Ich möchte im Folgenden auf drei Bücher eingehen. Es handelt sich nicht um «Klassiker» oder theoretische Werke, welche in erster Linie meine «politische Linie» definieren oder zur «theoretischen Festigung» meiner politischen Überzeugungen beigetragen haben. Vielmehr entdeckte ich in diesen Büchern die Widersprüchlichkeit der «proletarischen Existenz»: Einerseits erscheint mir die Identifizierung mit dieser proletarischen Existenz eine notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung für die politische Konsolidierung der Proletarisierten und Ausgebeuteten zur Schaffung eines Klassenbewusstseins, andererseits bedeutet eine gesellschaftliche Revolution, die alle Verhältnisse umwirft, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist, gerade die Überwindung der Klassenverhältnisse und damit auch dieser proletarischen Existenz.
Die drei Bücher, über die ich schreibe, haben gemeinsam, dass es sich erstens um Arbeitergeschichten oder präziser: Massenarbeitergeschichten handelt; zweitens thematisieren sie das Arbeiterdasein in Italien; drittens stellen sie alle einen Bezug zu den 60er und 70er Jahren her, also zu einer historischen Phase der globalen ArbeiterInnengeschichte.
Nanni Balestrini: Vogliamo tutto
«Wir wollen alles» von Nanni Balestrini ist die Geschichte des Arbeiters Alfonso, der aus dem Süden in die bewegte Fiat-Fabrik Turins gelangt. Er entdeckt dort die Metropole, die Gewalt und die kapitalistischen Unterdrückung, aber auch die sich entwickelnde proletarische Gemeinschaftlichkeit, die Revolte, die sich durch den Fabrikalltag schlängelt und dann explodiert. Der Ichroman erzählt die Geschichte der Auswanderung aus dem Süden und die Geschichte der ArbeiterInnenkämpfe in Turin.
1971 erschienen, stellt Vogliamo tutto einen Bruch mit der traditionellen Literatur Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg dar, und zwar in doppelter Weise: inhaltlich und formal. Einerseits steht nicht mehr «das Volk» im Zentrum der historischen Erzählungen, sondern die sich in Aufruhr befindenden sozialen Klassen und Bewegungen. Und um den Rhythmus der industriellen Stadt halten zu können, experimentiert Balestrini andererseits intensiv mit einer neuen Sprache. So konzentriert sich seine Arbeit auf diesen Rhythmus, die Wörter sind nur das Rohmaterial, welches direkt der Realität entnommen wurde. Das Resultat ist eines der wohl wichtigsten Werke der 70er Jahre, das sich nicht auf die Beschreibung einzelner Individuen beschränkt, sondern die kollektive Geschichte einer historisch spezifischen sozialen Gruppe – den Massenarbeiter – und ihre gemeinsame Sprache in Momenten intensivster gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hervorhebt.
Tommaso di Ciaula: Tuta blu oder: Der Fabrikaffe und die Bäume. Ein Tagebuch
Tuta blu ist nur sieben Jahre später, 1978, erschienen. Es stellt im Gegensatz zu Vogliamo tutto keine fiktive Geschichte dar, sondern ist das Fabriktagebuch von Tommaso di Ciaula. Di Ciaula wurde 1941 in Adelfia (Apulien) geboren. Nach dem Besuch der Grundschule wurde ihm die Aufnahme in die Mittelschule verweigert. Als Sohn einer Bauernfamilie arbeitete er ab 1953 in einer Autofabrik der ENI/Fiat in Modugno bei Bari. Sein Tagebuch thematisiert die condition d’existence des «Bauernarbeiters», welche ihn als Schriftsteller begleitete und zugleich spaltete: Bauer und Arbeiter. Ersterer verweist auf seine «Natur» und Herkunft, auf den «süssen Wein der Freiheit»; zweiterer auf sein Arbeitersein – der mit dem Firmenstempel versehene blaue Overall ist das Zeichen dafür – und auf die damit verbundene Dekadenz der modernen Zivilisation. Das Schreiben des Arbeiter-Bauern häuft Wörter, Redewendungen und Bilder des Fabrikalltags an wie seine Drehbank Stück für Stück auf einen Haufen stösst.
Der Übergang von der Natur zur Fabrik ruft in Di Ciaula keine guten Gefühle hervor. Er versteht sich weder mit seinen Kollegen, die praktisch nur auf den Aufbau einer kleinbürgerlichen Existenz fokussiert sind, noch mit den Gewerkschaft, die schlussendlich nur damit beschäftigt sind, über die Länge der Ketten der Lohnsklaven zu verhandeln. Das Schreiben stellt für Di Ciaula einen kreativen Prozess der inneren Emigration dar. Seine ganze Lebenswut beinhaltet eine umfassende Kritik Pasolinischer Prägung an Konsumgesellschaft, Massenmedien und moderner Zivilisation. Das Buch erscheint heute neben seinem dokumentarischen und poetischen Wert als gleichzeitig anachronistisch und tragisch, denn die Bäume des schreibenden Arbeiters Tommaso Di Ciaula sind nicht in den Himmel gewachsen: Trotz zeitweisem Erfolg und Übersetzung seiner Texte in mehreren Sprachen (darunter auch Deutsch), blieb er an die Drehbank der Fabrik gebunden.
Alberto Prunetti: Amianto. Una storia operaia
Amianto. Una storia operaia ist im Frühjahr 2014 erschienen. Der Autor, Alberto Prunetti, ist in Piombino, in der Nähe von Livorno, 1973 geboren. Sein Vater war Schweisser und Rohrleger. Amianto ist die Geschichte von Vater Renato, einem Arbeiter, der in der Nachkriegszeit aufgewachsen ist und mit 14 Jahren das erste Mal seinen Fuss in die Fabrik setzte; einem Arbeiter, der Elektroden in tausend Funken neben gigantischen Öltanks auflöste. Während seines ganzen Lebens hat er Zink, Blei und viele weitere toxische Produkte eingeatmet, bis einmal eine Asbestfaser den Weg in seine Lunge fand. Als er endlich in Rente gehen durfte, hat diese Faser begonnen, seine Zellen anzugreifen und Zerebralschäden zu produzieren, die Renato nicht mehr «zusammenschweissen» konnte.
Alberto Prunetti ging es in erster Linie nicht darum, mit der Biographie seines Vaters die Familiengeschichte nachzuzeichnen. Um die Klage einreichen und somit eine wenn auch nur symbolische Anerkennung des Asbesttodes von Renato erzwingen zu können, musste er eine detaillierte Berufsbiographie seines Vaters vorlegen. Und so wurden die Recherchearbeiten für Amianto zu einem Streifzug durch die Erinnerungen der Stahlwerke von Piombino und Taranto, der ligurischen Raffinerien, und der Werke von Casale Monferrato, der sonntäglichen Fussballspiele und des durch die zermürbende Arbeit von Renato zerrissenen Familienlebens. Amianto. Una storia operaia ist ein proletarisches Lexikon, die Geschichte einer ganzen Generation von FabrikarbeiterInnen, eine Sammlung sarkastischer Anekdoten der Welt der ArbeiterInnen, ein proletarisches Epos, aber auch eine Untersuchung, welche eine gesellschaftliche Wunde öffnet – ein furchterregendes und wunderschönes Buch zugleich.
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Warum lohnt es sich heute noch, über die Existenzbedingungen der Massenarbeiter Bescheid zu wissen? Erstens stellen diese Bücher historische Dokumente einer Zeit dar, während der der Klassenkonflikt in den Betrieben manifest ausgelebt wurde: Streiks, Sabotage, Arbeitsverweigerung und viele andere individuelle und kollektive Kampfformen gehörten praktisch zum Alltag des Fabriklebens. Grundlage dieser Konflikte waren eine kollektive Identität der ArbeiterInnen und eine gemeinsame Hoffnung auf ein besseres Leben. Zweitens sind diese Bücher literarische Meisterwerke: Trotz unterschiedlicher Stile (Roman, Tagebuch, Biographie) haben sie eine gemeinsame Sprache, nämlich diejenige der Ausgebeuteten. In der Sprache selbst findet sich die Hoffnung auf Emanzipation und Solidarität. Drittens motivieren die Bücher zur Nachahmung: Die detaillierte Darstellung der Welt der ArbeiterInnen zwischen den 60er und 80er Jahren war zugleich eine Grundlage für die Entwicklung eines gemeinsamen Klassenbewusstseins. Wie sehen die heutigen «MassenarbeiterInnen» aus? Welche kollektive Praxis entwickeln sie? Welche Widersprüche erleben sie? Daran müssen wir heute arbeiten …
Nanni Balestrini (1971). Vogliamo tutto. Feltrinelli editore.
Tommaso Di Ciaula (1978). Tuta blu. Ira, ricordi e sogni di un operaio del sud. Feltrinelli editore.
Alberto Prunetti (2014). Amianto. Una storia operaia. Edizioni Alegre.
Tremer, Manfred
Gute Darstellung der arbeiterliterur. Ich habe ” tutta blue” auf deutsch gelesen und bewundere die kompromisslose Einstellung von Tomaso di Ciaula zur kapitalistischen Gesellschaft. Die beiden anderen Bücher interessieren mich auch. Es gab in Deutschland auch Arbeiterschriftsteller. Leider sind sie heute vergessen.