Zusammenfassung
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit der historischen Debatte um die „Soziale Frage“ während der Industrialisierung und der damit verbundenen Massenverelendung, um anhand unterschiedlicher Lösungsstrategien, Vergesellschaftungs- und Handlungsweisen eine Geschichte der Gegenwart in Bezug zur „Sozialen Frage“ im 21. Jahrhundert zu skizzieren. Ein wesentlicher Aspekt dieser Ableitung ist die Ausgangslage, dass mit dem historischen Ausdruck „Soziale Frage“ seitens christlich-humanitärer und bürgerlicher Organisationen versucht wurde, den Klassenwiderspruch begrifflich zu entschärfen, das kapitalistische Prinzip zu verschleiern, eine prinzipielle Lösbarkeit durch Sozialreformen zu propagieren sowie die internationalen Arbeiter_innenbewegungen mit nationalistischen und rassistischen Trennungen zu entsolidarisieren. In Bezug auf die aktuelle „Soziale Frage“ scheint eine Lösung doppelt prekär, da einerseits die Nationalstaaten es scheinbar nicht mehr schaffen, gesellschaftliche Widersprüche und ein zunehmendes Wohlstandsgefälle mittels Sozialreformen zu minimieren, und andererseits Rechtspopulisten und nazistische Parteien und Organisationen die „Soziale Frage“ besetzen und rassistisch umdeuten.
Einleitung
Die derzeitige politische und soziale Lage in Europa lässt auf eine Tendenz schliessen, dass das Auftreten von rechtspopulistischen und national-sozialen Parteien und Organisationen zum Normalzustand in den Parlamenten und Strassen werden könnte. Es gibt zweistellige Wahlergebnisse für rechtspopulistische bzw. faschistische Parteien in nahezu ganz Europa. Da gibt es das laute Nachdenken von Politiker_innen über Schiessbefehle gegenüber Geflüchteten an den europäischen Aussengrenzen. Es wird in den sozialen Medien gehetzt und sich über ertrunkene Geflüchtete lustig gemacht. In Athen patrouillieren Neonazis durch die Innenstadt und machen Hetzjagd auf Andersaussehende. Es gibt sogenannte national befreite Zonen, in denen Angst um Leib und Leben herrscht, Bürgerwehren und Richter, die den Hitlergruss als Meinungsäusserung werten.
Diese Liste liesse sich leider noch lange fortführen. Das gemeinsame dieser Ereignisse ist, dass sich die Agressionen gegen einzelne Personen oder Gruppen richten, welche für eigene Ängste um die Besitzstandswahrung, erlittene Ungerechtigkeiten oder die prekäre soziale Lage verantwortlich gemacht werden. Klaus Dörres These dazu lautet, dass rechte Parteien und Organisationen – trotz nationalstaatlich und regional unterschiedlicher Ausprägung – die Soziale Frage besetzen und sie in einen Verteilungskampf umdeuten, „der zwischen Innen und Aussen, zwischen zivilisierten und vermeintlich minderwertigen Kulturen ausgetragen wird“ (Dörre 2016). Dass Ressentiments mittlerweile die Tagespolitik und den Ausgang von Wahlen bestimmen sowie das Fortbestehen der Demokratien beeinflussen oder Geflüchtete „eine Gefahr für den sozialen Frieden“ darstellen sollen, wie der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich CDU glaubt, ist der Anlass, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Im Folgenden kann allerdings nicht geklärt werden, was die „Soziale Frage“ im 21. Jahrhundert ist, sondern es sollen vielmehr Mechanismen herausgearbeitet werden, um die Kontexte der „Sozialen Frage“ verstehen zu können. Historisch lässt sich die „Soziale Frage“ im Kontext gesellschaftlicher Missstände und der Armut verstehen. Ausgehend von den historischen Entstehungsmechanismen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit gesellschaftlichen Missständen soll überlegt werden, ob diese Mechanismen und Strategien noch für das 21. Jahrhundert gelten. Diese Vorgehensweise zur Analyse der „Sozialen Frage“ soll einen Beitrag leisten zu einer „Geschichte der Gegenwart“, die darin besteht, die Analyse der Vergangenheit als Mittel zur Erfassung der Gegenwart zu nutzen (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994: 147).
Wenn hier allgemein von Mechanismen die Rede ist, sind damit Prozesse gemeint, indem Eingangsgrössen unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen Kräften bzw. Machtverhältnissen sich in umgewandelte Ausgangsgrössen verändern. Das heisst, ein Mechanismus ist ein Anreiz, um soziale Interaktionen auszulösen oder zu steuern bzw. um Handlungsmöglichkeiten zu strukturieren, zu gestalten oder auch zu verunmöglichen. Ein Mechanismus dient gleichzeitig aber auch zur Beschreibung eines willentlich Unkontrollierbaren (vgl. Deleuze/Guattari 1977). Konkret geht es im Folgenden daher um die Beantwortung der Fragen:
1. Welche Mechanismen bzw. strukturellen Bedingungen und Machtverhältnisse manifestieren die Soziale Frage?
2. Welche Bewältigungsstrategien und Vergesellschaftsungsformen entstehen durch die Soziale Frage?
Die Beantwortung dieser Fragen wird sowohl aus empirischen Material heraus stattfinden als auch theoriegeleitet sein.
Die Soziale Frage während der Industrialisierung
Die Entstehung des Begriffs „Soziale Frage“ lässt sich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datieren. Er bezeichnet soziale Missstände, die mit der Industrialisierung einhergingen. Zu diesen Missständen gehören im Wesentlichen die Massenverelendung (Pauperisierung), der Nahrungs- sowie Wohnungsmangel und die allgemeine Existenzunsicherheit. Phänomenologisch lassen sich die Soziale Frage bzw. die Verelendungstendenzen exemplarisch an zwei Textstellen und einer Karikatur verdeutlichen.
Beispiel 1:
„Man gibt ihnen feuchte Wohnungen, Kellerlöcher, die von unten, oder Dachkammern, die von oben nicht wasserdicht sind. Man baut ihre Häuser so, dass die dumpfige Luft nicht abziehen kann. Man gibt ihnen schlechte, zerlumpte oder zerlumpende Kleider und schlechte, verfälschte und schwerverdauliche Nahrungsmittel. Man setzt sie den aufregendsten Stimmungswechseln […] aus – man hetzt sie ab wie das Wild und lässt sie nicht zur Ruhe und zum ruhigen Lebensgenuss kommen. Man entzieht ihnen alle Genüsse ausser dem Geschlechtsgenuss und dem Trunk https://phonelookupbase.ca , arbeitet sie dagegen täglich bis zur gänzlichen Abspannung aller geistigen und physischen Kräfte ab. […] So findet man in Strassen wie Long Acre usw., die zwar nicht fashionabel, aber doch anständig sind, eine Menge Kellerwohnungen, aus denen kränkliche Kindergestalten und halbverhungerte, zerlumpte Frauen ans Tageslicht steigen […]; die Nahrung im allgemeinen schlecht, oft fast ungeniessbar und in vielen Fällen wenigstens zeitweise in unzureichender Quantität, so dass im äussersten Falle Hungertod eintritt. Die Arbeiterklasse der grossen Städte bietet uns so eine Stufenleiter verschiedener Lebenslagen dar – im günstigsten Falle eine temporär erträgliche Existenz, für angestrengte Arbeit guten Lohn, gute Wohnung und gerade keine schlechte Nahrung – alles natürlich vom Arbeiterstandpunkt aus gut und erträglich – im schlimmsten bitteres Elend, das sich bis zur Obdachlosigkeit und dem Hungertode steigern kann; der Durchschnitt liegt aber dem schlimmsten Falle weit näher als dem besten. […] Das Elend lässt dem Arbeiter nur die Wahl, langsam zu verhungern, sich rasch zu töten oder sich zu nehmen, was er nötig hat, wo er es findet, auf deutsch, zu stehlen. Und da werden wir uns nicht wundern dürfen, wenn die meisten den Diebstahl dem Hungertode oder dem Selbstmorde vorziehen. Es gibt freilich auch unter den Arbeitern eine Anzahl, die moralisch genug sind, um nicht zu stehlen, selbst wenn sie aufs Äusserste gebracht werden, und diese verhungern oder töten sich. Der Selbstmord, der sonst das beneidenswerte Privilegium der höheren Klassen war, ist in England auch unter den Proletariern Mode geworden, und eine Menge armer Leute töten sich, um dem Elend zu entgehen, aus dem sie sich sonst nicht zu retten wissen. […] Die wirklichen Lebensumstände des Proletariats sind so wenig gekannt unter uns, dass selbst die wohlmeinenden ‚Vereine zur Hebung der arbeitenden Klassen‘, in denen jetzt unsre Bourgeoisie die soziale Frage misshandelt, fortwährend von den lächerlichsten und abgeschmacktesten Meinungen über die Lage der Arbeiter ausgehen.“ (Engels 1845: unterschiedliche Textstellen.)
Als Friedrich Engels diese Textstellen in den Jahren 1845 in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ mit dem Untertitel „Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen“ veröffentlichte, bereiste er zuvor die englischen Industriestädte und beschrieb die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in England. Mit diesem Pionierwerk der Sozialforschung, welches empirische Beschreibungen und theoretische Verallgemeinerungen verbindet, ist eine systematische Methode zur Analyse bzw. der Grundstein für die Kritik der politischen Ökonomie gelegt worden. Wie Marx, mehr als 20 Jahre später, im Kapital analysiert, ist die historische Entwicklung dieser Zustände auf Klassenwiderspüche und auf das Zusammentreffen zweier wesentlicher Elemente zurückzuführen: Eigentümer von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, die diese durch Ankauf fremder Arbeitskraft verwerten, und lohnabhängige Arbeitskräfte, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft und diese daher verkaufen müssen, um zu überleben. Diese grundlegende Zusammensetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise führt zu elementrarer sozialer Ungleichheit, welche mit Konkurrenz, Ausbeutung, Wachstum für die einen und Armut für die anderen einhergeht.
Beispiel 2:
Abb1: Autor [s.n.]: Zur „sozialen Frage“. In: Pädagogischer Beobachter. Wochenblatt für Erziehung und Unterricht, Band 5 (1879), Zürich
Die christlichen und humanitären Vereine oder Konsortien wollten weniger, wie Marx oder Engels, die Ursachen der Sozialen Frage bekämpfen, sondern Missstände beseitigen, indem z.B. Bildung, sittliche Erziehung und eine erholsame Freizeit dazu dienen sollten, die niederen Stände zu emanzipieren. In diesen Vorstellungen ist eine frühe Version der Idee zur Beteiligung der Arbeitenden am Wohlstand zu erkennen. Der soziale Ausgleich sollte mittels staatlicher Regulationen hergestellt werden.
Beispiel 3:
Eine Karikatur des illustrierten humoristischen-politischen Schweizer Wochenblatts „Nebelspalter“ bringt die Soziale Frage wie folgt zum Ausdruck:
Abb2: Soziale Frage. In: Nebelspalter, Nr. 26, Zürich 1879
In diesem Gerangel bzw. in der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Personen – alias Kapital versus Proletariat – wird die „Soziale Frage“ überzeichnet. 1879 liegt der Stock oder vielleicht Holzprügel noch auf dem Boden. Dies hat sich aber in der Zuspitzung der „Sozialen Frage“ im Zuge der Entstehung der internationalen Arbeiterbewegungen verändert.
Diese exemplarischen Bezüge verdeutlichen einerseits eine Gemeinsamkeit in der Sozialen Frage: Die Darstellung sozialer Gegensätze. Andererseits werden die Vielschichtigkeit der Perspektiven auf diese und die damit einhergehenden Vorstellungen, Positionen oder Lösungsansätze deutlich. Bevor nun auf den Übergang von der Entstehung zur Beantwortung der Sozialen Frage eingegangen wird, soll vorab noch deren Widersprüchlichkeit zum Anlass genommen werden, den strukturellen Merkmalen und Mechanismen der Sozialen Frage auf den Grund zu gehen, um anschliessend die daraus entwickelten Bewältigungsstrategien, Lösungen und Vergesellschaftsungsformen darzustellen.
Strukturelle Bedingungen und Machtverhältnisse
Theoretisch lassen sich die Entstehungsbedingungen sozialer Gegensätze und der Verelendung, im Zuge der Industrialisierung, wie folgt fassen:
Mechanismus 1: Das kapitalistische Wertgesetz
Das kapitalistische Wertgesetz geht auf die Untersuchungen von Marx zurück und dieser beschreibt einerseits, wie durch die ungleiche Verteilung von Eigentum sowie durch Konkurrenz und Wettbewerb Ausbeutung und Verelendung entstehen, und damit einhergehend andererseits, wie aus Geld mehr Geld entsteht.
Die Vermehrung von Elend und Geld basiert auf dem ökonomischen Prinzip, welches vorgibt, mit den vorhandenen Mitteln einen maximaleren Nutzen zu erzielen bzw. ein bestimmtes Ziel mit minimalem Aufwand zu verwirklichen. In der Regel geschieht die Gewinnmaximierung durch eine optimale, rationale und effiziente Produktionsplanung, um die Gewinnspanne eines Produktes zu vergrössern. Marx beschreibt zwei wesentliche Methoden, die Produktion zu organisieren:
a. Absolute Mehrwertproduktion
b. Relative Mehrwertproduktion
Beiden Varianten liegt zugrunde, dass Aufgrund des kapitalistischen Herrschaftssystems Lohnabhängige ihre Arbeitskraft verkaufen und dafür das erhalten, was zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft erforderlich ist. Der Lohn erscheint als Bezahlung für den gesamten Arbeitstag. Dabei zerfällt der Arbeitstag in zwei Teile: In die notwendige Arbeit, die Lohnabhängige leisten, um ihr Lohnäquivalent zu produzieren, und in die darüber hinaus gratis geleistete Mehrarbeit, um den Mehrwert zu produzieren: Eine kapitalistische Wirtschaftsform ist rational nur sinnvoll, wenn in der von Lohnabhängigen erschaffenen Ware ein Wert verbleibt, der grösser ist als die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft. Damit die Reproduktion des Kapitalkreislaufs profitabel ist und am Ende eines Zyklus mehr Wert entsteht als investiert wurde, müssen die Arbeitskräfte den produzierten Waren mehr Wert zusetzen als „sie selbst Wert“ sind. Ohne diese Logik wäre die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht sinnvoll.
Um den Anteil der Mehrarbeit am gesamten Arbeitstag zu vergrössern, kann die Verlängerung des Arbeitstages erhöht werden. Diese Form der Mehrwertproduktion wird von Marx als absolute Mehrwertproduktion bezeichnet, da der Arbeitstag im Vergleich zur Ausgangssituation absolut verlängert wird. Weil die absolute Mehrwertproduktion eine natürliche Schranke – 24 Stunden Arbeitstag, Vernutzung der Arbeitskraft bis zum Tod – besitzt, kann kein maximaler Profit durch absolute Mehrwertproduktion akkumuliert werden. Daher ist die kapitalistische Akkumulationsdynamik auf die Regulation der absoluten Mehrwertproduktion angewiesen und die Mehrwertproduktion kann nur relativ sein. Das heisst, die absolute Mehrwertproduktion und die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit besitzen biologische und in der bürgerlichen Gesellschaft ethische Grenzen, die in der gesetzlichen Regelung der Länge des Arbeitstages sowie in der physischen und psychischen Regeneration der Ware Arbeitskraft münden. D.h., bei der relativen Mehrwertproduktion bleibt die gesamte tägliche Arbeitszeit von z.B. 8 h konstant, während sich der Anteil der notwendigen Arbeitszeit bezogen auf die tägliche Arbeitszeit absolut und relativ durch die Verdichtung des Arbeitsprozesses, Kooperation, Arbeitsteilung, Maschinerie, Geschicklichkeit und der Arbeitsproduktivität vollzieht (vgl. MEW 23: 192-330).
Marx schreibt dazu, dass innerhalb des kapitalistischen Systems diese Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft immer auf Kosten der Individuen geschehen. Er bringt das ökonomische Prinzip auf folgende Gleichung: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“ (MEW 23: 674 f.)
Zusammenfassend lässt sich für den ersten Mechanismus festhalten, dass dieser den je Einzelnen, soweit sie in kapitalistische Vergesellschaftungsprozesse verflochten sind, die Normen des ökonomischen Handelns aufzwingen – sowohl den Unternehmenden als auch den Arbeitnehmenden. Im Prinzip ist dieser Mechanismus eine Zweck-Mittel-Verkehrung. D.h., der Mittelpunkt und das Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens ist nicht der Mensch, sondern der Profit, und die Sonderinteressen Einzelner sind gegenüber dem Gemeinwohl vorrangig. Offen ist allerdings hierbei, wie dieses Verhältnis legitimiert und von allen Beteiligten getragen wird, da es offensichtlich nicht zum Vorteil aller beiträgt.
Mechanismus 2: Das Gewaltmonopol des Staates
Die folgende Darstellung des zweiten Mechanismus, des Gewaltmonopols des Staates, widmet sich diesem widersprüchlichen Verhältnis zwischen der Reproduktion und Legitimation von diesen – zumindest für die Arbeitnehmenden – selbstfeindlichen Strukturen.
Aus bürgerlicher Sicht stellt sich der Staat als eine allgemeine Instanz und Verfassungswirklichkeit dar, die scheinbar mit der unmittelbaren Bewegung des Kapitals und mit den daraus verbundenen Klassenwidersprüchen wenig zu tun hat. Der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli beschreibt, dass die reale Funktion des Staates insofern aber aus der Kapitalbewegung entsteht, „als der Akkumulationszwang die Tätigkeit des Kapitals auf die eigene Verwertung und Realisierung, also auf die bloss ökonomische Reproduktion einengt. Dies gilt erst recht bei der allgemeinen Verrechtlichung des Klassenverhältnisses, sobald dieses sich als gesellschaftlicher Antagonismus und die Sphäre der unkontrollierbaren Mehrwertproduktion und der unmittelbaren Konfrontation im Betrieb überschreitet“ (Agnoli 1995: 50). Agnolis Gedanken können aufbauend auf den oben beschriebenen Arten der Mehrwertproduktion anhand des Gründungsmythos des modernen Staates nach Thomas Hobbes ergänzt werden. Eine zentrale staatsphilosophische Erkenntnis in seiner Schrift Leviathan (1651) hierzu lautet, dass der vorstaatliche Zustand der Menschen ein Naturzustand ist, in dem alle Menschen ein Recht auf alles haben: Dies ist das Recht, „nach welcher ein jeder zur Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu beizutragen scheint, tun kann“ (Hobbes 1996: 118). Nach Hobbes gefährdet dieses Recht auf alles das je individuelle Überleben, weil „jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es behaupten kann“ (Hobbes 1996: 98). D.h., der Naturzustand sei Überlebenskampf, in dem Konkurrenz, Misstrauen und Geringschätzung einen „Krieg aller gegen alle“ produzieren. Durch dieses Recht entstehe eine gegenseitige Beschränkung der Lebensgrundlagen und demzufolge auch eine Selbsteinschränkung. Die Folge dieses Zustands sei Angst vor Elend und Tod bzw. die „Furcht, gemordet zu werden, die stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben zu leben“ (Hobbes 1996: 115f).
Die Angst ist, laut Hobbes, der Anreiz, dass sich Menschen als territoriale Gemeinschaft zusammenschliessen, um sich vor Rechtsfreiheit zu schützen, und Friede könne erreicht werden, wenn der je Einzelne auf sein Recht auf alles verzichtet und seine Rechte freiwillig auf eine Obrigkeit, den Souverän, überträgt. Diese Autorität ist dadurch mit einem Gewaltmonopol ausgestattet, um Untertanen voreinander zu schützen. Der Souverän ist somit die alleinige rechtsetzende, rechtsprechende und das Recht durchsetzende Instanz. Widerstand gegen die Staatsgewalt hingegen sei dann rechtmässig, wenn sich eine Person selbst vor dem Tod zu schützen versucht. Dies wäre das Notwehrrecht, das seine Begründung im natürlichen Recht auf Selbsterhaltung hat (vgl. Hobbes 1996: 99ff).
Wenn auch diese Darstellung eine staatsphilosophische Überlegung von Hobbes ist und nicht eins zu eins historisch zu übertragen ist, stellt dieser Mechanismus den Doppelcharakter des staatlichen Gewaltmonopols dar: Zum einen stellt das Gewaltmonopol ein Gebrauchswertversprechen in Form einer Regelung zur Erhaltung der territorialen Gemeinschaft und Sicherung der je eigenen Existenz dar. Zum anderen ist das Gewaltmonopol dem Souverän von Nutzen, indem es die Autorität legitimiert und aufrechterhält (vgl. Kropotkin 1985: 19).
Zusammenfassend beziehen sich die legitime Gewalt bzw. real existierende Rechtssysteme – die sich seit der Frühen Neuzeit in Europa allmählich gegenüber Fehden oder Blutrache als Formen der Konfliktbeseitigung durchsetzten – in formaler Allgemeinheit auf alle möglichen Ereignisse des Lebens. Durch diese Beziehbarkeit werden Verhaltensweisen kalkulierbar – ähnlich wie in der Mehrwertproduktion (vgl. Lukács 1997: 108f).
Diese beiden Mechanismen können nun als Ausgangspunkt genommen werden, um subjektive Praxen und Vergesellschaftungsformen bzw. Bewältigungsstrategien im Umgang mit gesellschaftlichen Missständen bzw. der „Sozialen Frage“ weiter abzuleiten.
Bewältigungsstrategien und Vergesellschaftungsformen im Kontext der Sozialen Frage
Nicht nur der Selbstmord war, wie Engels im ersten Beispiel beschrieb, eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit der Sozialen Frage. Historisch betrachtet wurden je nach Problemwahrnehmung auch unterschiedliche Lösungsansätze zur „Sozialen Frage“ entwickelt. Es bildeten sich verschiedene gesellschaftliche, kirchliche und politische Organisationen und Parteien. Es etablierte sich eine internationale Arbeiterbewegung. Und dementsprechend gab es auch unterschiedliche Glaubensätze und Bewältigungsstrategien. Ein Blick auf die politischen Veröffentlichungen der damaligen Zeit macht klar: Damals ging es für die von Armut und Verelendung Betroffenen weniger abstrakt um die „Soziale Frage“, sondern vielmehr um Ausbeutung, Kapitalismus, kollektiven Schutz gegen diesen und um Klassenkampf. Das Manifest der Kommunistischen Partei wurde z.B. in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Darin stand der Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Es ging auch um die soziale Notwehr in Form von „direkten Aktionen“ und der „Propaganda der Tat“. Bedeutsam in diesem Kontext war die Gründung der ersten internationalen Arbeiterassoziation 1864, das Entstehen der Pariser Kommune 1871 oder die sozialrevolutionären Aufstände in den 1860er Jahren in Italien, welche sich in den 1880-90er Jahren auf ganz Europa ausdehnten (vgl. Linse 1982).
Damals entstanden aber auch erfolgreiche Versuche, dem Klassenkampf entgegenzuwirken, indem Aufstände gewaltsam niedergeschlagen wurden oder soziale Absicherungen bzw. sozialstaatliche Versicherungen die Arbeitenden eingliedern und die internationalen Arbeiterbewegungen mit nationalistischen und rassistischen Trennungen entsolidarisieren sollten.
Verdeutlichen lassen sich die Eingliederungsmassnahmen am Beispiel der Sozialversicherungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zur Absicherung der vorherrschenden ökonomischen und staatlichen Strukturen geführt haben, weil die mangelnde Gesundheit der Bevölkerung die Sicherheit der ökonomischen Prozesse in Frage stellte. Die zunächst privatwirtschaftliche Technologie zur Regelung der gesellschaftlichen Prozesse in Form eines Versicherungssystems richtete sich nicht an bestimmte soziale Klassen, sondern an Bevölkerungsschichten, die sich nach Risiken unterscheiden, die durch Alter, Geschlecht, Beruf etc. unterteilt werden. Versichert werden überwiegend Risiken der Arbeitnehmenden, wie Krankheit, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit oder Tod. Trotzdem lieferten die Versicherungen Schutz für beide Parteien: So erklärte Otto von Bismarck, der 1883 die Sozialversicherungen in Deutschland einführte: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“ (Bismarck 1924/1935: 195f). D.h, dass die sozialstaatlichen Mittel letztendlich auch Mittel gegen Revolutionen waren, zur Herstellung bzw. Sicherung des „sozialen Friedens“ dienten und damit auf die Kontrollierbarkeit und Planbarkeit des Klassenverhältnisses abzielten.
In Bezug auf die Entsolidarisierung der internationalen Arbeiter_innenbewegungen war die Rede von einer guten „schaffenden“ Arbeit und dem bösen „raffenden“ internationalen Kapital bedeutend. Spätestens nach dem Börsenkrach 1873 etablierte sich ein Code zur Unterscheidung von „schaffender“ Arbeit und „raffender“ Nichtarbeit. In den damals verfügbaren Medien tauchte das Bild des „jüdischen, parasitären Wucherers, Börsenspekulanten, Kapitalisten und Bankiers“ als Stereotyp für das „raffende“ Kapital auf. Hier wurde die Vorstellung konstruiert, dass neben einem produktiven Industriekapital ein unproduktives, wurzelloses, betrügerisches, jüdisches Finanzkapital existiere (vgl. Schatz/Wöldike 2001). Statt die Mechanismen des Kapitalismus als komplexes gesellschaftliches Verhältnis zu kritisieren, werden in dieser antisemitischen Projektion nicht die Ursachen der Verelendungstendenzen des Kapitalismus aufgehoben, sondern eine scheinbar negative Seite davon. In Adolf Hitlers „grundlegenden“ Rede zum Antisemitismus aus dem Jahre 1920 konstruiert er einen Gegensatz von „Jude“ und „Arbeit“: „Wir sehen, dass hier schon in der Rasse zwei grosse Unterschiede liegen: Ariertum bedeutet sittliche Auffassung von Arbeit und dadurch das, was wir heute so oft im Munde führen: Sozialismus, Gemeinsinn, Gemeinnutz vor Eigennutz – Judentum bedeutet egoistische Auffassung der Arbeit und dadurch Mammonismus und Materialismus, das konträre Gegenteil von Sozialismus“ (Hitler 1920: 406). Im zweiten Teil der Rede betont Hitler die Gemeinnützigkeit des Industriekapitals: „Man macht uns den Vorwurf […]: Ihr bekämpft nicht das Industriekapital, sondern nur das Börsen- und Leihkapital, und die wenigsten bedenken, dass das Industriekapital überhaupt nicht bekämpft werden kann“ (Hitler 1920: 409). Damit wollte Hitler suggerieren, dass diejenigen, die das Industriekapital bekämpfen, die Arbeit bekämpfen und letztendlich die „Volksgemeinschaft“ selbst bekämpfen würden. D.h., eine Gemeinschaft, die sich über „Klassen und Stände, Berufe, Konfessionen und alle übrige Wirrnis des Lebens erhebt […], die soziale Einheit der deutschen Menschen ohne Ansehung des Standes und Herkunft, im Blute fundiert, durch ein tausendjähriges Leben zusammengefügt, durch das Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden“ (Hitler-Rede, 10.3.1940, zit. nach Kammer/Bartsch 1998: 222). Joseph Goebbels fasste die „Soziale Frage und soziale Not“ in der Gauzeitung der Berliner NSDAP („Der Angriff. Das kleine ABC des Nationalsozialisten“) wie folgt zusammen: „Die soziale Frage ist für uns Nationalsozialisten nicht nur die Frage nach der wirtschaftlichen Besserstellung der unterdrückten Klasse unseres Volkes, sondern grösser und umfassender: die Frage nach der Verständigungsfähigkeit der Volksgenossen untereinander zur Hebung, Förderung und Mehrung aller sittlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Güter der gesamten Nation und jedes Einzelnen“ (Goebbels 1929: 9f). D.h. abschliessend, dass die Rede vom „schaffenden Kapital“ sowie der nationalsozialistische Begriff der „Volksgemeinschaft“ Chiffren zur Überwindung der Klassenwidersprüche sind, indem die Rede von der „Sozialen Frage“ im NS-Kontext die Klassen entlang nationaler Territorien zu spalten versucht und für die Möglichkeit einer Herausbildung konkurrierender nationaler und „rassischer“ Gemeinschaften sowie „nationaler Identitäten“ sorgt. Klaus Weber bringt diese Strategie in seinem Text „Zur Analyse von Faschisierungsprozessen“ auf den Punkt:
„Die Nazis waren in der Lage, durch die ideologische Konstitution eines Gegenvolks die Handlungslogiken sowie die Kompetenzen in ‚eine Vertikale der Herrschaft‘ zu drehen: Die Unterstellung derjenigen, die nicht Gegenvolk oder gar Volksverräter sind (Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle etc.), unter Führer, Partei und Staat war gleichzeitig mit subjektiven Kompetenzzuwächsen verbunden, welche innerhalb der Inkompetenz-Struktur verblieben.“
Zusammenfassend lässt sich daher folgendes festhalten: Historisch betrachtet waren Sozialversicherungen sowie die Idee einer völkischen Gemeinschaft auch eine Versicherung gegen Revolutionen. Mit dem historischen Ausdruck „Soziale Frage“ wurde versucht, den Klassenwiderspruch begrifflich zu entschärfen, das kapitalistische Prinzip zu verschleiern sowie eine prinzipielle Lösbarkeit durch staatlichen Schutz in Form von Sozialreformen zu propagieren.
Hier möchte ich nun den historischen Teil abschliessen, eine kurze Überleitung zur heutigen Zeit machen sowie vorläufige Schlussfolgerungen für die aktuelle Soziale Frage ziehen.
Der Übergang zur neuen Sozialen Frage
Die Soziale Frage scheint in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg – zumindest als diskursives Ereignis – kein grosses Thema gewesen zu sein. Dies hat wohl auch mit den sozialstaatlichen Befriedungen zu tun. Arbeitnehmende wurden am Wohlstand beteiligt – allerdings nur unter Wahrung der vorherrschenden gesellschaftlichen Produktionsweise, welche in den Nachkriegsjahren auf der Basis eines eigenzentrierten Kreislaufes von Massenproduktion und Massenkonsumtion existierte. Das heisst, die Massenproduktion führte zur Verbilligung der Produktionskosten, damit zu einer Erhöhung des realen Lohnniveaus, und sie liess somit Arbeitnehmende zu Konsumenten industriell erzeugter Massenprodukte werden. Die Ausweitung und Beibehaltung sozialstaatlicher Ver- und Absicherungen war nicht nur erforderlich, um die Arbeitnehmenden körperlich gesund zu halten. Sie bildeten auch ein wichtiges Mittel zur Stabilisierung des Massenkonsums (vgl. Hirsch/Roth 1986). In Europa – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – traten die meisten Gewerkschaften auf sozialpartnerschaftlicher oder korporativer Ebene mit Unternehmerverbänden in ein gemeinsames Verhandlungssystem, indem die Teilhabe an einem expandierenden Massenkonsum und an wohlfahrtsstaatlicher sozialer Sicherung die Grundlage eines stabilen und übergreifenden Klassenkompromisses bildete (vgl. Hirsch 1995: 75).
Erst mit dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen im Zuge der Fordismuskrise, in den 1970ern, so lautet eine zentrale These der Soziologen Castel und Dörre, entsteht eine neue „Soziale Frage“, die mittels Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung eine Zone neuartiger Verwundbarkeit der Lohnabhängigen schafft. Die Transformation der neuen „Sozialen Frage“ manifestiert sich im Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und im Abbau des Wohlfahrtstaates. Sie manifestiert sich als Entsolidariserung und vor allem in der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse (vgl. Castel/Dörre 2009). D.h., die neue „Soziale Frage“ leitet sich durch die Automation der Produktion ein, welche zu Entlassungen von Arbeitskräften und zu einer strukturellen Arbeitslosigkeit führt. Beim ersten Krisenzyklus bis in die 1980er führten Sättigungserscheinungen für standardisierte Massenprodukte zu rückläufigen Konsumentenzahlen und in eine ökonomische Verwertungskrise. Der sozialstaatliche Verteilungsmechanismus und die strukturerhaltenden Subventionen des Wohlfahrts-National-Staats konnten so nicht mehr durch Sozialproduktzuwächse finanziert werden, was dazu führte, dass sich ein nationaler Wettbewerbsstaat anstelle des nationalen Wohlfahrtstaates etablierte (vgl. Hirsch 1998). Kurt Wyss beschreibt in diesem Kontext unterschiedliche politische Strategien in der Transformation des nationalen Wohlfahrtstaates, z. B. neokonservative Ansätze, die einen generellen Abbau von Sozialleistungen vorsehen, weil diese verhindern würden, dass sich Leistungsbezüger_innen um Arbeit bemühten, oder neoliberale Ansätze, welche davon ausgehen, dass die Leistungsbezüger_innen für die erhaltenen Leistungen eine Gegenleistung erbringen und zur Arbeit verpflichtet werden müssten (vgl. Wyss 2011: 19-24). Das Gemeinsame dieser Wettbewerbspolitik („Workfare“) ist, staatliche Transferleistungen mit einer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme mittels Androhungen von Sanktionen zu verknüpfen („Hartz IV“ in der BRD, die Debatte um „Arbeit statt Fürsorge“ in der Schweiz oder um „Arbeitswilligkeit“ in Österreich). Mit dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen, so eine zentrale These Castels (2011), entstehen neue Verelendungstendenzen, welche sich qualitativ von den historischen Missständen unterscheiden, weil sie sich vor dem Hintergrund bereits bestehender sozialstaatlich garantierter Sicherungsmechanismen abspielen. Für Castel könnte der Sozialstaat seine Integrationskraft verlieren, wenn die sozialen Missstände nicht aufgefangen werden, und dementsprechend könnte diese Deregulierung Zustände wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts produzieren. D.h., es entstehen Personengruppen, die Castel aus Sicht der Verwertungslogik als „überflüssig gewordene oder überzählige“ bezeichnet (vgl. Castel 2011: 13; 20; 359; 401).
Umdeutung der „Sozialen Frage“ durch die Rechte
Wie Klaus Dörre in dem Artikel „Die national-soziale Gefahr. Pegida, Neue Rechte und der Verteilungskonflikt – sechs Thesen“ beschreibt, besetzen neuerdings rechtspopulistische und postnazistische Parteien die „Soziale Frage“ und deuten sie in einen rassistischen Verteilungskampf um, in dem die Teilhabe an sozialstaatlichen Leistungen an nationale, ethische, kulturelle bzw. rassistische Merkmale geknüpft werden. Beispielhaft kann hier die Rede des AfD-Politikers Björn Höcke auf einer AfD-Demonstration in Schweinfurt am 28.4.2016 herangezogen werden:
„Die Soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt nach jung. Die neue deutsche Soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach aussen“.
Dörre beschreibt – trotz aller nationalen wie regionalen Besonderheiten der rechten Parteien – dass sich in dieser Rhetorik ein gemeinsames Grundmuster abzeichnet. Die National-Sozialen verstärken und radikalisieren durch Ressentiments nicht nur das Prekariat, sondern auch Mittelklasse-Angehörige sowie gewerkschaftlich organisierte Lohnabhängige. D.h., dass die Politik dieser Parteien und Organisationen darin besteht, Unmut, Unzufriedenheit und Kapitalismuskritik – die unter Lohnabhängigen weit verbreitet sind – in völkisch-rassistische Deutungsmuster zu übertragen und Lohnabhängige zu mobilisieren, um ihren sozialen Status mittels Ressentiments zu verteidigen (vgl. Dörre These 1).
Als exemplarisch für diese Umdeutungen und Mobilisierungen kann folgendes Wahlplakat angesehen werden:
Dass diese Parteien mit diesen Strategien zum Teil sehr erfolgreich sind, zeigen aktuelle Wahlergebnisse und Wahlprognosen.
Schlussfolgerungen
Konnten die Effekte der „Sozialen Frage“ während der Industrialisierung noch als „Klasse gegen Klasse“ beschrieben werden, hat sich die derzeitige Lage im Spätkapitalismus diffus verändert. Soziale Gerechtigkeit soll derzeit scheinbar nicht mehr in der Auflösung des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen „Arm und Reich“ hergestellt werden, sondern in der sozialen Sicherung der je egoistischen Lebensgrundlage mittels der Abschottung der eigenen Nation gegenüber „Anderen“. Die National-Sozialen haben gegen einen „völkischen“ Kapitalismus oder gegen „nationales“ Kapital nichts einzuwenden. Ihre „national-soziale Frage“ hat die Funktion, ein bestimmtes unzufriedenes Klientel zu bedienen und dieses politisch rechts zu binden. Unter Berufung auf die Überlegenheit oder zumindest Vorrangigkeit des „eigenen Volkes“ werden Sozialneid und Standortideologien etabliert, in denen der Stolz auf die eigene Nation zum passenden ideellen Lohn für eine Bevölkerung wird, „deren realer Lohn zum Leben immer weniger taugt, weil er als Manövriermasse für die Durchsetzung der eigenen Nation in der globalen Standortkonkurrenz vorgesehen ist“ (Dozekal 2001: 12).
Vielleicht leitet sich aus dieser Feststellung die „Soziale Frage“ im 21. Jahrhundert ab: Denn in Anbetracht der Besetzung und Umdeutung der „Sozialen Frage“ durch die Neuen Rechten besteht Handlungsbedarf, denn die Verteidigung eines nationalen Wohlstandes gegenüber „Fremden“ thematisiert die Gerechtigkeitslücke zwischen Arm und Reich bzw. die Mechanismen dieses Zustandes nicht. Im Gegenteil: Die Neue Rechte versucht, einen Zustand der Angst und Furcht zu etablieren, in dem nur eine nationale Gemeinschaft Schutz davor bietet, kein „einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben zu leben“ (Hobbes 1996: 116). Um diesen Faschisierungsprozessen (Klaus Weber) wirksam entgegentreten zu können, müsste man vielleicht nicht einfach nur die „Soziale Frage“ wieder in herkömmliche soziale Bahnen zurücklenken, sondern die Mechanismen hinter der „Sozialen Frage“ insgesamt wieder neu in Frage stellen.
Agnoli, Johannes 1995: Der Staat des Kapitals, Freiburg
Bismarck von, Otto 1924/1935: Gesammelte Werke, Band 9, Paderborn
Castel, Robert 2011: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg
Castel, Robert/Dörre, Klaus 2009: Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix 1977: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt/Main
Dörre, Klaus 2016: Die national-soziale Gefahr. Pegida, Neue Rechte und der Verteilungskonflikt – sechs Thesen [URL] http://www.theoriekritik.ch/?p=2833
Dozekal, Egbert 2001: Globalisierung – Ideologie und Realität, Manuskript zum Vortrag am 10.5. 2001 an der Fachhochschule Frankfurt/Main
Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul 1994: Die Genealogie des modernen Individuums. In: Dies (Hg.); Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim, S. 133-155
Engels, Friedrich 1845: Die Lage der Arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Leipzig
Hirsch, Joachim 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin
Hirsch, Joachim/Roth, Roland 1986: Das neue Gesicht des Kapitalismus, Hamburg
Hitler, Adolf 1920: „Grundlegende“ Rede zum Antisemitismus. In: Phelps, Nr 4., 1968, S. 390-420
Hitler, Adolf: Rede am Heldengedenktag vom 10.3.1940, zitiert nach Kammer, Hilde/Elisabet Bartsch 1998: Nationalsozialismus, Hamburg
Hobbes, Thomas 1996: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/Main
Kropotkin, Peter 1985: Gesetz und Autorität, Berlin
Linse, Ulrich 1982: „Propaganda der Tat“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen anarchistischer Gewaltanwendung. In: Wolfgang J. Mommsen/Gerhard Hirschfeld (Hg.); Sozialprotest, Gewalt, Terror: Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, S. 237-269
Lukács, Georg 1997: Geschichte und Klassenbewusstsein, London
MEW 23: Marx, Karl 1867: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels. Werke, Bd. 23, Berlin (1975)
Schatz, Holger, Woeldike, Andrea 2001: Freiheit und Wahn deutscher Arbeit. Zur historischen Aktualität einer folgenreichen antisemitischen Projektion, Hamburg
Weber, Klaus 2016: Staatspolitik als Faschisierungsmotor. Zur Analyse von Faschisierungsprozessen. [URL] http://www.theoriekritik.ch/?p=2872
Franco Bellettini
Ich sehe du rauchst , du
bist im
Widerstand und deine
Analysen stapeln sich
wie übervolle
Aschenbecher
einer sich dauernd verändernden
Realität
hinterher
den die Theorie
ist die eigentliche Auf
gabe
jeder Praxis
Sandra Burger
ZITAT: [...] Ein wesentlicher Aspekt dieser Ableitung ist die Ausgangslage, dass mit dem historischen Ausdruck „Soziale Frage“ [...] versucht wurde, den Klassenwiderspruch begrifflich zu entschärfen, das kapitalistische Prinzip zu verschleiern [...]
Ja – Karl Marx kritisierte den Begriff ‘die soziale Frage’ als Zeitungsschreiberphrase:
http://klimawiki.org/klimawandel/index.php/Industrielle_Revolution#cite_note-Zeitungsschreiberphrase-14
[...] die aktuelle „Soziale Frage“ [...]
==> Der Begriff „Soziale Frage“ hat eine deskriptive Komponente und eine normative Komponente, was in Begriffsdefinitionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert deutlich zu erkennen ist; der terminus technicus Soziale Frage wurde definiert als (der Gesellschaft zu Bewusstsein gekommener) „Widerspruch zwischen Gesellschaftsideal und Wirklichkeit“ (Wirklichkeit: auch i. S. v. ökonomischer Entwicklung) bzw. als „das Ergebnis der Nichtübereinstimmung von sozialer Idee und vorgefundener Wirklichkeit“.[22] [23] [24]
http://wiki.bildungsserver.de/klimawandel/index.php/Industrielle_Revolution#cite_note-Engelhardt-22
Und noch eine Ergänzung zur NS-Diktatur:
Zitat
[...] Heinrich Himmler[5] [...]: “Man kann die soziale Frage nur dadurch lösen, daß man die anderen totschlägt, damit man ihre Äcker bekommt” (Sommer 1942, Rückfahrt von Kiew).
Quelle: Götz Aly
https://wiki.zum.de/index.php?title=Soziale_Frage_als_politische_Frage&oldid=185788#Soziale_Frage_im_20._Jahrhundert
Beste Grüße:.
san.draB@web.de
***