Demokratisierung in Zeiten von Globalisierung und Getrumpe. Ein E-Mail-Wechsel zwischen Jürgmeier und Stefan Howald. Erster Teil.
27. Oktober 2016
Lieber Stefan
Lass’ uns (wieder einmal) über Demokratie reden. Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. Etwas plakativ gesagt: Rechte berufen sich auf die Demokratie, Linke misstrauen dem Volk. Zum Beispiel in der Migrations-, aber auch in der ökologischen Frage.
In der Schweiz helfen Linke mit, die von einer Bevölkerungsmehrheit angenommene Masseneinwanderungs-Initiative der SVP im parlamentarischen Prozess zu verwässern. Die deutsche AfD (Alternative für Deutschland) propagiert die direkte Demokratie nach Schweizer Modell. In den USA ist es immer noch denkbar, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird. Norbert Hofer von der Freiheitlichen Partei FPÖ könnte der nächste Präsident Österreichs werden. In Frankreich hat Marine Le Pen Chancen, irgendwann demokratisch an die Macht zu kommen.
Der deutsche Autor und Verfasser des Theaterstücks beziehungsweise des Fernsehfilms «Terror» Ferdinand von Schirach sagte im Gespräch mit der Wochenzeitung, an dem du ja auch beteiligt warst, zum Thema Volksabstimmungen, zum Beispiel über die Verwahrungsinitiative in der Schweiz: «Solche Volksabstimmungen haben wir nicht – weil wir die stärker gebrannten Kinder sind. Wir hatten derartige Abstimmungen bei den Nazis, und das war … wir wollen nicht drüber reden. Ich bin ein strikter Gegner davon.»
Der belgische Historiker David Van Reybrouck erklärte im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung: «Der einfachste Weg für einen Autokraten, an die Macht zu kommen, sind Wahlen. Ich bin dafür, China zu demokratisieren, aber wenn man im Sinn hat, die Welt zu zerstören, dann müsste man nur China dazu bringen, unsere demokratischen Rezepte zu importieren.»
Ist die Demokratie zu einem rechtskonservativen Projekt, das Volk zu einem Risiko für Menschenrechte und Frieden geworden?
Herzlich
Jürg
1. November 2016
Lieber Jürg
Deine Fragen lese ich gegenwärtig in London, und da bietet es sich natürlich an, die Demokratie-Debatte mit dem Brexit zu beginnen. Eine knappe aber unzweideutige Mehrheit der britischen Abstimmenden hat sich kürzlich entschieden, aus der EU austreten zu wollen. Was ist da passiert? Nun, zuerst einmal sind verschiedene Demokratieformen durcheinander geraten. Grossbritannien ist eine repräsentative Demokratie und ist von der Regierung Cameron mit einem Plebiszit in die Bredouille geritten worden. Das Abstimmungsresultat hat, streng genommen, nur Empfehlungscharakter: Es ist ein politischer Entscheid, dass es die neue Regierung May für verbindlich erklärt hat. Demokratietheoretisch sind viele Fragen ungeklärt: Könnte die Abstimmung bzw. deren Übernahme als Regierungspolitik noch juristisch angefochten werden? Wie stark muss die Regierung das Parlament über die laufenden Verhandlungen mit der EU informieren? Kann sie über ein allfälliges Verhandlungsresultat eigenmächtig entscheiden, oder muss darüber letztlich das Parlament befinden? Und welche Möglichkeiten haben jene Teile des Vereinigten Königreichs, die für den Verbleib bei der EU stimmten, wie Schottland und Nordirland? Solche Unklarheiten ergeben sich auch aus der Tatsache, dass Grossbritannien keine Verfassung besitzt, sondern dass sich die parlamentarische Demokratie Schritt für Schritt (mit gelegentlichen Revolutionen zu Beginn und dazwischen) entwickelt hat.
Soweit die nicht unwichtigen Legalitäten. Was die Frage nicht verdrängt, warum das Resultat so ausgefallen ist, warum eine knappe Mehrheit der Abstimmenden gegen alle Vernunft (und moralische Solidarität) «falsch» gestimmt hat. Nun, Demokratie ist eine Praxis, kein bloss formales Verfahren. Die britische Praxis ist parlamentarisch, nicht plebiszitär. Man kann nicht von einem Moment auf den andern die Demokratieform wechseln. Da die Form der Volksabstimmung nicht institutionell eingebunden ist, hat sie eine besondere, zusätzliche Bedeutung bekommen. Die Abstimmung über den Brexit war kein Sachplebiszit, sondern eine Abstimmung über die aktuelle Befindlichkeit der Nation. Verschiedene Nein – gegen die «Eliten» in Westminster, die Auswirkungen der Globalisierung, die angeblich bedrohliche Migration, das mediale Zerrbild von Brüssel, aber auch gegen die letzten Überreste eines sozialdemokratischen Europas – haben sich zu einem Ja zu Brexit zusammengesetzt. Die Abstimmung sollte innerparteiliche Flügelkämpfe der Konservativen beilegen; doch es war unverantwortlich und, ja, undemokratisch, ein solches Plebiszit in dieser Form und in diesem Rahmen anzusetzen.
Eine gute Freundin hier in England, die ich gerade getroffen habe, deren Eltern vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet sind, überlegt sich allen Ernstes, einen deutschen Pass zu beantragen. Sie wütet dagegen, dass die Abstimmung mit «Lügen» gewonnen worden sei. Ja, es ist gelogen worden, dass sich die Balken bogen; aber ihre Betonung der Fehlinformationen hat auch damit zu tun, dass man sich in England die Form des Plebiszits nicht gewohnt ist.
Aber ich will mich nicht hinter dem Brexit verstecken, was die Frage des tiefer liegenden Problems betrifft, ob die Demokratie mittlerweile zu einer Gefährdung für sachgerechte, «vernünftige» Entscheide, ja, für die Menschenrechte geworden sei. In der Schweiz haben wir damit immer wieder einschlägige Erfahrungen gemacht, auch mit «Lügen». Ferdinand von Schirach will mit dem Verweis auf den Faschismus die plebiszitäre Demokratie gleich ganz aussen vor lassen – obwohl der Faschismus immer auch ein wenig ein Totschlagargument ist (im durchaus zwielichtigen Wortsinn). Deine Frage, ob die Rechten jetzt für Demokratie sind, kann ich allerdings nur als rhetorische verstehen – sobald die Resultate nicht (mehr) zu ihren Gunsten ausfallen, wollen sie nichts (mehr) von Demokratie wissen.
Dennoch und deshalb nochmals: Demokratie ist eine Praxis. Das System der Schweizer Volksabstimmungen ist etwas anderes als ein von oben eingesetztes Plebiszit. Bei allen gegenwärtigen Rechtstendenzen kann es immer noch korrigierend wirken. Ein Geflecht von Abstimmungen ist besser als die Konzentration auf eine alles entscheidende Zuspitzung – siehe die Korrektur anlässlich der Entrechtungs- alias «Durchsetzungsinitiative». Deshalb gilt es, die Praxis genau zu betrachten. Was sind ihre Rahmenbedingungen? Medien sind immer wichtiger geworden; siehe das gegenwärtige Trauerspiel in den USA. Welche Farbe hat das Geld, das dabei rollt? Diese Praxis muss in einem funktionierenden System der Gewaltentrennung stattfinden. Und es braucht einen Ausbau der Praxis. Das «Reichere», Vielfältigere, Differenziertere ist das Bessere.
Mehr dazu später. Jetzt gehe ich die kosmopolitische Seite Londons geniessen.
Herzlich
Stefan
1. November 2016
Lieber Stefan
Du schreibst den «falschen» Entscheid der Brit*innen – «gegen alle Vernunft und moralische Solidarität» – zentral dem Umstand zu, dass sie keine Erfahrung mit Plebisziten hätten. «Man kann nicht von einem Moment auf den anderen die Demokratieform wechseln.» Damit sprichst du den Brit*innen faktisch die Fähigkeit zur plebiszitären Demokratie ab. Aber spielen bei Wahlen nicht dieselben Phänomene wie bei Abstimmungen (Lügen, Fehlinformationen, mediale Inszenierungen, Geld)? In den USA wird ja niemand Präsident*in, die oder der nicht über grosse Millionenbeträge verfügt. Um es auf den Punkt zu bringen – wenn die Brit*innen (und natürlich auch die Bürger*innen anderer Staaten) nicht zu «sachgerechten» Entscheidungen fähig sind, weshalb sollten sie besser in der Lage sein, geeignete Volksvertreter*innen zu wählen?
Auf diesem Hintergrund sind die Vorschläge von David Van Reybrouck interessant, der dafür plädiert, Wahlen mit einem Losverfahren zu ergänzen. «Das Recht, zu wählen, soll zu einem Recht auf Mitsprache ausgebaut werden. Und jeder soll die gleiche Chance haben, mitzuwirken. Eine Auslosung gibt jedem diese Chance.» Sagte er im Gespräch mit der NZZ am Sonntag vom 11. September 2016. Jean-Martin Büttner fasst das Vorgehen im Tagesanzeiger vom 30. August 2016 so zusammen: «Alle Bürgerinnen und Bürger aus dem Wählerverzeichnis eines Landes oder einer Stadt erhalten eine Einladung, sich um die Wahl zu bewerben. Wer das tut, nimmt an der Verlosung teil, deren Kriterium darin besteht, dass alle Teile der Bevölkerung angemessen vertreten sind.» Und auch für den Brexit-Entscheid hätte Van Reybrouck eine unkonventionelle Alternative gehabt: «Im Fall von Brexit hätte ich 500 bis 1000 Briten ausgelost und ihnen drei bis fünf Monate Zeit gegeben, alle Argumente abzuwägen, zu diskutieren und dann zu entscheiden. Sie hätten alle nötigen Dokumente und jeden gewünschten Experten erhalten. Das Resultat wäre viel überlegter gewesen als das, was wir heute haben.»
Sind das Ansätze, die in deinem Sinne zu einem Ausbau demokratischer Praxis führen, weg von «Trauerspielen», wie sie nicht nur die USA kennen, hin zu Wahlen, in denen alle Bevölkerungskreise Wahlchancen haben, hin zu differenzierten Sachentscheidungen anstelle des simplen Ja oder Nein zu einfachen Lösungen?
Herzlich
Jürg
PS. Das Stichwort London erinnert mich daran, dass es bei mir über vierzig Jahre her ist, dass ich in London war, die Skyline, wie ich aufgrund von Fernsehbildern sehe, ist heute eine ganz andere. Und der Speakers Corner, den ich damals fast jeden Tag besuchte, weil da mehrere spannende Debatten parallel geführt wurden – gibt es diesen Ort noch, der durchaus ein demokratischer genannt werden könnte?
6. November 2016
Lieber Jürg
Die britische Bevölkerung halte ich nicht grundsätzlich für unfähig oder nicht berechtigt, einen solchen Entscheid zu fällen, aber ich halte die Abstimmung, so wie sie durchgeführt worden ist, für fahrlässig. Im Übrigen hat Grossbritannien durchaus schon mal über den europäischen Vereinigungsprozess abgestimmt: 1975 wurde in einem Referendum mit 67 Prozent der Verbleib in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bestätigt, der das Land zwei Jahre zuvor beigetreten war. Das waren noch andere Zeiten, die beiderseitigen ökonomischen Vorteile lagen auf der Hand, und das «Friedensprojekt», das die EWG und dann die EU durchaus ein bisschen waren, wirkte im britischen Eigeninteresse noch nach, als Neutralisierung der Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland. Die jüngste Abstimmung aber hat verschiedene aktuelle Probleme unzulässig auf die EU projiziert.
Ich habe das Resultat des Brexit als falsch bezeichnet, aber das in Anführungszeichen gesetzt: Meines Erachtens ist es falsch, doch man kann sich nicht einfach so über das Resultat hinwegsetzen. Ich halte «das Volk» – das es nur als mythische Konstruktion gibt – nicht für dumm. Eine Mehrheit der Bevölkerung mag gelegentlich – na, meines Erachtens öfters – gegen die eigenen Interessen oder gegen «Vernunft und moralische Solidarität» stimmen. Aber damit müssen wir demokratisch umgehen können.
Es gibt einen Unterschied zwischen Abstimmungen und Wahlen. Wahlen erweitern durch das Parteienspektrum die Wahlmöglichkeiten. Abstimmungen und Wahlen mit ihrer je eigenen Logik ergänzen und korrigieren sich, wie sich in der Schweiz an bestimmten sozialpolitischen Fragen zeigt. Generell gilt es allerdings, im politischen Feld ungleiche Macht abzubauen, mehr Transparenz einzufordern und unzulässigen Geldeinfluss abzubauen – und zwar wirksamer als der absurde Mechanismus in den USA mit der Konstruktion von Wahlhilfevereinen, über die mittlerweile mehr Geld denn je in die Wahlkämpfe fliesst. Für uns unliebsame Resultate können trotzdem nicht verhindert werden.
Mit David Van Reybroucks Vorschlägen kann ich nicht viel anfangen. Seine Stossrichtung, mehr Mitsprache einzufordern, ist ja lobenswert. Die Form aber, die er dafür vorschlägt, die Auswahl durchs Losverfahren, scheint mir ein vordergründiger Gag. Wenn man sich fürs Losverfahren bewerben müsste, wäre absehbar, wer sich bewerben würde und wer nicht; und wie würde die Repräsentativität der so Ausgewählten festgelegt? Zu Van Reybroucks konkretem Beispiel für ein besseres Brexit-Verfahren: Wer bestimmt denn, welche ExpertInnen die richtigen und welche Dokumente die nötigen sind? Darin steckt der technokratische Glaube, die Wahrheit werde sich durchsetzen, wobei alle Machtbeziehungen ausser Acht gelassen werden. Dann könnten auch gleich die ExpertInnen entscheiden.
Nein, die nötige demokratische Mitbestimmung muss auf allen Ebenen unter Einbezug aller Beteiligten gestärkt werden. Im Vorfeld der Diskussion um eine EU-Verfassung gab es mal den Vorschlag, einen europaweiten Verfassungskonvent einzuberufen, und die Bewegung Diem25 hat das wieder aufgenommen. Danach soll ein solcher Verfassungskonvent durch Diskussionen (und repräsentative Wahlen) von der lokalen bis zur transnationalen Ebene konstituiert werden.
Wenn ich von weitergehender Demokratisierung spreche, geht es allerdings nicht nur um die Form, in der demokratisch verhandelt werden soll, sondern auch um die Inhalte, namentlich um die Wirtschaftsdemokratie. Die steht ja im Parteiprogramm der SP. Auf nationaler Ebene hat sie gegenwärtig keine Chance, also muss sie von unten unterstützt werden, mit der Forderung nach Genossenschaften, mehr Mitbestimmung in den Verwaltungen und im Service public der sozialdemokratisch-grün regierten Städte. Praktische Demokratie schafft DemokratInnen, so wie praktische Mitbestimmung Mitbestimmende schafft.
In banger Erwartung des US-amerikanischen «Volkswillens»
Stefan
PS. Speakers’ Corner ist ja eine interessante Bewegungsform für einen Widerspruch: die schrankenlose Freiheit der Rede, in einem strikt eingeschränkten Raum. Aber er ist wohl seit geraumer Zeit mehr Mythos als gelebte Demokratie. Immerhin hat ein Auftritt beim Speakers’ Corner 1999 Anlass zu einem Gerichtsurteil gegeben, wonach die Redefreiheit ausdrücklich auch für «irritierende, umstrittene, exzentrische, häretische, unwillkommene und provokative Meinungen» gelten soll, solange sie «nicht zu Gewalt aufrufen». Seit etlicher Zeit sind die dortigen Auftritte stärker religiös, auch verschwörungstheoretisch geprägt, haben die individuellen Anliegen die sozialen Aufrufe verdrängt. Für breitere soziale Bewegungen ist Speakers’ Corner mittlerweile zu wenig spektakulär, weil kaum mehr medial wirksam. Er ist ersetzt durch die Blogs auf den elektronischen Allmenden, mit Unterschieden, nicht nur zum Guten. Die Stärke von Speakers’ Corner besteht darin, dass man im Wortsinn mit der leibhaftigen Person für seine Worte einstehen muss. In den Blogs hingegen enthemmt die bloss noch vermittelte Verantwortlichkeit offensichtlich.
8. November 2016
Lieber Stefan
Für mein Gefühl verwirfst du die Idee Van Reybroucks – Volksvertreter*innen auszulosen – etwas schnell als «Gag». Es ist doch immerhin ein Versuch, über die heutige unbefriedigende Situation hinauszudenken. Nicht nur in den USA zeigen sich bei den uns vertrauten Wahlformen problematische Tendenzen – realistische Wahlchancen haben ja nur Kandidat*innen mit viel Geld. Wer gewählt werden will, muss einfache (beruhigende) Lösungen propagieren, sich selbst überhöhen und die anderen Kandidat*innen schlecht machen. Das alles würde beim Losverfahren wegfallen. «Populist*innen», welcher Couleur auch immer, könnten «das Volk» nicht mehr «verführen». Im Moment neigen Verlierer*innen nach Wahlen und Abstimmungen dazu – auch wenn sie nicht wie Trump [vor und nach Auszählung der Stimmen] die Wahlbetrugskarte spielen –, das Volk zu entmündigen, indem sie unterstellen, die Bürger*innen seien durch das Schüren von Ängsten oder durch Werbemillionen «manipuliert» worden. Auch du verwendest das Bild vom Volk, das gegen die eigenen Interessen stimmt. Ist das nicht eine bevormundende Denkfigur, und vor allem – wer bestimmt die Interessen «des Volkes», wenn nicht die Mehrheit der Bürger*innen? Neigen wir nicht dazu, die Mehrheit der Stimmenden, wenn sie nicht machen, was wir gerne hätten, als manipulierte Masse, wenn sie mit uns stimmen, als mündige Bürger*innen zu sehen?
Du schreibst, es wäre absehbar, wer sich an einem solchen Losverfahren beteiligen würde; ich nehme an, du meinst, sehr viele Leute würden es sich nicht zutrauen, ein politisches Amt zu übernehmen, aber das müsste einerseits nicht immer so bleiben, und andrerseits glaube ich, es hätten trotzdem sehr viel mehr Leute eine Chance, in ein Amt «gelost» als gewählt zu werden. Aber wir müssen nicht an dieser Los-Idee kleben bleiben, sondern der Frage nachgehen, wie die heutigen Wahlverfahren demokratisiert werden könnten. Mit der Offenlegung der Parteispenden allein scheint es mir nicht getan.
Herzlich
Jürg
9. November 2016
Lieber Jürg
Bis um 7 Uhr morgens habe ich es ausgehalten, dann hatte ich genug. Um 02.30h versicherten mir die ExpertInnen, es sehe gut aus für Clinton, die womöglich sogar Florida und Ohio gewinne, aber ab 03.30h begann es zu kippen, und ab 04.30h wurde es zunehmend zur Tortur. Um 07.00h habe ich dann die Menschheit (oder zumindest den US-amerikanischen Teil davon) aufgegeben und bin zu Bett gegangen.
Jetzt stehen wir also wieder bei Nach-Brexit, vervielfacht.
Ein paar Punkte lassen sich schon jetzt festmachen: Von Latinos/Latinas hat Hillary Clinton – trotz aller rassistischer Äusserungen von Trump – weniger Stimmen gekriegt als Obama 2012. Die Frauen haben Clinton nicht so stark unterstützt wie erwartet. Die weisse Arbeiterklasse hat die demokratische Partei in einzelnen Bundesstaaten in Scharen verlassen.
Jetzt wissen wir es endgültig (obwohl wir es natürlich schon vorher wussten, aber es angesichts des Gegners keine andere Wahlmöglichkeit mehr gab): Hillary Clinton war die falsche Kandidatin. Zu fest ins System verstrickt und zu anfällig im persönlichen Umfeld. Zu stark Pro-Finanzindustrie und nur opportunistisch kritisch zum Freihandel. Selbst ihre harte aussenpolitische Haltung hat nicht nur linke, sondern auch rechte isolationistische WählerInnen abgestossen.
Insgesamt lässt das Resultat zwei Interpretationen zu. Nicht ganz so pessimistisch gesehen: Eine Mehrheit der Trump-WählerInnen wollte vor allem ihren Protest, ihre Entfremdung, ihre Ohnmacht ausdrücken, unabhängig davon, was Trump jeweils gerade vertrat. Pessimistisch gesehen: Eine Mehrheit derjenigen, die Trump gewählt haben, stimmt mit seinen rassistischen, xenophoben sowie sexistischen Äusserungen und Positionen überein. Für alle diese Punkte und Interpretationen gehen mir zunehmend die Denkfiguren aus, um sie nachvollziehen zu können.
Womit wir bei deiner Frage oder deinem Vorwurf sind, ich würde die Menschen letztlich für unmündig halten. Vorausgeschickt sei allerdings: Du findest die aktuelle Situation der Demokratie ja auch unbefriedigend – weil du die BürgerInnen womöglich auch für unmündig hältst? Du schreibst sogar explizit, mit dem Losverfahren könnten PopulistInnen das Volk nicht mehr «verführen». Was heisst es, wenn du «verführen» in Anführungszeichen setzt? Dass du diese Möglichkeit doch einräumst? Von meiner Seite aus würde ich grundsätzlich daran festhalten, dass sich im argumentativen Diskurs Kriterien herausbilden, um sagen zu können, dass jemand «gegen seine eigenen Interessen» oder gegen «menschenrechtliche Grundforderungen» stimmt. Dazu müssen wir meines Erachtens keine modische Diskussion über die Relativität der Wahrheit führen. Davon zu unterscheiden ist für mich die Frage, wie wir ein solches Verhalten interpretieren. Und da glaube ich nun nicht an die Verführungs- und Manipulationstheorie, zumindest nicht als alleinige Erklärung. Ja, es wird manipuliert. Aber das reicht als Erklärung nicht. Manipulation muss an realen Situationen und Interessen anknüpfen, damit sie erfolgreich (oder erfolgreicher) wird. Jede Priestertrugstheorie – also die von den Aufklärern einst propagierte Vorstellung, die Kirche und ihre Priester würden uns mit Lug und Trug in Unmündigkeit halten – als allein selig machende Erklärung ist überholt.
Wie das Auslosen das demokratische Verfahren verbessern soll, sehe ich immer noch nicht. Wer garantiert denn, dass das Feld, in dem die so Ausgewählten dann entscheiden können, nicht genau gleich verzerrt ist wie das übliche politische Feld? Ein solches Losverfahren wäre eine grundsätzliche Entmächtigung des Demos, wir würden Teilen der grundlegenden politischen Körperschaft Rechte entziehen. Transparenz und Spendenbeschränkungen sehe ich nur als, notwendige, Minimalforderungen einer Demokratisierung. Notwendig, aber nicht genügend. Was also dann?
Vielleicht sollten wir den Politbetrieb mal für eine gewisse Zeit ausser Acht lassen. (Das ist ja die deutlichste Aussage von Brexit und US-Wahlen: Viele Menschen halten das politische System für «kaputt».) Vielleicht sollten wir wieder unten beginnen, mit Nachbarschaftsgruppen, lokalen Initiativen im Wohnungs-, Verkehrs- und Konsumbereich. Dann lassen wir oben die grosse Politik über uns hinwegrollen, da wir dort gegenwärtig sowieso ständig «aufs Dach bekommen». Dieser Neuansatz von unten ist das Versprechen von Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Grossbritannien. Sie haben damit Enthusiasmus ausgelöst, sind aber bisher nicht über eingegrenzte Kreise hinausgekommen. Jetzt müssen sie den Tatbeweis antreten, dass das weiter vorangetrieben werden kann. Darüber müssten wir uns weiter unterhalten: eine demokratische Bewegung neu von unten aufzubauen.
Noch immer in Schockstarre
Stefan
* Dieser E-Mail-Wechsel hat kürzlich auf Infosperber begonnen und wird dort fortgeführt, siehe http://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Brexit-Demokratie.
Die weiteren Beiträge lassen sich nachlesen unter Bürgerliche Demokratie & Wirtschaftsdemokratie (2/3) und Pensionskassenfrühling & andere Zukunftsinseln (3/3).
Kurt Peter
Ich will zwei zentrale Sätze aus Stefan Howalds ersten “Brief” zitieren:
“warum eine knappe Mehrheit der Abstimmenden gegen alle Vernunft (und moralische Solidarität) «falsch» gestimmt hat. (…) Jetzt gehe ich die kosmopolitische Seite Londons geniessen.”
In der Konfrontation dieser beiden Sätze kann man mehr über den Brexit und vorallem die theoretische Hilfosigkeit der beiden alternden Linken erfahren als im restlichen Briefwechsel.