Vor einigen Monaten sprachen Sie von der Notwendigkeit und dementsprechend von der Verpflichtung, «die griechische Sache in eine internationale zu verwandeln». Syriza schien Ausdruck einer neuen Linken zu sein, die sich auf eine Volksbewegung abstützt und so versucht, den Kampf gegen die Spekulation, die Korruption, die Steuerflucht der Reichen und die Verschuldung zu führen. Wo stehen wir heute? Wurde hier eine seltene politische Gelegenheit, ein besonderes Ereignis mit einer möglichen universalen Bedeutung, verpasst?
Ich möchte nicht allzu pessimistisch sein. Persönlich war ich allerdings skeptisch, bereits bevor Syriza und Alexis Tsipras an die Macht kamen. Ich führte lange Gespräche mit Vertretern von Syriza und fragte sie nach ihrer Beziehung zum Staat. Ich bin der Meinung, dass man die Situation nicht grundlegend transformieren kann ohne die Unterstützung einer grossen Volksbewegung. Der Staat allein kann dies nicht leisten. Meine Skepsis rührte daher, dass ich bei den Syriza-Leuten diese Vorstellung zu wenig wahrnahm. Natürlich kommen sie aus der Bewegung; aber sie sahen diese nun mehr oder weniger an ein Ende gekommen, der Staat sollte ihre Arbeit weiterführen.
Aber mit dem Referendum vom 5. Juli 2015 über den Reformentwurf der Troika waren ja die BürgerInnen wieder am Zug.
Vom Referendum war ich dann sehr angetan. Damit wurde eine neue Situation geschaffen: ein direkter Aufruf des Staats an die Bevölkerung, Stellung zu nehmen. Und die Bevölkerung sagte massiv Nein, entschied also positiv. Diese Zurückweisung der europäischen Vorschläge hätte der Anfang einer anhaltenden Mobilisierung der Bevölkerung zur Unterstützung der Regierung sein können. Die Regierung hätte der EU sagen können: «Seht, unsere Bevölkerung will eure Vorschläge nicht, wir müssen die Diskussion anders weiterführen.» Was geschah, war aber überhaupt nicht dies. In meinen Augen wurde eine historische Gelegenheit verpasst. Ich weiss nicht, ob das ganze Momentum verloren ist. Aber das Referendum war auf diese Weise verspielt. Die Regierung nutzte es höchstens als eines unter anderen Argumenten in den immer noch gleichen Verhandlungen. Es gab keine qualitative Veränderung. Im Grunde genommen hat Syriza seit dem Moment der Regierungsübernahme die Problemstellung des Gegners akzeptiert.
Was wäre in diesem Moment die Alternative gewesen?
Es hätte einer starken Bewegung bedurft, die eine andere Problemstellung hätte durchsetzen können. Wer nur die Staatsmacht benutzt, muss die Problemstellung der anderen akzeptieren. Jetzt tritt man in eine Entwicklung ein, die man aus anderen Ländern, gerade aus Frankreich, nur allzu gut kennt: Eine linke Partei macht linke Versprechen und, wenn sie an der Regierung ist, eine rechte Politik. Ich hoffte, dass Griechenland nicht in diese Falle treten würde und für die europäische Linke neue Möglichkeiten eröffnen könnte. Ich will damit nicht sagen, dass Tsipras ein Konservativer geworden ist. Aber er dachte, dass er allein durch eine andere Handhabe der Staatsmacht positive Resultate erzielen könnte. Er tat dies sogar gegen einen Teil seiner Partei, der sich querstellte, und ohne die Volksbewegung zu beteiligen.
Die Auseinandersetzungen um die Politik Griechenlands haben die Frage aufgeworfen, was für ein Europa wir eigentlich wollen. Welches Europa streben Sie an?
Im Gegensatz zu verschiedenen meiner Freunde bin ich für die europäische Idee. Ich denke nicht, dass nationale Abschottung etwas Interessantes und Positives hervorbringen kann. Es gibt in Frankreich nicht wenige radikale Linke, die aus der EU und aus dem Euro aussteigen wollen. Sie laufen Gefahr, sich mit nationalistischen Themen zu befassen, sehr nahe bei den Rechtsextremen. Am Ende sprechen sie ein wenig wie Marine Le Pen. Das ist eine Sackgasse.
Selbstverständlich ist heute die Europäische Union so etwas wie die Vermittlerin oder der Transmissionsriemen zwischen dem globalisierten Kapitalismus und den Ländern Europas. Den Bevölkerungen in Europa wird die Notwendigkeit des heutigen Kapitalismus einfach aufgezwungen. Wir sahen dies in Frankreich, als wir in einem Referendum 1992 über den Maastrichter Vertrag zur Schaffung der EU abstimmten. Die Menschen haben Nein gesagt, und es zählte nicht, nur ein Ja war richtig. Das ist kein Europa, in dem die Bevölkerung die Handlungsmacht innehat. Es ist ein formelles, bürokratisches Europa unter dem Gesetz der kapitalistischen Entwicklung.
Ich bin durchaus dafür, grössere, offenere Räume zu bilden. Dazu bräuchten wir politische Experimente in Europa, die einen anderen Weg aufzeigen. Genau deshalb erhoffte ich mir etwas von der Entwicklung in Griechenland. Auch von jener in Spanien mit Podemos, wo die politischen Konzepte allerdings sehr vage sind.
Erhoffen Sie sich konkrete Experimente im wirtschaftlichen Bereich?
Irgendwann muss man sich tatsächlich an die Wirtschaft machen. Es wird keine wesentliche Transformation der Situation geben, so lange man nicht die wirtschaftlichen Strukturen verändert. Sie unterwerfen uns einem äusseren Gesetz, das die EU-Bürokratie vollständig repräsentiert. Die Verschuldung, die Interessen der Banken sind dabei zentrale Punkte.
Das wäre immer noch eine blosse Negation der vorherrschenden Politik.
Wir benötigen Erfahrungen, die für die heute dominante Ausrichtung der EU eine wirkliche Niederlage bedeuten würden. Syriza-Leute wollten vor der Regierungsübernahme eigentlich genau dies. Die Niederlage des vorherrschenden Konzepts wäre dann eine Niederlage, wenn es gelänge, in bestimmten Fragen eine andere, positive Perspektive durchzusetzen. In Griechenland war und ist die angemessenste Parole jene der Verweigerung der Schuldenrückzahlungen. Die Schulden müssen als illegitim betrachtet werden. Nicht die Bevölkerung ist für die Verschuldung verantwortlich, sondern bestimmte Regierungsleute der Vergangenheit sind es. Die Schulden sind ihr Erbe. Jetzt will man die Chance eines Neuanfangs. Mit dieser Parole hätte die Bevölkerung sehr breit mobilisiert werden sollen, sie war dazu bereit. Ich war oft in Griechenland und sah das.
Ich habe mir beispielsweise vorgestellt, dass Tsipras am Abend des Referendums der Bevölkerung erklärt, dass er ihr Votum gehört habe und der Wille eindeutig sei. Einen Schuldenverzicht könne er aber nicht allein durchsetzen, er sei auf die Bevölkerung angewiesen, die sich nun organisieren und in Kundgebungen von Millionen von Menschen ausdrücken sollte. So hätte Tsipras in die Verhandlungen gehen, auf die Macht der aufgebrachten Bevölkerung hinter sich verweisen und sich als gemässigt präsentieren können.
Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass es sich in Griechenland um ein aussergewöhnliches Ereignis handelt, das vieles ermöglichen könnte. Das sahen auch viele GriechInnen so. Nun gingen aber bei den letzten Wahlen viele nicht mehr an die Urne, viele sind enttäuscht.
In Europa sind wir im Moment mit vielfältigen Krisen konfrontiert. Neben jener der Verschuldung, der Austeritätspolitik und der Dominanz des Nordens über den Süden, über die wir jetzt sprachen, gibt es die Flüchtlingskrise, die Krise der Migration.
Ich bin schockiert, wie die EuropäerInnen von der Flüchtlingskrise sprechen und dabei sich selber meinen. Die Menschen, die wirklich eine Krise erleiden, sind natürlich die SyrerInnen, die IrakerInnen. Wenn man die einigen hunderttausend Flüchtlinge bei uns zu einem Riesenproblem macht, ist das pure Ideologie. Wir müssen gegen die nationalistische Verkrampfung kämpfen. Wir müssen eine Verpflichtung schaffen, Menschen in verzweifelten Situationen eine minimale Sicherheit zu bieten.
Im Weltmassstab ist das Proletariat nomadisch. Die ArbeiterInnen – jene, die die härteste und am schlechtesten bezahlte Arbeit leisten – kommen immer von aussen. Natürlich erleben wir jetzt mit den Flüchtlingen etwa aus Syrien aussergewöhnliche Umstände. Aber die letzten Jahrzehnte waren geprägt von sehr grossen Bewegungen von Menschen, in Frankreich etwa die zugewanderten Frauen und Männer aus Algerien, aus Portugal oder aus Westafrika. So ist es heute fast überall auf der Erde. In Südkorea erlebte ich kürzlich das nomadische Proletariat aus Nepal, aus Bangladesch. In Shanghai arbeiten nicht wenige Leute aus Kamerun.
Welche Haltung entwickeln Sie gegenüber den schrecklichen Bürgerkriegen und Zerstörungen im Nahen Osten?
Gerade wenn wir uns mit der Flüchtlingsfrage beschäftigen, sollten wir auch eine Kampagne führen, die die weltweite Situation heute erklärt. Dabei spielen die Interventionen des Westens eine wesentliche Rolle, wir sind zu einem guten Teil an der Quelle verantwortlich für die Entwicklungen, die sich jetzt an verschiedenen Orten ergeben.
Die unnötige Zerstörung des irakischen Staates muss von der US-Regierung verantwortet werden, das war keine Sache, die aus dem Irak heraus entstanden ist. Seit Jahrzehnten wirken unterschiedliche Kräfte auf Syrien ein, heute erst recht. Es gibt wenig Aufklärung; die Menschen sehen die Flüchtlinge, aber die Hintergründe werden im Dunkeln belassen.
Könnte auch die gegenwärtige Flüchtlingssituation ein historisches Ereignis darstellen, das eine Öffnung hin zu einem anderen, universaleren Europa ermöglicht?
Diese Öffnung muss verankert sein in einer breiten Vision der Zukunft nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt. Die Gegenwart bietet eine Gelegenheit: Wenn Europa etwas werden will, kann es sich nicht wie eine Muschel den zuwandernden AusländerInnen verschliessen. Weshalb bewegen sich enorm viele Menschen nach Europa, die es nicht mehr schaffen, bei sich zuhause zu leben? Wir müssen uns bewusst sein, dass diese Entwicklung nicht morgen ein Ende nehmen wird.
Ich bin einverstanden, dass wir aufgrund der Flüchtlingssituation eine Vision Europas entwickeln, die sich der Menschheit insgesamt zuwendet. Aber eine Bedingung dafür ist die Kenntnis der Welt, so wie sie ist, einschliesslich der korrumpierenden und zerstörerischen Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus. Die Menschen hier müssen wissen, wofür unsere Regierungen in den Herkunftsländern der Menschen, die zu uns kommen, verantwortlich sind. Die Aktivitäten in jenen Ländern werden durch einen trügerischen und lügnerischen Diskurs verschleiert.
Zum Beispiel?
Die Intervention der französischen Armee 2013/2014 in Zentralafrika hat den Bürgerkrieg nicht besänftigt, sondern angeheizt. Der Hauptgrund war die Entdeckung von Ölvorkommen im Norden des Landes. Der ehemalige Präsident Zentralafrikas sicherte in Verhandlungen chinesischen Gesellschaften die Förderung des Öls zu; die französische Regierung sah ihre Interessen gefährdet und wollte den Entscheid umstossen. Die Geschichte entpuppt sich als eine völlig andere als jene einer humanitären Intervention, die uns erzählt wird.
Betrachten wir die Krise rund um die Ukraine und Russland: Viele Menschen im Osten wünschen sich aus sehr verständlichen Gründen eine Situation, deren Überwindung wir ersehnen – den kapitalistischen Westen. Wie gehen Sie mit dieser Frage um?
Sie ist schwierig. Es ist nicht einfach zu sagen, was der Motor der ukrainischen Forderungen gegenüber Russland ist: ein authentischer Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit, die Idee, die Konstellationen zu verändern, sich in Europa zu integrieren? Es gibt in der Ukraine natürlich – wie auch andernorts – diesen starken Drang und Wunsch nach dem Westen.
Persönlich stehe ich dem ukrainischen Nationalismus misstrauisch gegenüber, er hat eine dunkle Geschichte von langer Dauer. Dort gab es den erbittertsten Widerstand gegen die Revolution von 1917, dort gab es im Zweiten Weltkrieg die weitreichendste Kollaboration mit den Nazis, dort wütete ein starker Antisemitismus. Ausserdem gibt es noch immer keine richtige ukrainische Regierung; an der Macht ist eine Mafia, die vor allem aus Geschäftsleuten zusammengesetzt ist, der Situation in Russland zu gewissen Zeiten nicht unähnlich. Eine bedingungslose Unterstützung dieser Ukraine scheint mir riskant. Die Ukraine ist ausserdem historisch gesehen aus einer gewissen Perspektive das Herz Russlands.
Sprechen wir über Ihre Sicht auf Russland.
In meinen Augen gehört Russland zu Europa. Wenn sich Europa in einem Antagonismus zu Russland konstruiert, ist das ein verstümmeltes Europa. Ähnliches gilt auch für die Türkei. Wenn wir grosse Bögen sehen wollen, wenn wir Europa öffnen wollen in Richtung des Universalismus, der Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit, dann muss Russland mit einbezogen sein, was auch immer an der Politik von Putin zu kritisieren ist – er ist nun wahrlich nicht mein Mann; die führenden PolitikerInnen in der EU sind es allerdings auch nicht.
Die EU ist auf einem schlechten Weg unterwegs. Sie ist nicht genügend abgekoppelt von dem, was ich die Ideologie des Westens nennen würde, dazu gehört die chronische, solide und permanente Allianz mit den USA. «Westliche Welt» ist eine verhängnisvolle Kategorie. Die EU muss ein wenig gaullistischer werden (lacht) und eine unabhängige Aussenpolitik und Diplomatie auf Weltebene führen können. Heute ist das nicht der Fall. An ihren Rändern müsste sich die EU erweitern, um universalistischer zu werden. Europa ist nicht notwendigerweise, wie dies Sarkozy und andere betonten, eine jüdisch-christliche Einheit. Europa ist eine historische Kategorie; Louis XIV. war mit den Türken alliiert, von Russland gar nicht zu sprechen.
Welche Voraussetzungen für solche Veränderungen müsste die EU schaffen?
Die EU muss ihre eigene Bürokratie, die auch das Relais ist zum globalisierten Kapitalismus, einschränken. Und die eifersüchtige Souveränität der Staaten in ihre Schranken weisen. Ich bin für die Souveränität eines föderalen Europa. In einer ersten Etappe habe ich die Fusion von Frankreich und Deutschland vorgeschlagen, das hätte Gewicht, auch in der Welt, andere könnten sich diesem Gebilde anschliessen. Das wäre ein Anfang eines Europas mit Handlungsfähigkeit und wirklicher Unabhängigkeit. Aber selbstverständlich würde vieles von der politischen Farbe der Regierung abhängen. (lacht)
Die Frage nach der Demokratie stellt sich hier. In einem Gespräch mit dem deutschen Romanisten und Philosophen Gernot Kamecke argumentieren Sie, auf der Ebene des Denkens seien Demokratie und Kommunismus Synonyme. Die Öffentlichkeit in vielen Ländern versteht aufgrund der historischen Erfahrungen Demokratie und Kommunismus aber als Gegensatz. Entfalten Sie doch Ihre Idee des Kommunismus.
Ich erkenne vier Prinzipien des Kommunismus, sie kommen alle als scheinbar negative Bestimmungen daher.
Das erste Prinzip: Es ist nicht notwendig, dass die Ökonomie durch das Privateigentum beherrscht wird. Es ist möglich, die Wirtschaft von der Diktatur des Profits und den entsprechenden Begleitmechanismen zu lösen, um ihr Funktionieren in einen Bezug zu setzen zum Gemeinwohl. Das ist heute überhaupt nicht der Fall. Dazu ist eine ziemlich radikale Transformation der Verbindung von Wirtschaft und Recht notwendig, möglich und wünschbar. Heute ist das Pfand der Wirtschaft das Recht auf Eigentum, sein Schutz und seine Verteidigung.
Das zweite Prinzip: Es ist möglich, sich schrittweise von der Arbeitsteilung zu lösen. In diesem Konzept ist Arbeit notwendigerweise spezialisiert und geprägt von fortbestehenden Gegensätzen: zwischen intellektueller und manueller Arbeit, zwischen Arbeit in Führungspositionen und ausführender Arbeit.
Die dritte Idee: Es ist möglich, sich schrittweise von der rein repräsentativen Konzeption der Demokratie zu lösen; darunter verstehe ich, dass der fundamentale demokratische Akt allein darin besteht, VertreterInnen zu wählen. Rousseau, der grundlegende Theoretiker der Demokratie, erachtete eine repräsentative Demokratie nach englischem Modell nicht als Demokratie. Auch wenn eine schnelle Ausdehnung der direkten Demokratie auf alle Bereiche schwer denkbar ist, müssen wir ständig dafür arbeiten, der repräsentativen Dimension der Politik Grenzen zu setzen. Vor allem dürfen wir die Repräsentation, die Vertretung, nicht als Kern des Demokratischen verstehen.
Das vierte Prinzip: Die Vorstellung muss möglich sein, dass die Existenz der Menschheit sich immer stärker loslöst vom Separatismus zwischen Nationen. Das ist der Internationalismus.
Wie kann auf einer solchen Grundlage Politik organisiert werden?
Kommunistische Politik ist in jedem Fall eine Politik mit drei Elementen. Sie kann nicht auf die Existenz einer kommunistischen Partei beschränkt werden. Resultat kommunistischer Politik kann aber auch nicht einfach ein kommunistischer Staat sein, dieser ist ein Stück weit ein Widerspruch in sich selbst. Kommunistisch ist aber auch keine Politik, die das ganze historische Schicksal in die Hände einer Volksbewegung legt. Eine Bewegung ist per definitionem immer vorübergehend, sie beginnt, sie hat ein Ende, Menschen können nicht ihre ganze Zeit in Bewegung verbringen.
Wir benötigen also alle drei Elemente. Der Staat ist nie das Einzige, in dem Politik auf dem Spiel steht. Wir müssen uns einer Konzeption von Politik entledigen, die sich in der Machtergreifung erschöpft. Wenn die anderen Elemente nicht vorhanden sind, ist höchstes Misstrauen gegenüber der Staatsmacht angezeigt. Denn diese hat ihre eigenen Regeln, vor allem den Willen zum dauerhaften Erhalt der Macht. Massenbewegungen auf der anderen Seite sind notwendig; sie müssen vom Staat ermutigt und nicht unterdrückt werden, das kommt einer grossen Veränderung im Staatsverständnis gleich. Zur Vermittlung zwischen diesen beiden Elementen und zur Stabilisierung einer progressiven Politik benötigen wir politische Organisationen. Sie dürfen nie zum Ziel haben, im Staat aufzugehen; ihre Aufgabe besteht darin, darüber zu wachen, dass der Staat fortlaufend unter der Kontrolle der Bevölkerung bleibt und im Dienst des Gemeinwohls steht.
Ist das nun nicht ein Kommunismus jenseits der historischen Erfahrung?
Eine Vision der eben dargestellten Art kommunistischer Politik hat immer existiert. Sie war auch bei Lenin greifbar. Seine Parole war nicht «Ergreifung der Staatsmacht!», sondern «Alle Macht den Sowjets!», also den politischen Organisationen der Massenbewegung. Der Staat sollte so von der Bevölkerung kontrolliert werden. Die Partei in der Sowjetunion monopolisierte aber alle Machtpositionen. Lenin sah dies; in Texten seiner letzten Lebensjahre, von Stalin zensiert, nahm er eine radikale Kritik des bolschewistischen Staates vor. Man hatte die Bürokratie wiederhergestellt, er hingegen hatte von einer Arbeiter- und Bauernaufsicht über den Staat geträumt. Die drei Elemente kommunistischer Politik existierten, aber sie wurden aufgefressen von der totalen Vorherrschaft der Staatsmacht; die Partei fusionierte mit dem Staat und hielt die Massenbewegung nieder.
In der Realität existiert das Konzept praktisch nicht mehr. Der Kommunismus hat sich nach der katastrophalen «Sequenz» unter Stalin und dem grossen Scheitern im 20. Jahrhundert nicht wieder aufgerappelt. Diese Geschichte müssen wir analysieren und nun erneut ganz von vorne beginnen. Grund 615-544-7466 , die Idee aufzugeben, sehe ich keinen; so wie die Welt heute ist, gibt es aber tausend gute Gründe, sie wieder aufzunehmen.
Müssen nicht auch die Menschenrechte als fast exemplarisches universales Konzept in diese Vision integriert werden? Ist dieses Konzept nicht von der Linken, auch von Ihnen, sträflich vernachlässigt worden? Sie haben in früheren Publikationen die Menschenrechte als Konzept kritisiert, das die Menschen in einen blossen Opferstatus versetzt. Menschenrechte schützen jedoch – in der Idee – Flüchtlinge vor Übergriffen der Nationalstaaten, Arbeitende gegen Ausbeutung; sie sprechen AktivistInnen in Zentralafrika, in Russland oder der Türkei Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit zu, und gewähren der Zivilbevölkerung einen minimalen Schutz im Krieg.
Die Menschenrechte, so wie sie heute vorherrschend verstanden werden, sind in meinen Augen eine kompensatorische Ideologie. Es geht um Phänomene, für die wir im Westen weitgehend selber verantwortlich sind: Sie machen jemanden krank und anschliessend bieten Sie sich als sein Arzt an. Wir müssen uns die heutige Situation der Welt vor Augen führen: Afrika ist als Ganzes einem Industrie- und Minen-Konsortium unterworfen, sodass die Menschen kaum mehr die Möglichkeit haben, vor Ort zu überleben. Wirtschaftliche Studien zeigen, dass das System des globalisierten Kapitalismus wahrscheinlich zwei bis drei Milliarden unnötiger, unbrauchbarer Menschen schaffen wird, Menschen, die der Kapitalismus nicht in den Verwertungsprozess einbeziehen kann. Das alles ist nicht der Fehler afrikanischer Diktatoren, diabolischer Persönlichkeiten, es ist die materielle Grundlage westlicher Privilegien.
In der Zeit des Kolonialismus war die Entwicklung unverschleiert, aber sie geht heute weiter. Wir müssen uns informieren über die heutigen Ölgesellschaften, Minenkonzerne, Uranium-Förderer. Nicht die Sorgen der Bevölkerung bestimmen das Schicksal ganzer Regionen, sondern die Rivalitäten der grossen Mächte, China, USA, auch Europa. Im Südsudan spielt sich das seit langem genau so ab. Plötzlich wird dann ein Krieg, ein Bürgerkrieg bei uns zur dringenden Menschenrechtsfrage, wobei die realen Ursachen nicht thematisiert werden. Es ist die Rede von Barbarei in einer bestimmten Region, manchmal verbindet man sie mit sogenannten archaischen und überholten Kulturen. Natürlich existieren diese Phänomene, aber wir müssen die Totalität der Situation ansehen.
Deshalb misstraue ich der Menschenrechtsargumentation immer wieder, weil ich zu oft erlebt habe, dass sie die Natur der Widersprüche verschleiert, die einem Konflikt zugrunde liegen. Wenn Sie sagen, es gebe abscheuliche Grausamkeiten im Südsudan, wir müssten Truppen entsenden, haben Sie von der Natur des Konflikts nicht viel verstanden. In welchem Kontext, unter welchen Bedingungen ertönt der Ruf nach Militärinterventionen, und wer profitiert davon? Mein Verdacht gegenüber den Menschenrechten: Sie dienen zu oft dazu, Interventionen des Westens, nicht selten militärischer Art, durchzuführen, von denen ich feststellen muss, dass sie überhaupt nicht zu Verhältnissen beitragen, die den vorangehenden vorzuziehen wären. Wer kann heute sagen, dass die Menschenrechtssituation im Nahen Osten besser ist als vor der US-Intervention im Irak? Oder in Afghanistan? Oder in Mali und Zentralafrika? Viele unserer westlichen Staaten sind aktive Banditen, es ist nicht an ihnen, sich als Apostel der Menschenrechte aufzuspielen. Das stört mich sehr. Umso mehr, wenn der ausführende Arm der Menschenrechtspolitik die Militärs sind, von denen man fast in jedem Fall im Nachhinein hört, dass sie selber für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Aber sprechen Sie nun nicht von der Umsetzung einer Menschenrechtspolitik, ja von ihrem Missbrauch, aber nicht vom Konzept der Menschenrechte?
Natürlich stehe ich hinter den Menschenrechten. Wenn sie wirklich das bedeuten, wie Sie sie definieren, entsprechen sie dem kommunistischen Programm. Es stört mich überhaupt nicht, wenn die Menschenrechte einer der Namen für das kommunistische Programm sind. Es geht nicht nur um das Recht der Menschen, sondern auch um das Recht der Menschheit, sich wieder in Kategorien des Gemeinwohls zu definieren und über ihr historisches Schicksal selber zu entscheiden. Die Menschenrechte müssen zurückgebracht werden auf fundamentale Grundsätze: Priorität des Gemeinwohls, Schutz der Schwachen, erbitterter Kampf gegen den unendlichen Abstand zwischen Reichen und Armen und so weiter. Heute hat der globalisierte Kapitalismus eine Welt geschaffen, in der ein Prozent der Bevölkerung 46 Prozent der Ressourcen besitzen, zehn Prozent haben 86 Prozent der Ressourcen. Das sind keine kleinen Unterschiede. 50 Prozent der Menschen haben gar nichts. Deshalb irren die Menschen auf der Welt herum auf der Suche nach irgendetwas. Eine solche Welt können wir nicht akzeptieren.
Sie verstehen sich als Atheisten. In Ihren Gesprächen mit Gernot Kamecke argumentieren Sie, dass nach der Mengenlehre von Georg Cantor, auf die Sie sich in Ihrer Ontologie, der Lehre vom Sein, beziehen, kein Platz mehr für Gott geblieben sei. Das ist der Tod Gottes, wie Nietzsche sagte, der «philosophische Tod Gottes», wie Sie sich präziser ausdrücken. Aber dann folgt ein erstaunlicher Satz von Ihnen: «Heute besteht die einzig verbleibende Möglichkeit darin zu sagen, dass Gott zwar weder ist noch existiert, aber vielleicht eines Tages sein wird.» Sie beziehen sich auf Pierre Teilhard de Chardin und Henri Bergson. In deren Werken finden Sie die Idee des toten Gottes, der wieder geboren werden könnte. Sie verwenden in Ihren Büchern Begriffe wie Treue und Glauben. Versteckt sich in ihrer Philosophie eine Theologie?
Meine Beziehung zur Religion ist auf jeden Fall komplex. Ich bin kein fanatischer Anti-Religiöser, der deklarieren würde, dass das Christentum seit den Anfängen schrecklich war und der Islam noch schlimmer. Ich gehöre nicht zu jenen, die sich zu einem aggressiven Atheismus bekennen. Metaphorisch spreche ich deshalb vom Tod Gottes und nicht vom Übel der Religion. Ich werde oft von meinen materialistischen Freunden kritisiert, religiös zu sein. Das muss einen Grund haben. (lacht) Das Thema kommt immer wieder.
Was ist Religion?
Für mich waren die Religionen – und sie sind es in vielen Gegenden heute noch – notwendige Darstellungen in Bildern und Fabeln, die sich die Menschheit von ihrem Schicksal macht und von den Konsequenzen, die der Einzelne daraus ziehen soll. Die Religion ist kein willkürlicher oder falscher ideologischer Zusatz. Wenn man die Religion so definiert, hat man nichts verstanden, auch ihre Macht nicht. Die Religion ist eine singuläre Darstellung realer Themen auf der Grundlage eines – oft grossartigen – Narrativs, einer Geschichte, einer Genese, einer Intervention, eines Ereignisses.
Ich wollte das am Beispiel von Paulus in meinem Buch darlegen (Paulus. Die Begründung des Universalismus). Paulus habe ich dabei den grössten Respekt entgegengebracht, ich habe ihn oft verteidigt. Beim Thema des Universalismus, der Existenz der Menschheit als solcher, hat Paulus einen entscheidenden Schritt nach vorne gemacht. Natürlich hat er den Universalismus an ein Ereignis gebunden – die Auferstehung von Jesus Christus –, das für mich eher in den Bereich der Erzählung als der Faktizität gehört; aber das ist für mich nicht so entscheidend. Im Rahmen dieses Diskurses hat Paulus zum ersten Mal so radikal zum Ausdruck gebracht, dass es weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Männer noch Frauen gibt, sondern nur die Menschheit. Paulus sagt, dass es keine Wahrheit nur für ein Volk gibt; Wahrheit muss universal sein. Hier muss ich anerkennen, dass das paulinische Denken auch im Verhältnis zu den griechischen Philosophen ein neues und für mich grundlegendes Motiv einführt: die Universalität.
Das war zur Zeit von Paulus. Aber was ist heute?
In meinem Verständnis haben Glaubenssysteme während langen geschichtlichen Perioden die grossen Fragen, die sich die Menschheit stellt, im Zusammenhang einer religiösen Erzählung formuliert. Diese Erzählung stützte sich auf ein transzendentes Motiv ab. Das Konzept der Transzendenz funktionierte als Garantie der Wahrheit dessen, was man ausdrückte und erzählte. Wenn man diese Garantie entfernt, bedeutet das nicht, dass was erzählt wird, ins Nichts fällt. Auch wenn ich nicht an die Auferstehung von Jesus Christus glaube, findet ein Grossteil dessen, was Paulus sagt, meine Zustimmung.
Wenn ich vom Tod Gottes spreche, will ich sagen, dass wir vielleicht ganz langsam – angefangen mit der Renaissance – in einer Epoche angelangt sind, in der die Menschheit dieser Art Erzählung nicht mehr bedarf. Nur dies. Die Notwendigkeit, die fundamentalen, existenziellen Fragen in der Form einer genealogischen Erzählung zu stellen, hat sich erschöpft. Ich sehe ein fortschreitendes Verschwinden dieses Bedürfnisses. Bildhaft gesprochen kann man diesen Prozess den Tod Gottes nennen. Damit drückt man ja sogar aus, dass er in einer gewissen Form vorher existierte. Gewisse Fragen der Nächstenliebe, der Notwendigkeit der letztendlichen Gerechtigkeit, des Argwohns gegenüber der etablierten Macht, der Dialektik von Begehren und Gesetz konnte man sich nur in der Form dieser Erzählung stellen. Die religiöse Erzählung war über lange Zeit die Begleiterin der Philosophie; Descartes, Leibnitz, Kant und Hegel sind noch solide Begleiter der Religion. Aber nach Hegel verändern sich die Dinge allmählich. Heute sind die Religionen nicht mehr notwendig, um die Menschheit für dieselben Anliegen zu mobilisieren. Die Philosophie spart sich die Fabel, die Erzählung, sie beansprucht Rationalität.
Gilt das für die gesamte Philosophie?
Ich habe philosophische Freunde, die versuchen, die religiöse Erzählung zu bewahren, welche die Frage des Seins und der Existenz berührt. Die eigentliche Art und Weise Gottes zu existieren, ist nicht zu existieren. So führt es Quentin Meillassoux (französischer Philosoph und Schüler von Alain Badiou, die Red.) aus, ein grosser Freund von mir. Das ist eine Theologie des schwachen, nicht des allmächtigen Gottes. Es ist ein schwacher Gott, der handelt durch die Stimulierung des Guten in allen Kreaturen und nicht durch das Aufzwingen des Gesetzes. Es ist ein Gott der Finalität und nicht der Kausalität, ein ethischer Gott. Quentin Meillassoux versucht sich gar an der rationalen Rechtfertigung des gesicherten Charakters der Auferstehung der Toten – sehr faszinierend. (lacht)
Religion muss also nicht zwangsläufig der Abgrenzung der eigenen Identität und Gruppe dienen. Können dementsprechend religiös motivierte Menschen Verbündete sein in der universalen politischen Bewegung, Verbündete für kommunistische Politik?
Selbstverständlich. Dass wir heute auch ohne die Fabel leben können, ist keine grundlegende Ablehnung jener, die dies für sich noch nicht so sehen. Auf Religion verzichten zu können, ist, zugespitzt ausgedrückt, ein Anspruch der Rationalität. Aber seit jeher hatte ich religiöse Menschen in meinem Freundeskreis.
Ich bin überhaupt nicht engagiert im antireligiösen Kampf. Deshalb werde ich in Frankreich auch immer wieder der Schwäche verdächtigt. Ich bin für die Toleranz gegenüber religiösen Menschen. Alles hängt natürlich von den politischen Positionen ab, die sich aus der Religion ergeben. In Frankreich bin ich bekannt dafür, dass ich die heute vorherrschende Verwendung des Begriffs Laizität als reaktionär kritisiere. Nennen wir das Kind beim Namen: Laizität ist heute islamophob, die systematische Feindseligkeit gegenüber dem Islam. Deshalb bin ich gegen das Gesetz, das den islamischen Schleier verbietet, überhaupt gegen Gesetze, die öffentliche Darstellungen von Bekenntnissen verbieten. Wieso soll man das nicht dürfen? Bei Paulus habe ich gelernt, dass das Zeigen der eigenen Überzeugungen zum Glauben gehört.
* Zuerst erschienen in: Neue Wege 11/2015. Das Gespräch wurde am 6. Oktober 2015 in Bern geführt.
fb
Vielen Dank für dieses tolle Interview! Was würde Badiou wohl zur Misogynie bestimmter Religionen sagen und wie damit in Europa umgegangen werden soll? Und wie kann ein von westlichen Idealen geprägter Universalismus (hier z.B. die Gleichstellung) überhaupt gerechtfertigt werden? Liegt nicht genau im Multikulturalismus die Akzeptanz der Differenz zwischen verschiedenen Kulturen? Wie weit müssen diese Differenzen akzeptiert werden? Kann Internationalismus basierend auf Multikulturalismus so überhaupt funktionieren? Wenn nicht, würde dann nicht auch Badious (aus meiner Sicht erstrebenswerte) Idee eines Kommunismus scheitern, da zu grosse kulturelle Unterschiede bestehen und sich keine einheitlichen Werte entwickeln können, an denen sich das Gemeinwohl orientiert?
Alain Badiou über Gott, Welt & Kommunismus « wissensteilung
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