1. Arbeit am Material
„Viel zu zerreißend sind die Probleme, auf die wir Antwort suchen. Alles erhebt sich aus Zweifeln.“
(Haug 2016, 806)
Wolfgang Fritz Haug hat mit Der hilflose Antifaschismus im Jahr 1967 zum ersten Mal mit Denkmitteln der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse versucht, die sogenannte Vergangenheitsbewältigung deutscher Professoren, die zum Teil praktisch, zum Teil als ideologische Zuträger in den Nationalsozialismus verstrickt waren, analytisch aufzuschlüsseln. Die Grundlage seiner Materialanalyse waren mehr als 40 Vorlesungstexte aus den 1960er Jahren; Vorlesungen, gehalten, um beizutragen „zur Aufklärung der Ursachen“ und um dafür zu sorgen, „dass so etwas nie wieder geschehe“ (Haug 1987, 31). [1] Seither hat er zu Faschismus/Antifaschismus, zu Rassismus/Antirassismus und zu vielen angrenzenden Themen Material gesammelt, bedacht und bewertet: „Entscheidend ist das Sich-Einlassen auf die untersuchten Diskurse, ihre Dekonstruktion … und die Umorganisierung der herausgelösten Diskurselemente, kurz: die Materialanalyse“ (ebd., 12). Ausgehend von seiner Gramsci-Lektüre untersucht Haug in der von Material (aus Psychiatrie, Psychologie, Alltagsdokumenten, Ratgeberliteratur etc.) überquellenden Studie zur Faschisierung des bürgerlichen Subjekts (1986) den politischen Erfolg der deutschen faschistischen Bewegung und Partei. Dieser kann durch die Gewaltpolitiken alleine nicht erklärt werden. Die Gewalt der Faschisten vor und nach der Machtübergabe durch den bürgerlichen Block stellt „lediglich den Rahmen dar, innerhalb dessen die Faschisierung der Subjekte eine ‚tagtäglich von jedem Individuum in vielen Formen, mit vielen Techniken, unterstützt von Ratgebern und Mitteln aller Art ausgeübte Praxis ist‘“ (Haug zit.n. Weber 1999, 144). Haugs begriffliches Instrumentarium und seine Art, das Material zu ordnen, um die Logik einer Sache verstehen zu können, sollen – zusammen mit Passagen aus seinem jüngsten Werkstattjournal (2016) – genutzt werden, um die drängenden aktuellen Fragen zur politischen Einordnung und zur Gefahr von Pegida und AfD richtig zu stellen und Antworten zumindest ansatzweise geben zu können: Ist die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg der Faschisierung? Wie reagiert die „bürgerliche Mitte“, wie die Linke auf die neue völkisch-nationalistische Bewegung? Welche konzeptiven Ideologen arbeiten auf welche Art und Weise an einer solchen Faschisierung mit?
2. Faschismus. Faschisierung
„Der klassische Faschismus ist nicht wiederholbar.“
(Ibarra 1999, 163)
Um die Frage nach einer etwaigen Faschisierung beantworten zu können, müssen die Begriffe klar werden: Was ist mit Faschismus und was mit Faschisierung gemeint? Die Auswahl der Begriffe birgt mehr in sich als definitorischen Zweck. Begriffe und ihre Bedeutungen können zu eingreifendem Handeln befähigen, sie können „Träger von Hoffnung wie von Verzweiflung“ sein. Träger von Hoffnung werden Begriffe dann, wenn die Subjekte mit ihnen die Verhältnisse als veränderbare begreifen und denken können: als historisch gewordene und damit auch durch individuelle, kollektive und institutionell eingebundene politische Kämpfe zu überwindende Verhältnisse. In Zeiten von durch Exil bedingter Ohnmacht – was sein Eingreifen in politische Verhältnisse seiner Heimat betrifft – schreibt Bertolt Brecht der Verwendung richtiger Begriffe eine entscheidende Bedeutung zu: „Die Begriffe, die man sich von was macht, sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann“ (Brecht 1967, 1461).
Wenn Faschismus ein Epochenbegriff ist, wenn er eine historische Phase in verschiedenen Ländern Europas bis 1945 bezeichnet, so kann es bei der Verwendung des Faschismusbegriffs nicht darum gehen, ihn als moralisch aufgeladene Metapher gegen politische Gegner zu verwenden, sondern als Folie, auf der Vergleiche zu ziehen sein könnten. Obwohl es eine Vielzahl von – standpunktabhängigen – Faschismusdefinitionen gibt, kann „inmitten dieses Durcheinanders“ (Ibarra 1999, 149) in Bezug auf Form, Inhalt und Funktion benannt werden: Er ist eine „Art moderner, auf Massen gestützter reaktionärer Cäsarismus, bei dem der Staat große Segmente der Zivilgesellschaft zu Teilen seiner eigenen Organe macht. Zugleich assimiliert er einen Teil der Forderungen der subalternen Klassen und stellt damit eine Variante der ‚passiven Revolution‘ dar, die die Produktivkräfte … zu modernisieren versucht“ (ebd., 161). Diese strukturelle Darstellung – auf Gramsci basierend – sagt auch, dass dem „Faschismus als Regime notwendigerweise der Faschismus als Bewegung vorausgehen“ (ebd.) muss, damit über diese Form der Bewegung für die staatlichen Regierungen eine Massenhegemonie erzielt werden kann. In den Worten des Projekts Ideologie-Theorie (PIT 2007): Neben der terroristischen und gewaltförmigen Seite des Faschismus (die alleine nie zum politischen Erfolg führen kann) geht es um die „selbsttätige Einordnung der Individuen in die gesellschaftliche Ordnung“ (PIT 2007, 25), ideologische Subjektion oder auch freiwillige Unterwerfung genannt. Ideologie wird dabei nicht als Glaubensgebäude gedacht, sondern als diejenigen „Praxen und Rituale, welche, in je spezifischer Anordnung, die ideologische Unterstellung als Tätigkeit organisieren“ (ebd.). Ideologische Unterstellung der Subjekte betrifft deren gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und damit den Bereich, den Haug „Kompetenz/Inkompetenz-Struktur“ nennt.
Es geht also um die Form, in welcher die neuen völkisch-nationalistischen Gruppen Subjekte und Gesellschaft zusammen- bzw. auseinanderdenken (ohne die Produktionsverhältnisse sowie den Staat zu vergessen). Die Nazis waren in der Lage, durch die ideologische Konstitution eines Gegenvolks die Handlungslogiken sowie die Kompetenzen in „eine Vertikale der Herrschaft“ zu drehen: Die Unterstellung derjenigen, die nicht Gegenvolk oder gar Volksverräter sind (Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle etc.), unter Führer, Partei und Staat war gleichzeitig mit subjektiven Kompetenzzuwächsen verbunden, welche innerhalb der Inkompetenz-Struktur verblieben. Die „strukturelle Passivierung“ (Haug 1993, 132) in Bezug auf gemeinschaftliches Befreiungshandeln bei gleichzeitiger Aktivierung innerhalb der (realen und symbolischen) Herrschaftsordnung ist die entscheidende Politikform der Nazis gewesen, die in den jeweiligen ideologischen Staatsapparaten unterschiedlich etabliert wurde.
Was die Inhalte faschistischer Bewegungs- und Staatspolitik betrifft, so fasst Ibarra diesen „generisch“ und ordnet dem Faschismus verschiedene Merkmale bzw. „Konstanten“ zu. Dazu zählen u.a. der Führerkult, der Antikommunismus, der Antiliberalismus, der Kult der Tat und derjenige der Gewalt usw.
Zur Analyse der Alternative für Deutschland (AfD) bezieht sich Andreas Kemper in seiner umfangreichen Studie zur AfD und insbesondere ihren thüringischen Landessprecher Björn Höcke ebenfalls auf eine generische Faschismusdefinition von Roger Griffin, die da lautet: „Faschismus ist eine politische Ideologie, deren mythischer Kern in seinen mannigfachen Permutationen (Vertauschungen, Umstellungen –kw-) aus einer palingenetischen Form populistischen Ultranationalismus besteht“ (zit. n. Kemper 2016, 12). Dabei denkt Griffin Faschismus als Ideologie, den er von „konkurrierenden Ideologien“ wie Kommunismus, Liberalismus etc. abgrenzt. Diese Ideologie gehe von einer immer dekadenter werdenden Gesellschaft aus, die nur durch eine radikale Erneuerung der organisch gedachten Nation (mit der Vision einer Neugeburt / Wiedergeburt = Palingenese) gerettet werden könne. Kempers Vorgehensweise besteht nun darin, dass er die jeweiligen Merkmale der Griffinschen Definition mit Zitaten aus Reden und Schriften Höckes „abgleicht“ und zu dem Ergebnis kommt, dieser sei ein faschistischer Ideologe. Nachvollziehbar an Kempers Methode, dass er die inhaltliche Seite faschistischer Politik (und damit den Bezug zu deutscher Geschichte) ins Spiel bringen will.
Problematisch an Kempers Entlarvungsmethode ist, dass er die sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge ebenso ausblendet wie die realen Rituale und Praxen, welche einerseits von Pegida (und verwandten Bewegungen) sowie der AfD ausgeübt und für eine neue Gesellschaft vorgeschlagen werden. Ideologiekritik verkommt hierbei zu reiner Wort- und Bedeutungsabgleichung, die aber weder etwas aussagt über die Vergangenheit noch über die aktuelle Bedrohungslage. Wenn Haug schreibt: „Die Soziogenese von Faschismus muss gedacht werden, sonst wird man blind in der Gegenwart und selbstgerecht gegenüber der Vergangenheit“ (2016, 485), so verfehlt Kemper dieses Ziel. Ein Beispiel: Kemper entdeckt in Höckes Reden die immer wieder verwendete Formel vom „Mehltau der politischen Korrektheit“ (ebd., 17). Dann erklärt er, dass Mehltau eine biologistische Metapher sei (parasitärer Pilzbefall von Pflanzen), parallelisiert diese mit dem Begriff „Krebsgeschwür“, von dem die Nationalsozialisten sprachen (ebd., 92) und kommt zu dem Schluss, Höcke sei ein Faschist. Bedeutender als die Verwendung einer biologischen Metapher ist aber, in welchem Zusammenhang der Mehltau-Begriff Verwendung findet und wie er für die ZuhörerInnen und LeserInnen von Höckes Beiträgen zu deren subjektiver Handlungsfähigkeit beiträgt. So übersieht Kemper völlig, dass nicht die Mehltau-Metapher die „Stärke“ von Höckes Argumentation ist, sondern seine Kritik an der in Deutschland vorherrschenden politischen Korrektheit, [2] welche die deutschen Subjekte als totalitär empfänden. Dazu Haug: „Was greift die Rechte unter dem Namen Political Correctness an? Zunächst ein bestimmtes Politikmuster, das seit den 1980er Jahren zusammen mit den Identitätspolitiken in der Linken immer mehr an Boden gewonnen hat: Es lässt sich beschreiben als ein Rückzug aus der Politik in die Moral, ja, aus der praktizierten Moral in moralische Sprechweisen“ (1999, 87). Die denunziatorische Kritik an von PolitikerInnen vorgeschlagenen oder in Gesetze gegossenen Denk-, Sprech- und Handlungsweisen (wie z.B. Regeln über nichtausgrenzenden Sprachgebrauch an Hochschulen, Vorschläge zur Einführung fleischloser Tage in Betriebskantinen, Anerkennung der Adoption von Kindern nicht nur durch heterosexuelle Eltern etc.) nimmt den Platz analytischer Kritikbegriffe ein, welche das Kritisierte in seinen jeweiligen Zusammenhängen (und damit polit-ökonomisch und antikapitalistisch) be- und angreifen könnten.
3. Vergleiche
„Man kann alles mit allem vergleichen, sicher.“
(Jelinek 2016, 21)
Auffallend ist, dass kein Medium (mit Ausnahme von Konkret) die derzeitige Situation mit dem Aufkommen des deutschen (oder des europäischen) Faschismus bzw. mit der Bewegungs- und Parteiphase der NSDAP in Bezug setzen will, um damit das zu leisten, was der „Franziskus der deutschen Politik“ (FAZ 22.6.2015), Joachim Gauck, tagaus und tagein fordert: Wir sollen aus der Geschichte lernen. Bei Gauck heißt das: vergessen was war, weil die Deutschen inzwischen die Musterschüler in „Aufarbeitung“ der Vergangenheit seien. Um Gewinn aus einem Vergleich zwischen dem Aufkommen völkisch-nationalistischer Bewegungen und Parteien heute und dem Entstehen faschistischer Bewegungen in den 1920er Jahren zu schlagen, wäre die jeweilige ökonomische Situation, die soziale Lage der Subjekte, die Rolle des Staates und der bürgerlichen Parteien, der Medien etc. in den Blick zu nehmen, um Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede herauszuarbeiten.
In der Neuen Zürcher Zeitung plädiert Ulrich M. Schmid, Russlandspezialist und Suhrkampautor dafür, jeglichen Bezug zum Faschismus zu unterlassen. Auch „neofaschistische Gruppierungen“ könne man nur dann als solche bezeichnen, wenn „sie sich selbst auf das historische Vorbild ihres nationalen Faschismus beziehen“ würden (NZZ 18.4.2016). [3] Siegmar Gabriel, SPD-Chef, wagte im Juni 2016 den Vergleich zwischen AfD-Funktionären und den Nazis: „Alles, was die erzählen, habe ich schon gehört – im Zweifel von meinem eigenen Vater, der bis zum letzten Atemzug ein Nazi war“ (ND 13.6.2016). Anstatt den produktiven Gedanken Gabriels aufzunehmen und Inhalte, Form und Funktion der AfD-Politik in Bezug zur Faschisierung Deutschlands in den 1920er Jahren zu setzen, kontert das Neue Deutschland mit einem Gabriel-Bashing, das weder die AfD-Positionen kennt noch etwas über die Entstehungsphase von SA, NSDAP und anderen NS-Organisationen wissen will: „Gauland und Konsorten mit den Nationalsozialisten zu vergleichen, … ist falsch. Jedem, der zwischen 1933 und 1945 nicht blond und blauäugig war, drohte der Weg ins Konzentrationslager“ (ebd.). Um Pegida, AfD und andere aufkommende Bewegungen in ihrer Bewegungs- und Parteiförmigkeit zu verstehen, sind der deutsche Faschismus und die NS-Politik gerade nicht von ihrem Ergebnis her zu denken, sondern in ihrer Soziogenese. Auch die vom ND mit falschen Inhalten formulierte „Einmaligkeit“ einer faschistischen Vernichtungspolitik in der Weltgeschichte hat einen Anfang, den es zu studieren gibt.
Hilfreicher als der Versuch alleine, NS-Ideologeme und –praxen mit denjenigen der aktuellen völkisch-nationalistischen Gruppen zu vergleichen (um Identitäten festzustellen) wäre es, den Faschisierungs-Begriff zu nutzen, um das Feld zwischen „einem Gerade-Noch demokratischer Regelung und dem Noch-Nicht faschistischer Politik“ (Weber 1999, 146) auszuloten. Die Verwendung des Faschisierungs-Begriffs „ist denkbar im Sinne einer sensiblen Suchbewegung: einerseits um politische Projekte wahrzunehmen, die gewaltförmige und repressive Lösungen gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche propagieren und durchsetzen. Andererseits um die Aufmerksamkeit auf staatliche und institutionelle Dispositive zu lenken, welche zur Unterwerfung oder Unterstellung der Subjekte im Rahmen dieser gewaltförmigen Organisierung der Gesellschaft beitragen“ (ebd.). Damit wäre es möglich, aktuelle Gefahren der scheinbaren gesellschaftliche „Normalität“ in Hinblick auf eine Drehung ins Faschistische zu erkennen. Sowohl die Formen faschistischer Politik in den 1920er und 1930er Jahren als auch deren Inhalte wären also zu studieren, um aktuelle Gefahren zu erkennen. Als weitere analytische Begriffe könnten dabei (neben dem Verhältnis von Kompetenz/Inkompetenz und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit) Überlegungen zum „entfremdeten Protest von unten“, zu „sekundären Klassenkämpfen“ als Folgen neoliberaler Politiken, zu „subjektiven Formen der Widerspruchsverarbeitung“ hilfreich sein, um die ideologischen Angebote der neuen rassistischen und völkischen Bewegungen zu verstehen und ihnen zu widerstehen.
4. Material: Ordnung & Analyse
Die Frage stellt sich, wie der Staat (plus die ideologischen Staatsapparate) und die herrschenden Kräfte sich zu den neofaschistischen Bewegungen verhalten. Von der Mainstream-Presse weitgehend verleugnet oder ignoriert werden die mehr als tausend Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2015; ab und zu schafft es eine Meldung bei spektakulären Einzelschicksalen auf die Titelseite. [4] Die Zahl von 345 im Jahr 2015 von Neonazis und rassistischen Tätern verletzten Flüchtlingen (in Deutschland wohnende Nichtdeutsche nicht mitgerechnet) hat die Antirassistische Initiative Berlin errechnet (ND 12.5.2016), elfmal soviel wie im Jahr 2013. Die Polizei ermittelt bei neofaschistischen Straftaten entweder gar nicht oder in bewährter Manier – je nach Bundesland. In Sachsen und Bayern werden – im Gegensatz zu antifaschistisch emgagierten Personen – Neonazis, Pegidaanhänger und Mitglieder der identitären Bewegung weitgehend unbehelligt gelassen; das grün-rote Baden-Württemberg unter seinem Ministerpräsidenten Kretschmann hat zum AfD-Parteitag in Stuttgart Anfang Mai tausende von Polizisten aufmarschieren lassen, um die Gegendemonstranten verfassungswidrig einzukesseln. Wie immer konnten die Eingekesselten über mehrere Stunden ihre Notdurft nicht verrichten, Zuckerkranke konnten auf wichtige Medikamente bzw. auf nötige Ernährung nicht zugreifen, weil ihnen alle Gegenstände abgenommen wurden.
Es gäbe eine Unmenge an Daten, Geschichten und Erzählungen zu berichten, mit denen unsere Empörung unendlich wachsen würde. Notwendig ist aber, das vorhandene Material zu sichten, zu ordnen und analytisch in Hinblick auf die Faschisierungs-Frage auszuwerten. Doch das Material selbst ist voller Widersprüche. Auch das Ordnen gibt kein kohärentes Bild: Das mag daran liegen, dass die Sache selbst (der Faschisierungsprozess) keineswegs vollständig und zusammenhängend ist. Skizzenhaftes, Gedankensplitter und Notizen bestimmen die Analyse also mehr als vollständige Klarheit. Doch klar ist, dass wir für das Ordnen des Materials Faschismustheorie(n) und Faschisierungstendenzen und -logiken aus unserem „historischen Gedächtnis“ vorab theoretisch klären müssen, um das getrennt Auftretende in (s)einem Zusammenhang erkennen zu können.
Bewegung / Partei / Führung
Mitte März 2016: Nach großen Erfolgen bei Landtagswahlen (Rheinland-Pfalz 12,6 %, Sachsen-Anhalt 24,2 %, Baden-Württemberg 15,1 %) ist die AfD dabei, die Frage der Parteiführung zu klären und die inhaltliche Ausrichtung festzulegen. Inhaltliche Widersprüche und personelle Kämpfe im völkisch-nationalistischen Lager sind die Folge. Die FAZ glaubt zu wissen, dass die AfD hier nicht professionell vorgehe, sondern „die Funktionäre einfach Fehler“ (FAZ 31.5.2016) machten.
Der Landtagsabgeordnete der AfD in Thüringen, Hans-Thomas Tillschneider, spricht als erster Abgeordneter auf einer Pegida-Kundgebung: „Es sei die Pflicht eines jeden Deutschen, sich gegen die Islamisierung zu wehren und die Islamverbände in die Schranken zu weisen, anderenfalls werde Deutschland über kurz oder lang untergehen“. Kurz darauf schlägt Tillschneider den inzwischen vorbestraften Pegida-Gründer Lutz Bachmann (Kriegsflüchtlinge hat dieser als „Viehzeug“, „Dreckspack“ und „Gelumpe“ bezeichnet) für das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse vor (FAZ 11.5.2016).
Die AfD-Bundesvorsitzende Petry kommt am 20. Mai 2016 auf Einladung des Zentralrats der Muslime nach Berlin. Vorab stellten mehrere AfD-Funktionäre Bedingungen für ein solches Gespräch. Petry und ihre zwei Begleiter brechen das Gespräch ab, weil die Fragen der Muslime „diskriminierend“ gewesen seien und sie zu einer Debatte nicht bereit waren. Aber sie hätten Mayzek (dem Vorsitzenden des Zentralrats) eine „Lektion erteilt“ (FAZ 24.5.2016).
Volk / Gegenvolk
Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel (SPD): Im Gespräch mit der Bildzeitung fordert er, „‚alle Möglichkeiten des Rechts‘ auszuloten, ‚um kriminelle Asylbewerber in ihre Heimat zurückzuschicken‘. Sollten sich afrikanische Staaten weigern, diese aufzunehmen, müssten sie unter Druck gesetzt werden: ‚Entweder ihr stellt euch der Verantwortung, oder wir kürzen euch die Entwicklungshilfe‘“ (Konkret 4/2016, 13).
„Sonst ist die Folge, dass Kinder in einem Umfeld aufwachsen, wo kein Deutsch mehr gesprochen wird. Wie soll da Integration gelingen“ (Sahra Wagenknecht, 11.3.2016 Berliner Kurier).
Auf dem Stuttgarter Parteitag der AfD ruft der Bundesvorsitzende der AfD, Jörg Meuthen: „Wir wollen weg von diesem links-grün verseuchten Achtundsechziger-Deutschland“ (SZ 2.5.2016).
Anfang Juni 2016 rücken die Bücher des baden-württembergischen AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Gedeon schreibt darin „Wie der Islam der äußere Feind, so waren die Ghetto-Juden der innere Feind des christlichen Abendlandes … Der vormals innere geistige Feind des Abendlandes stellt jetzt im Westen einen dominierenden Machtfaktor dar, und der vormals äußere Feind des Abendlandes hat via Massenzuwanderung die trennenden Grenzen überrannt“ (FAZ 4.6.2016). Der AfD-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Meuthen, will Gedeon wegen antisemitischer Äußerungen aus der Fraktion ausschließen; die Bundesvorsitzende Petry stützt Gedeon mit der Forderung nach „geordneten und seriösen Formen der Aufklärung“ (FAZ 20.6.2016). Die Entscheidung wird vertagt, ein Gutachten soll klären, ob das von Gedeon Geäußerte Antisemitismus sei.
Alexander Gauland, stellvertretender Bundesvorsitzender der AfD, äußert sich zum Thema Fußball und einem Nationalspieler, Jerôme Boateng: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“ (FAZ 1.6.2016). Meuthen, ebenfalls Bundesvorsitzender, springt Gauland am nächsten Tag bei und schreibt, dieser sei „komplett falsch verstanden“ worden: „Die AfD fiebert mit der deutschen Nationalmannschaft mit und ist stolz auf alle Spieler, die unser Land repräsentieren“ (FAZ 30.5.2016.). Doch Gauland wurde nicht falsch verstanden. Er legt am nächsten Tag per E-Mail an die „lieben Parteifreunde“ nach: Es sei ihm um den „ungebremsten Zustrom raum- und kulturfremder Menschen“ gegangen (FAZ 1.6.2016).
Leitartikel der FAZ mit dem Titel Erdogans Blutbild: „Am Anfang der Integration muss ein eindeutiges Bekenntnis zu diesem Land stehen. Wer das nicht ablegen will, kann nicht Deutscher werden, so gut er auch die Sprache sprechen und Grundgesetzartikel herunterbeten mag“ (FAZ 7.6.2016). Statt eines Bluttest fürs Deutschsein ein Gesinnungstest, der die Anhörung bei den Berufsverbotsbefragungen weit übertrifft: Das Subjekt soll im Innersten ausgeleuchtet werden.
Resonanzverhältnisse: Parteien / Medien
FAZ 31.3.2016, nach den Landtagswahlen: „Doch die Ergebnisse sollten und müssten überall die Handschrift nicht nur jener Wähler tragen, die sich darum sorgen, dass Fremde hier eine neue Heimat finden. Zu bedenken sind auch die Sorgen jener, die der Gedanke quält, dass ihnen die alte Heimat fremd werden könnte.“
FAZ 29.4.2016, Leitartikel: „Vieles, was die AfD zusammengetragen hat, würde ernsthaft diskutiert, käme es von einer Partei, die ihre Demokratie-Festigkeit schon unter Beweis gestellt hat. Die AfD muss die Zweifel an ihren lauteren Absichten erst noch ausräumen. Das schließt aber nicht aus, ihre Ideen vorbehaltloser daraufhin zu überprüfen, ob sie das Land voranbringen können.“ Heike Göbel, Wirtschaftsredakteurin der FAZ, versteht unter „Land voranbringen“, den Reichtum derer zu mehren, die schon genug haben, und diejenigen, die unter den Produktionsbedingungen leiden, so wenig wie möglich zu geben, um sie zu aktivieren. Man/frau lese genau: Die AfD hat lautere Absichten – die Zweifler und die Zweifel an diesen Absichten sind es, die zu bekämpfen wären.
CDU-Generalsekretär Tauber, 3.5.2016: „Aus unserer Sicht ist die AfD eine Anti-Deutschland-Partei, weil sie die Werte mit Füßen tritt, die unser Land groß, stark und erfolgreich gemacht haben“ (FAZ).
FAZ 3.5.2016: „Die AfD setzt auf Abgrenzung und Angst. Doch reicht es nicht, das Mantra entgegenzusetzen, vor dem Fremden müsse man keine Angst haben. Die gibt es aber nun einmal, und sie ist mitunter auch nicht unbegründet“.
Süddeutsche Zeitung 7.5.2016: „In München will der Wirt des Hofbräukellers die AfD-Chefin Frauke Petry nun doch nicht in seinen Saal lassen. Das mag vielen sympathisch sein, ist aber kein allgemeingültiges Rezept, immerhin ist die AfD eine Partei im demokratischen Spektrum“.
FAZ 24.5.2016: „Diese Menschen treibt nicht eine Freude am Scheitern um, sondern die Angst davor: dass die märchenhaften Pläne zur Integration nicht aufgehen.“
Staatspolitik als Faschisierungsmotor
Afghanistan als sicheres Herkunftsland. Der deutsche Innenminister, de Maizière, erklärte, es „gebe am Hindukusch genügend ‚sichere Gebiete‘, in denen es sich gut leben lasse. Vorangegangen war ein Besuch de Maizières in Afghanistan, in dessen Verlauf sich die Kabuler Regierung nicht nur zur ‚Eindämmung des Migrationsdrucks‘ bereit erklärte, sondern auch zur ‚Rücknahme ihrer Staatsangehörigen‘“ (Konkret 4/2016, 14).
„Haltet den Dieb“ schreit er, das gestohlene Material verbergend. Innenminister de Maizière, arbeitend an der Faschisierung des deutschen Staats, stellt eine „Teilverrohung unserer Gesellschaft“ fest. Schuld daran seien nicht etwa die Neonazis und diejenigen, die Busse und Unterkünfte von Flüchtlingen anzündeten, sondern die „Flüchtlingskrise“ selbst. Diese hat „das Land polarisiert“ und die Ausübung von Gewalt erleichtert (Welt 28.5.2016). Was er nicht sagt: 23 000 Straftaten (Dunkelziffer nicht mitgerechnet) sind im Jahr 2015 von „rechten Gewalttätern“ verübt worden. Der Vorschlag des Innenministers: mehr Härte in Form von „Vermummungsverboten im Internet“.
Mitte Juni schlägt der deutsche Innenminister vor, eine „Wachpolizei“ einzurichten: Angedacht seien Kräfte, „die über eine Kurzausbildung verfügen und begrenzte Befugnisse haben, aber Uniform und Waffe tragen“ (FAZ 17.6.2016). Die FAZ sekundiert, indem sie einen Zusammenhang herstellt zwischen mangelndem Respekt vor dem Staat und dem besorgten Bürger, der ansonsten „sich denen zuwendet, die einen anderen Staat wollen“. Damit es dazu nicht kommt, „ein erster Schritt: mehr Polizei“ (ebd.).
Einen Tag später stellt der Innenminister fest: „Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden.“ Dass das Wissen um Abschiebung eventuell krank macht, ist für de Maizière unvorstellbar. Er unterstellt den Ärzten eine falsche Diagnose aus Humanitätsgründen (SZ 18.6.2016). Anstatt dem Innenminister deutlich zu machen, dass seine menschenverachtende und völkisch-nationalistische Haltung bekämpft werden muss, kritisiert Jan Korte von der LINKEN gerade mal, es sei „schlechter politischer Stil, wenn der Innenminister mit frei erfundenen Statistiken arbeitet“. Das sei niveaulos (ND 18.6.2016).
Der Chefideologe der neuen „notwendigen Härte“ gegen Flüchtlinge, de Maizière, wirft den GRÜNEN „pure, sinnlose Ideologie“ vor, weil diese einer Abschiebung von Flüchtlingen aus den nordafrikanischen Staaten nicht mehr ohne weiteres zustimmen wollen (FAZ 18.6.2016).
„Normalisierung“
Stephan Löwenstein, FAZ-Korrespondent aus Wien, schreibt am 17. Juni über die Identitäre Bewegung [5] in Österreich. Dabei bezeichnet er von dieser Gruppe begangene Straftaten, die sie – mit Unterstützung der FPÖ – verübt, als „provokante und öffentlichkeitswirksame Aktionsformen“, von denen sie „Gebrauch mache“. Löwenstein kann es kaum ertragen, dass die von ihm insgeheim unterstützten Bewegungen und Parteien für ein völkisches und nationalistisches Österreich in ein braunes Licht gerückt werden könnten. So weist er umgehend darauf hin, dass die Aktionsformen der Identitären eigentlich „einst von Linken und Grünen salonfähig gemacht wurden“. Und wenn die faschistische völkische Gruppe ein Theaterstück von Elfriede Jelinek am Burgtheater in Wien sprengt [6] (Löwenstein verharmlost diesen Anschlag als „Unterbrechung“) und auf der Bühne – dort stehen gerade Flüchtlingskinder und spielen im Stück mit – Kunstblut verspritzt wird, Schauspieler und ZuschauerInnen geschlagen und Flugblätter mit dem Motto „Multikulti tötet“ verteilt werden, dann liegt für Löwenstein der Skandal nicht in der vorsätzlichen Körperverletzung oder darin, dass die Kinder eventuell retraumatisiert werden könnten, sondern darin, dass dies ja ein „erkennbares Zitat des Aktionskünstlers Hermann Nitsch [7]“ sei.
Eine Woche später enthüllt dieselbe Gruppe auf dem Dach des Burgtheaters ein Transparent mit der Aufschrift „Heuchler“ und wirft Flugblätter ins Publikum. Der FPÖ-Vorsitzende Strache begrüßt auf Facebook die Aktion am Wiener Burgtheater mit den Worten, er unterstütze die „friedliche Aktion“ und „teilt“ mit seinen friends ein Video der Aktivisten, das die Theateraktion zeigt. FAZ-Löwenstein bagatellisiert diese Unterstützungsaktion des FPÖ-Chefs für eine kriminelle Truppe: „Die FPÖ weist einige Berührungspunkte zu dieser Gruppierung auf“. Bereits Mitte Mai 2016 spricht sich Löwenstein dafür aus, „zu einem ‚normalen‘ politischen Umgang mit der FPÖ zu gelangen“ (FAZ 11.5.2016); zwei Wochen davor titelte die FAZ im Hauptkommentar auf Seite 1 zur FPÖ: „Rechts, aber nicht extrem“ (26.4.2016). Der Kommentar – Löwenstein als Autor – unternimmt es, die FPÖ (zusammen mit dem französischen Front National, dem belgischen Vlaams Belang, der niederländischen PVV und der italienischen Lega Nord) als „national“, nicht aber als „rechtsextrem“ einzuordnen. Selbst rechtspopulistisch – „was die FPÖ betrifft“ – sei „nicht ganz richtig“. Jeder Vergleich mit „Faschismus“ sei zu unterlassen: „Man sollte also die Nazi-Keule wegstecken und die konkreten politischen Absichten und Taten … unter die Lupe nehmen“.
Die Art und Weise, wie die FAZ (österreichische Medien bis hin zum ORF ebenfalls) die neofaschistische FPÖ „einhegen“ wollen, hat der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß benannt: Die einen hätten resigniert und defätistisch akzeptiert, dass die FPÖ die stärkste Partei werden wird, „die anderen reden sich die Sache schön, indem sie behaupten, die FPÖ wäre in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ angelangt und die Zeit der ‚Ausgrenzung‘ – ein Wort, das vom Jargon der FPÖ-Funktionäre ins alltägliche politische Vokabular übergegangen ist – habe endlich doch zu Ende gehen müssen“ (Gauß 2016). Wir sehen, dass die FAZ mit der FPÖ vorexerziert, was sie bei der AfD ebenfalls versucht: die Anerkennung völkischer, rassistischer und nationalistischer Ideologeme als Normalisierung der Demokratie in allen europäischen Ländern.
5. Faschisierungsprozesse
Soweit eine kleine Auswahl des Materials. Deutlich wird, dass von Produktions- und damit verbundenen Lebensweisen nicht (bzw. lediglich in Form der guten alten Verhältnisse) gesprochen wird. Der Faschisierungsprozess hat begonnen: Die Kapitalfraktionen haben sich kaum zu Wort gemeldet (Industriepräsident Ulrich Grillo kann „keinen Gefallen an der AfD finden, die gegen den Euro, gegen Freihandel und Globalisierung ist“ (FAZ 20.4.2016), ihre FAZ-Lautsprecherin Heike Göbel jedoch stellt fest: „In ihrem Programm bekennt sich die Partei zur Sozialen Marktwirtschaft und entwickelt Ideen, diese zu stärken. Manches überzeugt eher in der Richtung der Kritik als in der Lösung. Die AfD moniert die stark planwirtschaftliche Energiewende“ (FAZ 29.4.2016), ist also noch Hoffnungsträger für die neoliberale Wende und die Zerstörung des Sozialstaats. Was zu beobachten sein wird, sind die Faschisierungsprozesse in den „Regionalmächten des Ideologischen“ (W.F. Haug): der Angriff von Pegida und AfD auf neue Lebensformen, auf ideologische Staatsapparate wie Schule, Hochschule und Justiz. Es gibt erste Berichte über Elite- und Begabungsideologeme, über behindertenfeindliche Programmpunkte: „Körper- und geistig Behinderte sollten besser nicht gemeinsam mit vollständig gesunden“ Kindern lernen (Wahlprogramm Sachsen 2014) und über eine enge Zusammenarbeit mit der Identitären Bewegung sowie der sogenannten „Neuen Rechten“ um den Chefideologen Götz Kubitschek.
Die bürgerlichen Medien sind bereit, den neuen völkisch-nationalistischen Bewegungen und Parteien Platz zur Darstellung ihrer Positionen einzuräumen (allen voran die FAZ mit Gauland-Interviews etc.). Zugleich umrahmen konzeptive Ideologen wie Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk („Überrollung, Flutung, Invasion durch die Flüchtlinge“, die aus Ländern mit „Kampffortpflanzungen“ kämen), Herfried Münkler (wir Deutschen seien Angehörige einer „postheroischen Gesellschaft“) die Politiken von Pegida und AfD; bürgerliche Journalisten wie Heribert Prantl reden einem gesunden Patriotismus das Wort („Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt“), ohne sich an Bundespräsident Heinemanns subversive Antwort auf die Frage „Lieben Sie Deutschland?“ zu erinnern: „Ich liebe meine Frau“.
Das „Attraktive“ an AfD und Pegida ist, dass sie zu Bewegung und Handlung sowohl gegen „die da oben“ als auch gegen „die von draußen“ ermutigen und damit den Einzelnen die Möglichkeit geben, ihre Unzufriedenheit mit Ohnmachtserfahrungen sowie Ausgrenzungen im sozialen und ökonomischen Bereich zu artikulieren. Voraussetzung dafür ist die Unterstellung unter die Logiken „deutscher Werte“, die zwar keine Definition finden, aber Flüchtlinge, Schwule, Moslems u.a. von vorneherein ausschließen. Die Klassenverhältnisse, deren Stabilität unantastbar erscheint (Hartz IV versus minimale Erbschaftssteuer und keine Vermögenssteuer für die Reichen; Mindestlohn auf niedrigstem Niveau versus Steigerung der Managerboni ins Unermessliche etc.), werden ins Feld der Religion und der „kulturellen Unterschiede“ verschoben. Arbeitsplätze scheinen bei Ignoranz der kapitalistischen Verhältnisse bedroht durch „Flüchtlinge“ bzw. einen „Strom“ von Flüchtlingen, nicht von profitbringenden Betriebsverlagerungen oder arbeitsplatzeinsparenden Digitalisierungsprojekten (Industrie 4.0). Gewalt als Mittel von Politik wird zwar offiziell verneint – de Maizières Reden jedoch können kaum verbergen, wie wenig bedeutend für ihn Menschenleben sind, weil Kriegs- und Hungerflüchtlinge für „Deutschland“ eine Belastung darstellen. Der einst geäusserte Satz in Bezug auf Faschisierungstendenzen scheint sich zu bewahrheiten: Die Gefahr ist nicht so sehr, dass Neofaschisten das Innenministerium übernehmen, sondern dass das Innenministerium den Staat übernimmt.
Brecht Bertolt (1967). Flüchtlingsgespräche. GW Bd. 14. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S.1380-1515.
Figueroa Ibarra Carlos (1999). Faschismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd.4. Hamburg: Argument. S.147-165.
Gauß Karl-Markus (2016). Der Verrat an einem weltoffenen Land. FAZ 7.5.2016.
Haug Frigga (1997). Erinnerung, in: W.F. Haug (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 3 (Abbau des Staates-Avantgarde). Hamburg: Argument. S.401-422.
Wolfgang F. Haug (1986). Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts. Die Ideologie der gesunden Normalität und die Ausrottungspolitiken im deutschen Faschismus. Materialanalysen. West-Berlin: Argument.
Haug Wolfgang F. (1987). Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt. Hamburg/Berlin: Argument.
Haug Wolfgang F. (1993). Elemente einer Theorie des Ideologischen. Hamburg Argument.
Haug Wolfgang F. (1999). Politisch richtig oder richtig politisch. Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus. Hamburg: Argument.
Haug Wolfgang F. (2016). Jahrhundertwende. Werkstatt-Journal 1990-2000. Hamburg: Argument.
Jelinek Elfriede (2016). Warum Wut? Gespräch mit EJ. In: Münchner Kammerspiele (Hg.). WUT, Programmheft. München. S.16-21.
Kemper Andreas (2016).“… Die neurotische Phase überwinden, in der wir uns seit siebzig Jahren befinden“. Zur Differenz von Konservatismus und Faschismus am Beispiel der „historischen Mission“ Björn Höckes (AfD). Jena: Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen.
PIT (=Projekt Ideologie-Theorie) (2007). Faschismus und Ideologie (neu hgg. von Klaus Weber). Hamburg: Argument.
Weber Klaus (1999). Faschisierung, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd.4 (Fabel – Gegenmacht) Hamburg: Argument. S.142-146.
[1] Das Buch wurde 1987 neu aufgelegt. Hinzugekommen ist ein aktuelles Vorwort sowie ein Kapitel zu „Deutungskämpfen um Anti/Faschismus in der Zeit der ‚Spätgeborenen‘“ in der Ära des Bundeskanzlers Helmut Kohl.
[2] Kemper verortet die Entstehung der Verwendung von political correctness in den „sogenannten ‚cultur wars‘ bzw. ‚campus wars‘ der Vereinigten Staaten Anfang der 1990er Jahre (Kemper 2016, 20). Haug dagegen zeigt, wie Ende der 1980er Jahre in den USA die an Universitäten vorgebrachten Reformvorschläge, als amerikanische Kultur mehr als die „Werke weißer Männer“ zu verstehen, von der politischen Rechten als „Übel der demokratischen Pluralisierung mit dem Schlagwort der ‚Political Correctness‘ namhaft“ wurde (Haug 1999, 85).
[3] Für Schmid taugt „Faschismus“ als analytische Kategorie nicht, weil die Faschisten selbst keine „konkrete Definition lieferten“. Das Argument ist absurd. Bei der Definition eines Mörders im Strafrecht wird niemand daran denken, die Selbstbeschreibung des Mörders für seine Tat als Definitionskriterium dafür zu nehmen. Wie Schmid die realen Praxen des deutschen Faschismus denkt, zeigt sich daran, wie er die Konzentrations- und Vernichtungslager verharmlosend bezeichnet – als „gezielte Aggression gegen bestimmte Gesellschaftsgruppen in Hitler-Deutschland“ (NZZ 18.4.2016).
[4] Ein totes Kind am Strand, ein fast verbrannter Flüchtling, der sich schon weit im Assimilationslabyrinth vorgearbeitet hat, werden gerne zur Erzeugung kurz währender Empörung – am besten mit einem zu Tränen rührenden Bild – ins Blatt genommen. Innenminister de Maizière nach dem Türkeiabkommen, das die syrischen Flüchtlinge aus Europa fernhalten soll: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig“. Ertrinkende, an den Grenzen von Polizisten mit scharfer Munition „zurückgeschossene“ Menschen. Vorsätzliche Inkaufnahme von Toten zur Beruhigung der Nationalisten und Rassisten im eigenen Land. Die Opfer in de Maizières Satz sind die deutschen BürgerInnen, die etwas „aushalten“ müssen.
[5] Die Identitären tragen europaweit als Abzeichen einen gelben Hakenkreis auf schwarzem Grund. Das Signet entspricht dem griechischen Buchstaben Lambda (L), das ein Zitat aus dem Film „300“ ist, in dem 300 Spartaner gegen „gefühlte 300 000 Perser“ (SZ) für ein freies Griechenland den Opfertod starben. Die deutsche IB gründete sich mit explizitem Bezug auf Thilo Sarrazins Schrift Deutschland schafft sich ab.
[6] „Die Schutzbefohlenen“ heißt Jelineks Stück, das die EU-Flüchtlingspolitik „vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte seit Aischylos kritisiert“ (SZ 16.4.2016).
[7] Nitsch hat in den 1960 und 1970er Jahren mit seinen Blutorgien-Aktionen sowohl Kirchenleute als auch Tierschützer gegen sich und seine Kunstform aufgebracht. Als Künstler, der die herrschende Ordnung (emotional und bildlich) affirmiert, kann er sicherlich nicht betrachtet werden. Deshalb wird er in Löwensteins Kategoriensystem auf der Gegenseite der Identitären verortet.
* Dieser Text ist ein gekürzter Vorabdruck eines Artikels, der im nächsten Argument-Heft 318 erscheinen wird und im Anschluss an den Beitrag von Klaus Dörre die Debatte über Rechtspopulismus / Refaschisierung auf theoriekritik.ch fortsetzt.
Bündnispolitik: Warum paktiert eine kommunistische Kleinstpartei aus der Schweiz mit faschistoiden Nationalist*innen aus der Türkei? ‹ BFS: Sozialismus neu denken – Kapitalismus überwinden!
[…] Es sollte eigentlich nicht schwer sein, zwischen »Rechten« und »Linken« unterscheiden zu können. Ziele und Wertvorstellungen beider politischer Lager sind nicht nur grundverschieden, sondern gegensätzlich. Trotzdem existieren Strategien, die als Querfront bezeichnet werden, Rechts und Links in eine Arbeitsbeziehung zu bringen oder gar zusammenzuführen. Mit demselben Begriff werden dabei zwei verschiedene Phänomene bezeichnet, die zwar häufig gleichzeitig auftreten, letztlich aber gegeneinander gerichtet sind. a) Teile der rechten Bewegung integrieren in besonderem Maße Begriffe der politischen Linken und versuchen zugunsten einer gemeinsamen Feindorientierung gegen »den Westen« mit der Linken Kontakte und Beziehungen einzugehen. b) Phasenweise versuchen Teile der linken Bewegung die Anhängerschaft der rechten Massenbewegung zu erreichen, zu beeinflussen und zur eigenen Bewegung herüber zu ziehen. Dabei werden Begriffe der Rechten wie »nationale Befreiung« usw. aufgenommen. Man stellt sich als eigentlichen Sachwalter der Nation dar. Vergl. http://antifa.vvn-bda.de/2016/01/10/zauberlehrlinge/ Bei der Querfront geht es also um die Suche nach einer gemeinsamen Form, in welcher die neuen völkisch-nationalistischen Gruppen Subjekte und Gesellschaft sich zusammen- bzw. auseinander denken. Vergl. Klaus Weber: Zur Analyse von Faschisierungsprozessen; http://www.theoriekritik.ch/?p=2872 […]
antira-Wochenschau: Feuriger Protest in Niger, tragischer Tod im Flugzeugfahrgestell, überfälliger BVGer-Entscheid gegen Dublinabschiebungen – antira.org
[…] Zur Analyse von Faschisierungsprozessenhttp://www.theoriekritik.ch/?p=2872 […]