch. Durchaus zeitgemäss; Klopstock hatte den Weg gebahnt, und auch Schiller bedichtete «Die Götter Griechenlands». Aber nur Hölderlin war darin so konsequent, was seine damalige öffentliche Wirkung behinderte – von heute zu schweigen. Wobei, laut lesen hilft.
Das Heroische wie das Elegische drängen zum breiten Fliessen. Die Gedichte strömen, greifen weit aus. «Der Rhein» folgt dem Flusslauf und dem Lauf der Zeitalter in 221 Verszeilen, und «Archipelagus» überfliegt die antik-christliche Geschichte in 294 Langzeilen. Die sind häufig parataktisch gebaut, aneinanderreihend, verbunden durch ein «aber» oder ein «nemlich», das zwar ein Neues bezeichnet, doch keine Absetzung, sondern die Freiheit lässt, die Beziehung zwischen den Teilen selber genauer zu bestimmen.
Dabei ist Hölderlins Denken bildhaft. Es ist ebenso erkenntnistheoretisch unterlegt wie tief empfunden. Sein Ausgangspunkt: Die Welt wird als zerrissen erlebt. Daran leidet Hölderlin intellektuell, emotional, existenziell. Mit aller Kraft will er die Wunde Welt heilen, das Getrennte versöhnen. Der Vereinigungswunsch kann sich in verschiedener Form äussern. Im Briefroman «Hyperion» (1797) wird das als vierfacher Bildungsversuch erzählt: Vereinigung mit der Natur, in der Liebe, in der Politik, mit der Antike. Für Hölderlin ist das Griechenland der antiken Götter, in dem das Göttliche sich noch im Alltag präsentiert, mahnende Erinnerung für die eigene Zeit. Das klingt uns heute fremd. Hölderlin nahm es als Verpflichtung ernst, ohne Illusionen einer kurzfristigen, konkreten Umsetzung. Darunter liegt freilich eine weitere Bedeutungsschicht: die idealische Gemeinschaft der Gleichgesinnten – was man als menschliche Solidarität benennen könnte.
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Obwohl Texte von ihm zu Lebzeiten nur selten veröffentlicht wurden, bildete sich noch während der «Turmzeit» in Tübingen um den «armen Holterling» ein romantischer Kult, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Entdeckung unbekannter Handschriften einen Aufschwung erlebte. Die Kritik an der entfremdeten Gesellschaft und der Rückbezug auf die vormoderne Welt Griechenlands ermöglichten konservative Lesarten. Auch nationalistische: Hatte Hölderlin nicht einst sogar «Vaterländische Gesänge» publiziert?
Für Martin Heidegger wurde er zum Zeugen der verderblichen Seinsvergessenheit der Moderne. In seiner berüchtigten Rektoratsrede von 1934 pries er die faschistische «Revolution» als Erfüllung deutscher Bestimmung. Doch die Anbiederung führte nicht zur gewünschten Ernennung zum geistigen Führer der Nation. So setzte er sich von den unkultivierten Nazis ab und legte sich Hölderlin als hohepriesterlichen Gewährsmann für die moderne Entwesentlichung zurecht.
Die Nazis ihrerseits verteilten Hölderlin-Texte in Feldauswahlheftchen an Wehrmachtsoldaten. Die waren weit verbreitet und mehrere Schriftsteller haben nachträglich die Wirkung Hölderlins an der Front in Texten verarbeitet, darunter, wie Karl-Heinz Ott dokumentiert hat, Günter Eich, Wolfgang Borchert, Hans Magnus Enzensberger und Ludwig Harig.
Auch die 1936 lancierte grosse Historisch-kritische Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe liess sich zu Beginn von den Nazis vereinnahmen, galt aber nach 1945 als philologisch vorbildlich, und der Dichter wurde wieder als überzeitlicher Seher verehrt. Heidegger seinerseits konnte nach dem Krieg den Rekurs auf Hölderlin als kritische Distanzierung vom Nazismus verkaufen. Auf der andern Seite berichtete Jean Améry in einem erschütternden Essay über sein Überleben in Auschwitz, wie die ihm wohlbekannten Hölderlin-Verse angesichts der Barbarei die Wirklichkeit nicht mehr zu transzendieren vermochten.
Der Widerspruch gegen die interessierte Entpolitisierung von rechts kam zuerst aus Frankreich. Pierre Bertaux spürte schon Anfang der sechziger Jahre Hölderlins Verhältnis zur Französischen Revolution nach, und 1965 schrieb Robert Minder kritisch über «Hölderlin und die Deutschen». Bertaux wie Minder waren im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen; der Aussöhnung im französisch-deutschen Verhältnis widmeten sie sich in dezidiert demokratischer Perspektive. So wurde Hölderlin als Republikaner und Jakobiner rekonstruiert. 1971 zeigte Peter Weiss in seinem lapidar nach dem Titelhelden benannten Stück einen von der Gesellschaft geknechteten Hölderlin, und ein Jahr später liess der DDR-Autor Gerhard Wolf im historischen Sittenbild «Der arme Hölderlin» auch sachte Kritik an der DDR durchscheinen. Später folgte auch noch ein Hölderlin-Roman von Peter Härtling.
Dann lancierte der Autodidakt D. E. Sattler 1975 im Verlag Roter Stern eine neue «Frankfurter Ausgabe». Die knallgrünen Bände der neuen Ausgabe im Hochformat wollten auch in der Textgestalt einen politischen Dichter zeigen. Sie setzten die Handschriften typografisch so um, dass sich der Arbeitsprozess der zahlreichen Umarbeitungen nachvollziehen liess. Hölderlin neben einer Studie des späteren RAF-Mitglieds Jan-Carl Raspe im selben Verlag – die deutsche Geisteswissenschaft war in Aufruhr. Die neue Editionstechnik lenkte den Blick zudem auf die späten Aufzeichnungen, die bislang als wirre Kritzeleien gegolten hatten, und betonte das Prozesshafte, Fliessende der Texte, die Grenzen zu sprengen versprachen.
Zugleich brachten Einzelstudien beispielsweise die unglücklichen Hofmeisterstellen von Hölderlin genauer mit Rousseau´schen Erziehungsidealen in Verbindung. Pierre Bertaux seinerseits legte 1978 eine grosse Studie vor, der er «sehr einfach und in wenigen Worten zusammengefasst» seine These voranstellte: «Hölderlin war nicht geisteskrank.» In der Folge argumentierte er mit viel Material und um etliches differenzierter, dass der psychiatrische Befund in vielem fragwürdig sei und Hölderlin gewisse Zustände auch simuliert haben könne, um sich politischer Zurichtung zu entziehen.
So war man, mit Foucault, beim Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft angelangt. Peter Weiss hatte als schreckliches Bild inszeniert, wie man dem geschundenen Hölderlin eine Ledermaske aufzwang. Die aber lässt sich mittlerweile durchaus als gelinder Fortschritt in der jungen Geschichte der Psychiatrie lesen: Statt herkömmlicher Prügelstrafen und «Therapien» im eiskalten Wasser sollte die Maske den Patienten, im eigenen Interesse, vor den bedrängenden Umweltreizen abschotten.
Das Bild vom edlen Simulanten ist nicht aufrecht zu erhalten, obwohl einige Gedichte Hölderlins aus der Turmzeit einen hübsch ironischen Witz zeigen, die ein Selbst-Bewusstsein seiner Lage andeuten. Die Bedeutung der politischen Antriebe für Hölderlin allerdings ist nicht zu leugnen. Die Gemeinschaft der freien Geister war ein Bewegungszentrum seines Lebens und Werks.
Der Hölderlin-Verleger Roter Stern legte sich 1979 einen wunderschönen Namen aus späten Notizen von Hölderlin zu: Stroemfeld. Doch vor zwei Jahren ist Stroemfeld bankrott gegangen. Ein paar hundert Exemplare der zwanzigbändigen Gesamtausgabe warten in einem Lagerhaus auf einen Verlag, der sie weiter vertreibt; und soeben ist die Hauptschiene des Verlagsprogramms, die gesellschaftspolitische Reihe Nexus, vom Verlag Klostermann übernommen worden. Darin steckt eine bittere historische Ironie, weil Vittorio Klostermann der Hausverlag von Martin Heidegger ist – wobei er das Programm seit etlicher Zeit deutlich verbreitert hat.
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Zwei neuere Bücher liegen zum Hölderlin-Gedenkjahr vor, eine Biografie von Rüdiger Safranski, eine essayistische Studie von Karl-Heinz Ott. Beide arbeiten sich noch mehr oder weniger intensiv an den früheren provokativen Thesen ab.
Rüdiger Safranski, einst, lang ist es her, ein radikaler Maoist, hat sich seit dreissig Jahren als gediegener Biograf deutscher Geistesheroen wie Goethe, Schiller, Nietzsche und Schopenhauer einen Namen gemacht, in den letzten Jahren sich eher ins rechte Spektrum verschoben, mit kulturpessimistischen Ausfällen gegen die «Willkommenskultur». Seine Hölderlin-Biografie ist besser als befürchtet. Sie ist philosophiegeschichtlich erhellend, in den literarischen Interpretationen anschaulich, und sie räumt dem Politischen, wenn auch zuweilen widerstrebend, einigen Platz ein. Karl-Heinz Ott umkreist seinen Gegenstand, der eher die Hölderlin-Rezeption ist, in essayistischen Fragmenten. Er bemerkt nicht unzutreffend, dass der Heroenkult von Hölderlin zuweilen etwas hohl tönt. Und er macht ein paar hübsche Anmerkungen über Hölderlins verhimmeltes Frauenbild. Aber langsam bestätigt sich der Verdacht, dass Ott Hölderlin nicht wirklich mag. Als Mensch hätte sich der ein wenig zusammenreissen können und nicht immer den anderen, der Mutter, der unverständigen Öffentlichkeit, der versagenden Gesellschaft die Schuld für die eigene desolate Situation zuschieben sollen. Hätte er sich bloss wie seine Studienkollegen Hegel und Schelling angestrengt und um eine Karriere bemüht! Ott belegt Hölderlin umstandslos mit dem anachronistischen Begriff des Narzissmus. Unter Generalverdacht geraten auch die Werke. Zwar propagiert Ott, man solle Hölderlins Dichtung mit «weltanschaulichem Gegrabsche» verschonen und für sich selbst sprechen lassen. Gerade das allerdings tut er nicht, sondern er gebraucht Versatzstücke daraus, um seine krude Interpretation einer angeblich undifferenzierten Apodiktik von Hölderlin zu illustrieren. Ja, zusehends wird sein Buch zur konservativen Abrechnung mit allem, was dem heutigen Leben nicht ganz so einverständig gegenübersteht.
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Beim Lesen von Hölderlin gerät man in wechselnde Zustände, wobei, nochmals, laut lesen hilft. Zuerst einmal wirkt er (oder er wirkt auch nicht) übermächtig aufs Gemüt: diese Empfindung, dieser Sog, diese Bilder! Dann finden sich Bezugspunkte für die Gedankenbilder, mehr oder weniger plausible, mehr oder weniger die eigene Lage betreffende (man muss sich nicht mit allem identifizieren oder auch nur alles verstehen); und nach diesem Durchgang durch die reflektierende Interpretation wird man wieder auf den erweiterten Eindruck zurückgeworfen. Das hat Hölderlin im frühen Denkverbund mit Hegel und Schelling «intellektuelle Anschauung» genannt, man mag den Prozess als dialektisch bezeichnen, oder auch: Erziehung zur Schönheit.
«Eines zu sein mit Allem, was lebt»: So reisst der «Hyperion» als sprachgewaltiger Anruf und lockende Utopie zu Beginn mit. Das schwärmerische Allgefühl differenziert sich in der Folge bei durchgängig hoher Gespanntheit durch verschiedene Bedeutungsschichten hindurch. Da ist der geografisch identifizierbare Flug über das griechische Festland und die Inseln, die zugleich mit ihren antiken, mythologischen Bedeutungen verschweisst sind. Vorübergehend rückt die Figur der Diotima ins Zentrum, in der die Liebe zur ebenso geliebten wie verklärten Susette Gontard, Bankiersgattin in Frankfurt, ihre Wunscherfüllung findet, die im Grab endet, oder nur im Grab enden kann. Realgeschichtlich wird der griechische Befreiungskampf gegen die türkische Herrschaft sichtbar, wobei die politische Aktion im Banditentum endet; dazu die Kritik am mechanischen, bloss aufs Materielle gestellten Deutschland, in dem die Kunst missachtet wird. Darunter oder darüber werden als ebenso geschichtsphilosophisches wie entwicklungspsychologisches Raster die Stufen der Menschheit und der einzelnen Menschen erwogen.
«Die Völker schwiegen, schlummerten, da sahe / das Schicksaal, dass sie nicht entschliefen und es kam / der unerbittliche, der furchtbare Sohn / der Natur, der alte Geist der Unruh», beginnt ein unvollendetes Gedicht von 1797. Gemeint ist damit die Französische Revolution, gemeint ist sogar Napoleon, da er die europäischen Feudalreiche zum Einsturz brachte. Doch der Gedanke zielt geschichtsphilosophisch weiter. Die Unruhe ist notwendig, ist unerbittlich, aber auch – dialektisch gedacht – furchtbar. Da hat Hölderlin die konkrete Enttäuschung durch den Terror der Französischen Revolution schon hinter sich, doch seine Hoffnung bleibt die Republik der Gleichgesinnten und Gleichberechtigten. Wobei die Auflehnung den schlummernden Völkern von aussen, durchs Schiksaal gebracht wird.
Im nicht vollendeten Drama «Empedokles» heisst es ein Jahr später: «Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr [...] Schämt euch / dass ihr noch einen König wollt […] Euch ist nicht / zu helfen, wenn ihr selber Euch nicht helft.» Das ist wiederum unmittelbar politisch; Hölderlin plante das Stück ursprünglich als Festspiel für eine künftige deutsche Republik. Und so tönt das Echo darauf: «es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.» So endet «Die Ästhetik des Widerstands» (1982) von Peter Weiss. Nicht auf Hilfe von aussen, von jenseits, von oben hoffen, sondern sich selber helfen: Notwendig ist Selbstermächtigung. Eine gemeinsame freilich. Doch geht es – gegen gängige Missverständnisse – dieser Poesie nicht um Politik, sondern um politisch befeuerte Poesie. Diese ist eine weitere, die fünfte Form einer möglichen Wiedereinigung und zugleich das mögliche Mittel dazu. «Was bleibet aber, stiften die Dichter», so endet «Andenken» von 1803, und das mag wie ein idealistischer Kalenderspruch tönen, wird aber von Hölderlin präzise aus einer elegischen Bewegung heraus entwickelt.
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Die schönsten Gedichte stammen zumeist aus der Blütezeit Hölderlins von 1798 bis 1804, sie haben die Abstraktion früherer Texte überwunden, sind durch den erhabenen Ton hindurch konkret verankert. Dazu gehören «Heidelberg» (1798/1801), «Der Gang aufs Land» (1801), «Brod und Wein» (1801/1802), «Patmos» (1802/1803), «Andenken»(1803) und «Hälfte des Lebens» (1804).
«Komm! Ins Offene, Freund!» beginnt «Der Gang aufs Land». Noch so ein Spruch beinahe wie für ein T-Shirt. Aber er bleibt ein bewegender Satz. Er hat einen konkreten Anlass: Der Freund wird zu einer Wanderung in die Landschaft eingeladen. Er hat eine politische Bedeutung: die Befreiung von feudalen Zwängen. Und er hat eine existenzielle Tiefe: das freie, solidarische Leben.
«Brod und Wein» setzt im kleinstädtischen Alltag ein. «Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse / und, mit Fakeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg / Satt gehen heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen / Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt / Wohlzufrieden zu Haus, leer steht von Trauen und Blumen / und von Werken der Hand ruht der geschäfftige Markt.» In diesem ruhigen Strömen erhebt sich leise die Erinnerung an die Jugendzeit und die Frage, wo heute noch «göttliches Feuer» zu finden sei: Worauf das Gedicht anhebt zu einem Besuch im griechischen Isthmus, zum Weingott Dionysos, dem sich jener zuletzt gekommene Genius, Jesus, hinzugesellt, der mit dem Brot die Frucht der Erde gebracht hat. «Aber Freund! Wir kommen zu spät», denn die Götter leben längst in einer andern Welt und «nicht immer vermag ein schwaches Gefäss sie zu fassen», und die bange Frage «wozu Dichter in dürftiger Zeit» kann kaum mit einer Vision beglückender Vereinigung beantwortet werden.
Die «Hälfte des Lebens» ist eines der letzten grossen Gedichte, 1804 von Hölderlin in jener Krise geschrieben, die wenig später zur Internierung, oder zum Rückzug, in den Turm bei Tübingen führte.
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Die erste Hälfte lässt sich genau lokalisieren: ein vertrauter Ort voller Leben, und in glücklicher Erinnerung werden mit den «Küssen» und dem «heilignüchternen Wasser» Liebe und Natur evoziert, und mit den «holden Schwänen» als emblematischem Bild die Schönheit der Poesie. Zwischen den Strophen fällt die Welt auseinander. Verschwunden ist die offene Weite des Neckar, oder die andernorts beschworene strömende Kraft des Rheins und der Garonne. Im Winter ist selbst die lebensspendende Kraft des vertrauten Tagesablaufs verloren. Die Mauern, die Häuser, sind – sprachlos – von Menschen entleert und entbehren – kalt – der Herdfeuer, ja des Lebens. In den Wetterfahnen zum Schluss schwingt (auch) die Trikolore mit, doch «klirrt» sie bloss noch im Wind, der, wie die Mauern, den Hoffnungen nicht mehr antwortet und selbst der poetischen Arbeit die sprachlichen Mittel und die Kraft entzieht.
Dieser Trostlosigkeit aber setzt sich, erregend, die Schönheit des Gedichts selbst entgegen.
Karl-Heinz Ott: «Hölderlins Geister». Carl Hanser Verlag, München 2019. 240 Seiten, Fr. 31.90.
Rüdiger Safranski: «Hölderlin. Komm! Ins Offene, Freund!» Carl Hanser Verlag, München 2019. 336 Seiten, Fr. 39.90.
Dieser Artikel erschien, in leicht gekürzter Form, zuerst in der WOZ – Die Wochenzeitung Nr. 12/20 vom 19.3.2020, S. 20f.; siehe https://www.woz.ch/t/kultur-wissen.
Klaus Laabs
Bin zu nächtiger Stunde ganz zufällig auf Ihren tour d’horizon gestoßen und konnte trotz drängender anderer Aufgaben nicht davon ab- und keine Zeile auslassen. Stringent, überzeugend, mir nahe, nahezu “seelenverwandt”, so das Wort noch verstattet sei. Geradezu herzerwärmend, was Sie über die knallgrünen Bände der neuen «Frankfurter Ausgabe» schreiben. In den 90ern sah ich etliche davon am Messestand vom Roten Stern, wenn ich gegenüber bei Ammann stand, meinem zuverlässigen Brötchengeber nach der Abschaffung von Volk und Welt (ich bin Literaturübersetzer, meine große Aimé-Césaire-Auswahl ist in der aktuellen Vorschau von msb zum x-ten Mal angekündigt, an mir liegt’s nicht).
Und doch, ohne dass ich auch nur im Geringsten Vollständigkeit erwartet hätte – ich wusste ja gar nicht, worauf ich mich eingelassen hatte -, plötzlich begann sie mich zu schmerzen, die Leerstelle, die klaffende Wunde im Organismus Ihrer selbstgestellten Denkaufgabe. Mir unbegreiflich, schlimmer noch, mir ob der geistigen Verhältnisse in deutschen Landen nur zu gut begreiflich, wie man so ein detailliertes historisches Bild von der Rezeption Hölderlins in eben diesen deutschen Landen verfertigen kann, ohne das eine große Werk zum Thema aus der DDR zu erwähnen. Aus der Feder des Mannes, der mit seinen Ästhetik-Vorlesungen an der Berliner Humboldt-Universität eine ganze Generation (bin selber Jg. 53, von Hause aus zwar Romanist, konnte mir beim Studium an der HU aber selbst aussuchen, welche Professoren ich hören wollte) und mehr als nur diese eine Post-68er-Generation in jenem widerständigen, kunstliebenden Geist erzog, von dem der Titel seines, nach viel zu frühem Tod, Fragment gebliebenen Großwerkes zeugt: Wolfgang Heise “Hölderlin. Schönheit und Geschichte”, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 592 S. Als Hölderlin-Adepten werden Sie den antiquarischen Erwerb dieses Buches nicht bereuen. Denn Sie ja wohl kaum bewusst über dieses Buch hinweggegangen sein. Soviel Ideologie (“falsches Bewusstsein” lt. Marx) traue ich Ihnen nicht zu.
U. A. w. g.
Klaus Laabs, Berlin