Karl Marx gilt als wichtiger Klassiker der Religionskritik.[1] Das heisst, seine einschlägigen Äusserungen sind sowohl gut zitierbar wie auch vielfältig deut- und verwendbar. Zitierbar ist vor allem der Satz vom Opium: «Religion ist das Opium des Volkes»[2].
Was leistet die Metapher vom Opium? Drogen bringen normalerweise nichts Neues hervor, sie steigern vorhandene Gestimmtheiten, versprechen Möglichkeiten, aber dämpfen alle Latenz. Sie sind also eher Verstärker oder Blockierer von Vorhandenem. In der Aufbruchstimmung von 1968 half der Drogenrausch ein paar Fenster zu öffnen, in der Visionslosigkeit der 80er Bewegung aber akzentuierte er die Depression. Dieser Umstand lässt sich gewiss anwenden auf bestimmte Formen von Religiosität, etwa auf ekstatische Schwärmerei in Erweckungsbewegungen oder auf selbstzerstörerische Askese im gewaltbereiten Fundamentalismus. Einen wirklichen Begriff von Religion bringt die Drogenmetapher aber kaum. Vielmehr gibt sie einen Einblick in Religionsverständnisse, die hinter dem «Opium» stehen.
Vor der Finanzkrise von 2008, als man Marx noch gerne falsch zitierte, schrieb man meist: «Religion ist Opium für das Volk». In beiden Varianten des Opiumsatzes zeigt sich je eine beliebte Vorstellung von Religion in der Moderne. Hier ist sie ein Instrumentarium von Eliten zur Ausübung von Macht durch bewusste Irreführung der Bevölkerung, dort ein selbstgewähltes Mittel zur Vernebelung der Wirklichkeit. Die häufige Falschzitierung lässt vermuten, dass es einer säkularen Gesellschaft lieber ist, sich die Religion als Fremd- denn als Selbstmanipulation des Volkes zu denken. Wenn, wie die Religionskritik nach der Aufklärung festgelegt hat, Religion und Vernunft sich ausschliessen, dann sind verführte Gläubige weniger beunruhigend als solche, die freiwillig der Vernunft abschwören.
Der Problematik solcher Verkürzung begegnen wir auch heute wieder in der Islamdebatte, wo man Muslime entweder ferngesteuert aus Saudi-Arabien oder als arme Opfer von Unterentwicklung und Bildungsferne betrachten muss, möchte man nicht zugeben, dass Religiosität auch eine vernünftige Praxis sein kann und Religionen vernunftgeleitete Systeme, sich gegenüber den ungelösten Fragen des menschlichen Lebens und der Gesellschaft zu verhalten. Der Grund für die seltsame Tatsache, dass es einerseits so leicht fällt, alle Migrant_innen aus muslimisch geprägten Ländern in der öffentlichen Wahrnehmung zu praktizierenden Muslimen und alle Muslime zu Sympathisant_innen des religiösen Terrorismus zu machen und dass umgekehrt Themen wie das Tragen von Burka oder Niqab – die ja primär kulturelle Praktiken sind und im säkularen Kontext zunächst vor allem als Exklusionssymbole wahrgenommen werden – so unbedacht als Gegenstand der Religionsfreiheit diskutiert werden, liegt wohl vor allem im Fehlen eines wirklichen Religionsbegriffs. Als dessen Konsequenz kann man der Religion alles unterstellen und muss umgekehrt alles glauben, was ihr unterstellt wird.[3]
Doch zurück zu Marx: Liest man die Sätze unmittelbar vor der Opiumstelle, merkt man schnell, dass der Religionsbegriff und somit auch die Vorstellung vom Volk bei Marx etwas differenzierter sind, als dies die Rezeption der Opiummetapher vermuten lässt. Marx begreift hier die Religion auch als kreativen Umgang der Menschen mit ihren realen Nöten: «Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.»[4]
Auch wenn andere Stellen keinen Zweifel lassen, dass Marx an eine endgültige Überwindung der Religion im Zeichen des rationalen Fortschritts glaubt, bieten diese Zeilen doch reichhaltige Anknüpfungsmöglichkeiten für eine sachgerechtere Betrachtung religiöser Phänomene. Mit der Kennzeichnung der Religion als Protestform und als «Seufzer der bedrängten Kreatur» kommen die «guten Gründe» für eine religiöse Praxis der Menschen zurück in den Diskurs. So bemerkte Ernst Bloch dazu, dass die «nicht mehr halbierte Opiumstelle den entideologisierten Gläubigen, den enttabuisierten Ungläubigen endlich den sogenannten Gesprächsraum öffnen»[5] könnte.
Und in diesem Gesprächsraum lassen sich – was hier nur beispielhaft für das Christentum geschehen kann[6] – vielfältigste Linien ziehen: Zur theologischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus (Leonhard Ragaz, Karl Barth, Simone Weil, Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz u.a.), zum Dialog zwischen Marxismus und Christentum (Konrad Farner, Helmut Gollwitzer u.a.), zur sozialpolitischen Positionierung der jesuanischen Botschaft (Willy Spieler, Oswald von Nell-Breuning u.a.), zur Befreiungstheologie (Gustavo Gutierrez, Oscar Romero, Frei Beto u.a.) und von dort zur materialistischen und sozialkritischen Bibellektüre (Fernando Melo, Kuno Füssel, Louise Schottroff u.a.) oder zur Kapitalismuskritik von Papst Franziskus oder vergleichbaren Verlautbarungen evangelischer Kirchen. Nicht zu vergessen ist aber auch der enge Zusammenhang, den die frühsozialistische Bewegung mit dem christlichen Gedankengut auszeichnete. Massgeblich geprägt war dieser durch den anfänglichen Mitstreiter von Marx: Wilhelm Weitling, der in der christlichen Religion und namentlich im Evangelium einen starken «demokratisch-revolutionären» Zug entdeckte. So schrieb er in seinem «Evangelium des armen Sünders»: «Lammenais, Karlstadt, Thomas Müntzer und andere zeigten, dass alle demokratischen Ideen der Ausfluss des Christentums seien. Die Religion muss also nicht zerstört, sondern benützt werden, um die Menschheit zu befreien.» Und Friedrich Engels sah 1895 in seiner Schrift «Zur Geschichte des Urchristentums» eine fundamentale Verwandtschaft zwischen Urchristen und Sozialisten: «Wenn also Herr Professor Anton Menger sich wundert, warum (…) bei den masslosen Leiden der damaligen, fast ausschliesslich aus Sklaven bestehenden Arbeiterklasse ‘auf den Sturz des weströmischen Reiches nicht der Sozialismus gefolgt ist’, so sieht er eben nicht, dass dieser ‘Sozialismus’, soweit er damals möglich war, in der Tat bestand und auch zur Herrschaft kam – im Christentum.»[7] Kurzum, die Marxsche Kritik an der Religion als wirkungslose «Protestation» schlägt durch die von Marx inspirierte Relektüre des Christentums um in wirkliche «Protestation».
Die Mehrdeutigkeit zwischen «Ausdruck des wirklichen Elends», «notwendig falschem Bewusstsein», «Protestation» oder «Gemüt einer herzlosen Welt», die Marx der Religion – wohl eher widerwillig, aber umso realistischer zuschreibt – leitet die religionskritische Perspektive von der Einfalt religiöser Praxis in die Vielfalt. Religionen sind aus einer solchen Sicht wahrnehmbar als pluralistische Gebilde, in denen sich Gemüt und Vernunft, revolutionäre und reaktionäre Haltungen, Aufklärung innerhalb und Kritik an Aufklärung ausserhalb der Religion usw. bekämpfen, überlagern und mischen.
Friedrich Engels setzt die widerstreitenden Elemente im Urchristentum mit jenen der sozialistischen Bewegung parallel: «In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und der gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den Urchristen wie den Sozialisten. Beide grosse Bewegungen sind nicht von Führern und Propheten gemacht – obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen –, sie sind Massenbewegungen und Massenbewegungen sind im Anfang notwendig konfus.»[8] Auch wenn wir heute wissen, dass wohl zu jeder revolutionären Massenbewegung die Konflikte zwischen ihren «Propheten» und der Basis, die Kämpfe gegen die Welt und die Kämpfe untereinander und also eine gewisse Konfusion nicht nur am Anfang dazugehören, so ist doch bemerkenswert, dass Engels mit diesem Vergleich selber die Vorarbeit leistet, um auch die sozialistische Bewegung in religiösen Kategorien zu lesen und sie einer Art Religionskritik unterziehen zu können. Eine Kritik, die, wie man leicht an einschlägigen Stellen zeigen kann, bereits in der Marxschen Theorie und nicht erst in ihrer stalinistischen Pervertierung ansetzen muss. Denn es fällt schwer, etwa folgende Sätze von Marx aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten ohne religiösen Untergrund wahrzunehmen.: «Dieser Kommunismus ist (…) die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen (…), zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiss sich als diese Lösung.»[9] Und ebenso schwer fällt es aus heutiger Sicht, solche Visionen einer durch Menschen herstellbaren glückseligen Einfalt auf Erden nicht als pure Anmassung oder Ignoranz wahrzunehmen beziehungsweise als eine unglückselige Übersetzung entsprechender religiöser Endzeit- oder Jenseitsvorstellungen ins Irdische.
Aber es ist wiederum dieser religiöse Untergrund im Denken, der es Marx erlaubt, den Kapitalismus nicht nur in seinen materiellen, sondern auch in seinen religiösen Grundlagen zu analysieren. Denn seine Methode, in der Beschreibung der Welt wie sie ist und wie sie sein sollte, immer wieder auch theologische und religionsgeschichtliche Begriffe zu verwenden, zeugt nicht nur von seinem Willen zu einer aufgeladenen Sprache, sondern verweist auch auf seine Vertrautheit und Nähe zu religiöser Rede. Um beispielsweise die Verwandlung eines Dings in eine verkäufliche Ware zu analysieren, greift Marx im berühmten Fetischkapitel des ersten Bands des Kapitals zu religiösen Metaphern: «Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.»[10] Marx stellt also nicht nur die Kritik an der Ausbeutung der Arbeiter_innen auf eine wissenschaftliche Basis, sondern entlarvt den Kapitalismus gleichzeitig auch als Religion, woraus folgt, dass Religionskritik nicht nur Kapitalismuskritik ist, sondern Kapitalismuskritik auch immer mit den Mitteln der Religionskritik geführt werden muss.
Die aufgezeigten Engführungen und blinden Flecken der Marxschen Religionskritik wirken bis heute fort in der Linken. So hat sie sich bisher nicht zu einem Religionsbegriff durchringen können, der es ihr erlaubt, sowohl kritisch auf die Gefahr von Wirklichkeitsverzerrung, Irrationalismus und Dogmatismus zu reagieren wie auch positiv anzuschliessen an gesellschaftskritische und soziale Potentiale religiöser Praxis sowie ihre Eigenschaft «Gemüt in einer herzlosen Welt» zu sein, wie es bei Marx heisst bzw. an die «feinen und spirituellen Dinge», wie sie Walter Benjamin nennt, zu würdigen. Erst, wo eine Bereitschaft da ist, Religion als eine bleibende Ausdrucksform menschlicher Welt- und Selbstdeutung anzuerkennen, gelingt es, diese in ihrer ganzen ambivalenten Vielfalt wahrzunehmen und kritisch zu beurteilen. Es wäre letztlich nicht weniger als eine Konsequenz der tiefsten – freilich nur impliziten – Einsicht Marxscher Religionskritik, Religion nicht weiterhin nur als «blossen verschobenen Ausdruck eigentlich wirksamer anderer Bedürfnisse aufzufassen»[11].
Die Weigerung, die Stärke der Kräfte im Menschen, die, wie Bloch formulierte, „ein Drüben gesetzt haben“[12], mit zu bedenken, führt nicht in ein glaubensfreies Bewusstsein, sondern viel eher in ein glaubendes Unbewusstes. Das bedeutet, Religionskritik heisst nicht Glauben loswerden, sondern sich über Art, Ort, Funktion und Herkunft des Glaubens Rechenschaft abzugeben – auch des eigenen. Gegen einen platten Atheismus, der Religionen und damit Glauben nur als etwas Antiquiertes oder Verirrtes abtut, ist an der Möglichkeit eines aufgeklärten Glaubens festzuhalten, der menschliches Bewusstsein nicht um seine religiöse oder spirituelle Dimension verkürzt. Und vergessen wir nicht, die Säkularisierung ist keine feste Mitgift einer stetig voranschreitenden Moderne. Fünftausend Jahre Kulturgeschichte zeigen: Gott ist nicht tot. Die Bearbeitung oder je nach Ansicht «Zähmung» des religiösen Impulses muss jede Generation und jedes Individuum permanent und von neuem leisten. Die Religionskritik, die das nicht beachtet, wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. Ferner ist aus der Geschichte der Religionen und sozialen Bewegungen zu lernen, dass eine Religion, die nicht in die normalen kulturellen Alltags-Praktiken und Institutionen eingebunden ist, das Potential entwickelt, sich selber nur in Opposition zum Bestehenden zu konstituieren und also «gefährlich» oder «revolutionär» zu werden. Das heisst, pluralistisch-säkulare Gesellschaften tun gut daran, Religionen oder religiöse Praktiken in die Öffentlichkeit und ihre Diskurse zu integrieren. Dies geschieht am wirksamsten über staatlich geförderte Bildungs- und Institutionalisierungsprozesse. Das Schweizer Landeskirchenmodell und der nationale Entscheid, das Fach «Ethik Religionen Gemeinschaft» in der Volksschule obligatorisch zu machen, sind wichtige Bausteine, die Religionsgemeinschaften im Bewusstsein der demokratischen Öffentlichkeit und die demokratische Öffentlichkeit im Bewusstsein der Religionsgemeinschaften zu halten und im Modus einer Differenz in Ähnlichkeit zu stabilisieren.
Der aus diesen Überlegungen heraus logische und für den religiösen Frieden zentrale nächste Schritt für die Schweiz ist die Initiierung eines Prozesses staatlicher Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften mit entsprechenden gegenseitigen Verpflichtungen, wie ihn Exponent_innen der SP Schweiz und Vertreter_innen der Landeskirchen ins Gespräch gebracht haben.[13] Die gefährliche Alternative zu diesem Weg einer gemässigten Säkularisierung, ist der Weg in die Entmischung, in die Privatisierung der Religion und also in den Säkularismus. Dessen vermeintliche Treue zum Erbe der religionskritischen Aufklärung meint heute aber weniger den Kampf gegen die weltliche Macht der Kirche, sondern eher das Unverständnis gegenüber einer vermeintlich hartnäckigen Fortschrittsverweigerung der Religion als Anachronismus. Eine Sicht, die sich im Lichte moderner Fortschrittskritik und Pluralismuskonzepte – aber ebenfalls aus der Sicht einer mit Marx über Marx hinaus entwickelten Religionskritik selber als anachronistisch erweist. Einem solchen Säkularismus bleibt nur die Wahl zwischen intoleranter Ächtung jeder Religion und einem liberalen Pathos der Religionsfreiheit, das sich immer wieder unversehens gezwungen sieht, religiöse Praktiken oder das, was dafür ausgegeben wird, verteidigen zu müssen, ohne zu wissen, worum es dabei eigentlich geht. Eine Religionskritik, die die religiösen Phänomene immer wieder neu auf der Höhe der Zeit analysiert, muss daher eine bleibende Aufgabe aller pluralistischen Gesellschaften sein. Ihre in diesem Essay in der Auseinandersetzung mit Marx entwickelten Grundlagen seien zum Schluss zusammenfassend in fünf Thesen dargelegt.
- Der Satz „Religion ist Opium fürs Volk“ steht für die Kritik an Religion, wo sie ein Instrumentarium zur Knechtung und zur Ausübung von Macht durch bewusste Irreführung, Vernebelung und Verschleierung der Menschen ist.
- Der Satz „Religion ist Opium des Volkes“ meint das Marxsche Verständnis von Religion als «Seufzer» der Bedrängten, als eigenständiger Versuch der Menschen, Not zu lindern, Wünsche nicht aufzugeben, Ohnmacht nicht zu akzeptieren. Sie wird so zum Anknüpfungspunkt für die Erzählung von Freiheit und Emanzipation, zum messianischen Glutkern der Menschheit.
- Religionskritik ist auch immer eine Domäne der Religionen selber. Sie wirkt primär gegen innen, kann aber ebenfalls das Instrumentarium liefern zur Analyse religiöser Anteile in profanen Systemen, namentlich des globalen Kapitalismus.
- Wenn Religion eine Projektion ist oder eine Illusion – was natürlich, wie auch immer man es betrachtet, seine Richtigkeit hat – dann ist es nutzlos, diese zu bekämpfen, weil es ein Kampf gegen Geister ist, den man nicht gewinnen kann. Sondern man muss erstens anerkennen, dass es nie eine Menschheit ohne Projektion und Illusion geben wird und zweitens daraus folgern, dass man die Verhältnisse so gestalten muss, dass die kollektiven Illusionen, die dadurch in einer Gesellschaft relevant werden, weder destruktiv sind, noch dumm machen.
- Selbst wenn man glaubt, Religion sei eine einfache Dummheit, kommt man damit analytisch nur weiter, wenn man sich gleichzeitig klar macht, dass Dummheit immer ein Statement ist und daher eine bestimmte Position in einem bestimmten Wahrheitsfeld. Die religionskritische Frage schlechthin lautet daher nicht: Wie befreien wir uns von der ewigen Wiederkehr des Religiösen, sondern viel eher: Welche Kräfte und Konflikte haben welchen Glauben hervorgetrieben und wie ist er zu bearbeiten, zu bekämpfen oder bewusst zu halten, damit Angst vertrieben und Emanzipation betrieben werden kann? Dies aber ist eine Aufgabe, die in pluralistischen Gesellschaften sowohl innerreligiös wie von aussen wahrgenommen werden muss.
[1] Vgl. Kern Phone Number Trace , Bruno (2017): Zur Religionskritik von Karl Marx – ein solidarisches Streitgespräch. Ostfildern. Und: Hinkelammert/Eigenmann/Füssel/Ramminger (2017): Die Kritik der Religion. Der Kampf für das Diesseits der Wahrheit. Münster.
[2] Marx-Engels-Werke (MEW) 1 (1956), Berlin, 378.
[3] Die Motive gegenwärtiger Kritik an „den Muslimen“ bleiben aber wohl auch daher ungeklärt, weil sie oft auch der Herstellung der „eigenen“ Identität dient. Da man ebenfalls keinen positiven Begriff hat/haben kann von «westlichen Werten» funktioniert der Islam auch als Negativfolie, die notwendig unbestimmt bleiben muss, damit ein breiter Konsens in der Ablehnung möglich bleibt.
[4] MEW 1, 378.
[5] Bloch, Ernst (1980): Atheismus im Christentum. Frankfurt am Main, 92.
[6] Aus Platzgründen muss der Hinweis einerseits auf den grossen Einfluss jüdischen Denkens auf die Marxsche Theoriebildung und andererseits auf die Vielfalt jüdisch, islamisch, hinduistisch und buddhistisch geprägter Rezeptionen des Marxismus genügen.
[7] MEW 22, 449
[8] MEW, 22, 460.
[9] MEW 40, 536. Oder etwa diese Stelle, die sich nicht nur aus religiöser, sondern etwa auch aus ökologischer Perspektive seltsam befremdend anhört: «Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen (…) damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege.» (MEW 1, 379.)
[10] MEW 23, 85.
[11] Joas Hans (2017): Die Macht des Heiligen, Frankfurt am Main, 65.
[12] Bloch, Ernst (1967): Religion im Erbe. München, 196.
[13] Vgl. https://www.woz.ch/-7445 (2.12.2017), https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Auch-Muslime-staatlich-anerkennen/story/25240608 (2.12.2017) oder: https://www.kath.ch/newsd/nach-paris-schlaegt-jetzt-die-stunde-der-anerkennung-der-schweizer-muslime/ (2.12.2017) Notwendig oder zumindest denkbar wäre beispielsweise eine offizielle Mitgliedschaftsstruktur in muslimischen Gemeinschaften. Dadurch könnte man der aktuellen Konsequenz einer undifferenzierten Religionsfreiheit (wie sie etwa im Abstimmungskampf gegen die Minarettinitiative auf beiden Seiten zu beobachten war), die alle Menschen mit Herkunft aus Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung im Zweifelsfall zu gläubigen Muslim_innen macht, entgegenwirken. Das heisst, ein staatlicher Anerkennungsprozess islamischer Gemeinschaften würde zugleich auch die Säkularität nicht praktizierender Muslime stärken.
*Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Cédric Wermuth, Beat Ringger (Hg.): MarxnoMarx. 33 Linke zur Frage, wie das Werk von Karl Marx heute fruchtbar gemacht werden kann, edition 8, Zürich 2018.
diesseits | Kommt zum Punkt und hört Jesus endlich richtig zu!
[…] http://www.theoriekritik.ch/?p=3592 […]