Vertreter von Bankenverbänden fordern von der EU „klare Signale und Sanktionen“ gegen den „Akt der Enteignung“ – nein, die Rede ist nicht von Griechenland, sondern von der Republik Österreich. Die Regierung in Wien hatte im März 2015 beschlossen, die Abwicklungsgesellschaft der Hypo Alpe Adria selbst abzuwickeln und sämtliche Kredite nicht mehr zu bedienen – immerhin geht es um über sieben Milliarden Euro.[1] Eine Medienkampagne blieb dem südlichen Nachbarn erspart, obwohl neben grossen Versicherungskonzernen auch öffentliche Banken wie die Nord-LB und damit die Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt von Verlusten betroffen sind.
Die griechische Regierung hat dagegen bisher alle Schulden bedient: 350 Mio. € am 20. März, rund 448 Mio. € am 9. April sowie 183 Mio. € am 1. Mai, 400 Mio. am 5. Mai und 756 Mio. am 11. Mai, obwohl seit August 2014 aus dem laufenden Kreditprogramm keine Tranche geflossen ist. Hinzu kommt, dass Griechenland von der Liquidität, mit der die EZB die Eurozone geflutet hat, ausgeschlossen worden ist. Die offizielle Begründung dafür lautet, erst müsse ein Abkommen zwischen Griechenland und den „Institutionen“, also der Troika aus EZB, Eurogruppe und IWF geschlossen werden.
Ob es zu einem solchen Abkommen kommt, steht weiterhin in den Sternen – noch hat die Regierung in Athen mit der pünktlichen Bedienung der Schulden die Möglichkeit zu einem „ehrenhaften Kompromiss“ mit den „Institutionen“ offen gehalten. Die Dramatik der gegenwärtigen Situation zeigt sich aber daran, dass für den Schuldendienst die Kommunen und öffentlichen Institutionen per Regierungsdekret gezwungen wurden, ihre flüssigen Mittel bei der Nationalbank zu hinterlegen, und bei der Zahlung an den IWF am 11. Mai auf die Möglichkeit der Sonderziehungsrechte zurückgegriffen werden musste.
Zunächst hatte es eine Zuspitzung der Konfrontation gegeben: Auslöser war das „Gesetz zur Bekämpfung der humanitären Krise“. Damit wurde im griechischen Parlament die Grundlage gelegt, die Haushalte von 300.000 Menschen wieder an das Stromnetz anzuschliessen, ebenso vielen Unterstützung bei der Miete zukommen zu lassen und Essensmarken an all diejenigen zu verteilen, die sich nicht mehr ausreichend Nahrungsmittel leisten können. Mit 200 Millionen € war für dieses Minimalprogramm eine vergleichsweise geringe Summe notwendig – allein auf 360 Millionen € belaufen sich die Zinszahlungen, die seit 2010 aus den Griechenland-Krediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau an den Bundeshaushalt abgeführt worden sind.
Die EU-Kommission versuchte, diese ersten Massnahmen der neuen Athener Regierung gegen die soziale Krise mit Nachdruck zu verhindern. Der Gesetzentwurf, schrieb Declan Costello, zuständiger Direktor in der EU-Kommission, in einer E-Mail nach Athen, müsse erst mit den Gläubigern abgestimmt werden. Ein Gesetzesbeschluss ohne Genehmigung der Gläubiger sei „inkonsistent“ mit dem Abkommen Griechenlands mit der Euro-Gruppe vom 20. Februar 2015. Jeroen Dijsselbloem, Vorsitzender der Euro-Gruppe, drohte gar, dass die Europäische Zentralbank die Liquiditätsversorgung der griechischen Banken einstellen könnte und kündigte eine Lösung nach dem Vorbild Zyperns an. Beschwichtigungen kamen hingegen aus Frankreich: Der Gesetzentwurf der Athener Regierung sei zwar gut und notwendig, erklärte EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici. Es gehe aber nicht um die humanitäre Philosophie, die dem Gesetzentwurf zu Grunde liege, sondern um die haushaltspolitischen Folgen solcher Massnahmen, betonte der Kommissar. Athen müsse die Vereinbarung mit den Euro-Finanzministern vom 20. Februar einhalten.
Während in anderen europäischen Ländern diese erhellende Kontroverse ihren Weg in die Öffentlichkeit fand, wurde in Deutschland einiges getan, um den Inhalt der Auseinandersetzung zu vernebeln. Es war durchaus kein Zufall, dass Günther Jauch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk den griechischen Finanzminister mit einem drei Jahre alten Video als „Euroschreck“ vorführte, und die bürgerliche Qualitätspresse mit der Behauptung, die griechische Regierung verfüge über kein Programm und erfülle die im Februar vereinbarten Verpflichtungen nicht, versuchte, dem Publikum Sand in die Augen zu streuen. Hungern für die Banken – das ist eine Forderung, die auch in der deutschen Öffentlichkeit wenig offene Anhänger finden dürfte. Zudem hat die Krise vom März noch einmal die Behauptung dementiert, die Austeritätspolitik aus dem Hause Schäuble habe mit der humanitären Krise in Griechenland nichts zu tun und durch das bisherige Regime der Troika sei die Demokratie in Griechenland nicht eingeschränkt worden.
Die Aussichten, zu einem tragfähigen Kompromiss zu kommen, der ein Ende der Austeritätspolitik in Griechenland einleitet, haben sich nach mehr als zweieinhalb Monaten zäher Verhandlungen mehr und mehr als illusorisch erwiesen. Die „Institutionen“ wollen zwar Griechenland in der Euro-Zone und in der EU halten, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Austeritätspolitik fortgesetzt wird. Athen will ebenfalls erklärtermassen in der Eurozone verbleiben, jedoch ohne eine Fortsetzung der bisherigen Linie.
Seitens der Gläubiger hat es bisher nicht einmal in Nebenaspekten substantiellen Zugeständnisse gegeben, obwohl Athen bereits im Februar von zentralen Forderungen wie einer europäischen Schuldenkonferenz, der sofortigen Erhöhung des Mindestlohnes oder einer Kopplung des Schuldendienstes an das Wirtschaftswachstum Abstand genommen hat. Die öffentliche Auseinandersetzung um eine Liste mit Reformmassnahmen, die die Athener Regierung laut dem Abkommen vom 20. Februar als Voraussetzung für die Auszahlung vorlegen soll, zeigt das in aller Deutlichkeit.
Die immer wieder in der medialen Öffentlichkeit lancierte Behauptung, die Athener Regierung habe ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht und nur unzureichende Vorschläge unterbreitet, gehen an der Realität vorbei. Tatsächlich haben die Unterhändler der griechischen Regierung Ende März umfangreiche Vorschläge unterbreitet, die unter anderem vorsehen, vorzeitige Verrentungen abzuschaffen, die Mehrwertsteuer effektiver einzutreiben, Auslandsvermögen zu erfassen und zu besteuern, Besserverdienende mit über 100.000 € Jahreseinkommen höher zu besteuern, die Immobiliensteuer zu Lasten Vermögender zu verändern sowie die Steuerschulden im Inland zu regeln. Wesentliches Ziel war dabei die Vermeidung von Massnahmen, die einer Stabilisierung der Wirtschaft schaden.[2]
In Brüssel sind diese Vorschläge der griechischen Seite vor allem deswegen auf wenig Anerkennung gestossen, weil die Eurogruppe nicht etwa auf die mittelfristige Sicherung des Schuldendienstes, sondern auf die Fortsetzung der bisherigen Austeritätspolitik abzielt. Dazu gehören weitere Entlassungen und Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst, die Kürzungen der Durchschnittsrente von 487 auf 320 €, die Erleichterung von Massenentlassungen – angesichts einer Arbeitslosigkeit von offiziell 27 Prozent an sich schon eine groteske Forderung –, die Einführung der Rente mit 67, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und weitere Privatisierungen. Erinnert sei hier insbesondere daran, dass die Frankfurter Fraport AG 14 griechische Flughäfen zu erwerben beabsichtigt, und an die Forderung, das Verbot von Zwangsversteigerungen des Erstwohnsitzes aufzuheben. Da viele griechische Familien ihre Immobilienkredite nicht mehr bedienen können, würde eine Aufhebung des Verbots hunderttausende griechische Familien obdachlos machen. Es sei daran erinnert, dass bereits die Regierung Samaras sich dem politischen Selbstmord verweigert hatte, indem sie den Forderungen nach Zwangsversteigerungen und Rentenkürzungen nicht nachkam.
Bezeichnend für die Auseinandersetzung um die Richtung der Reformmassnahmen ist dabei der Streit um die Besteuerung der Inseln: Bisher galt dort aufgrund der höheren Preise ein niedriger Mehrwertsteuersatz, der nach Vorstellungen der Euro-Gruppe beseitigt werden soll. Brüssel hat aber auch abgelehnt, für bestimmte Inseln mit Luxustourismus wie Santorini und Mykonos einen höheren Mehrwertsteuer-Satz einzuführen.
An dieser grundlegenden Frontstellung hat sich im Laufe der Verhandlungen wenig geändert, die griechische Regierung ist jedoch mehr und mehr in die Defensive gedrängt worden, da ihr ökonomischer Spielraum sich immer weiter verengt hat. „Vor einem Treffen der Euro-Finanzstaatssekretäre“, berichtete die FAZ, „hiess es in der Eurogruppe, es reiche nicht, wenn Athen ein paar Vorhaben zurücknehme, die ohnehin in die falsche Richtung gelaufen wären.“[3] Dass diese Verschleppungstaktik der „Institutionen“ in den Medien wenig Kritik gefunden hat, ist ebenso bezeichnend wie der Umstand, dass auf Basis deutschsprachiger Medienberichte eine Rekonstruktion des Verhandlungsgegenstandes weitgehend unmöglich sein dürfte. Der Versuch, die griechische Regierung für die bisherige Ergebnislosigkeit verantwortlich zu machen, vernebelt die Motivation der Vertreter der Euro-Gruppe, die offenbar keinerlei Zugeständnisse zu machen gewillt sind und warten, bis Athen unter dem Druck des ökonomischen Aderlasses nachgibt. Das ist jedoch nicht ohne weiteres möglich:
Die Athener Regierung ist nicht einfach irgendeine Koalition bürgerlicher Parteien, sondern Ausdruck einer sozialen Bewegung, die sich nicht ohne Bruch über die Interessen ihrer Basis und Sympathisanten hinwegsetzen kann. Ihre bisher im Kern unnachgiebige Haltung ist dem sozialen Desaster geschuldet, dass die fünfjährige Austeritätspolitik in Griechenland zur Folge gehabt hat. Für die Mehrheit der Lohnabhängigen, Rentner und kleinen Selbstständigen hat die Politik der Troika dramatische und bisweilen tödliche Auswirkungen. Die Einkommen sind mittlerweile nach Schätzungen durchschnittlich um 35 bis 40 Prozent gesunken. Gegenwärtig liegt die Arbeitslosenrate offiziell bei 27 Prozent, in der produktivsten Altersgruppe der 25-29jährigen beträgt die Arbeitslosigkeit sogar fast 40 Prozent. Da der in Griechenland sehr grosse Bereich der Schattenwirtschaft – Schätzungen gehen von bis zu 30 Prozent aus, in Branchen wie dem Tourismus werden für die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet – nicht berücksichtigt wird und mittlerweile über 150.000 Menschen ausgewandert sind, gibt die offizielle Statistik ein unzureichendes Bild der Situation wieder. Nur ein Bruchteil der Arbeitslosen bekommt Arbeitslosengeld, da ohne vorherige Einzahlungen kein Leistungsanspruch besteht und dieses ansonsten maximal für ein Jahr gezahlt wird. Aber auch diejenigen, die sich noch in Lohn und Brot befinden, bekommen oftmals kein Gehalt ausgezahlt. Rund 800.000 Menschen warten zwischen vier und 15 Monaten auf ihren Lohn, und zwar ohne Ansprüche auf irgendwelche anderen Leistungen zu haben. Wie im Falle der Seeleute sind Streiks für die Auszahlung ausstehender Löhne in der Vergangenheit mit Notstandsgesetzen, die Streikende mit Entlassung und Gefängnisstrafen bedrohen, gebrochen worden. In den meisten Branchen ist an Arbeitskämpfe jedoch nicht mehr zu denken, da das Tarifvertragssystem auf Betreiben der Troika fast vollständig zerstört worden ist. Die Arbeitsbedingungen sind mittlerweile weitgehend von der Willkür der Unternehmer abhängig.
Viele Familien sind vollkommen überschuldet, auf die Unterstützung von Verwandten oder auf die zusammengestrichenen Renten von Familienmitgliedern angewiesen. Wenn man weiss, dass für viele Familien die Rente die einzige monetäre Ressource ist, wird einem die Sprengkraft der Forderung nach einer weiteren Rentensenkung deutlich. Über die tatsächliche Verarmung gibt es aufgrund ihrer dramatischen Zunahme kaum verlässliche Daten. Zehntausende Familien vor allem in den städtischen Zentren sind gänzlich ohne Einkommen und auf die Unterstützung durch Suppenküchen und Lebensmittelhilfen angewiesen. Betroffen sind vor allem die ohnehin verwundbarsten Teile der Gesellschaft, d.h. diejenigen Bevölkerungsschichten, die bereits vor der Krise nur über ein geringes Einkommen verfügten, und von diesen insbesondere Kinder, Alte, alleinerziehende Migranten oder Menschen mit Behinderungen.
Besonders dramatisch sind die Auswirkungen der Vorgaben der Troika im Gesundheitssektor, die neben Kürzungsvorgaben die Privatisierung des gesamten Bereichs vorsahen. Der ehemalige Gesundheitsminister Andreas Loverdos hat zugegeben, dass die Regierung zu ihrer Erfüllung „Schlachtermesser“ benutzt hat. Die Zahlen sprechen für sich: Von 183 Krankenhäusern im Land sind seit Beginn der Krise etwa 100 geschlossen worden, rund 35.000 Klinikstellen fielen dabei weg. Die 350 Polykliniken, mit denen bislang die ambulante Grundversorgung sichergestellt wurde, wurden komplett geschlossen. Im Gesundheitssystem sind insgesamt 26.000 Stellen abgebaut worden, davon 9.100 Stellen von Ärzten. Da viele Krankenhäuser ihre Lieferanten nicht oder nur verspätet bezahlen, kommt es immer wieder zu Engpässen bei Medikamenten und medizinischen Gütern, so fehlen mitunter selbst einfachste Dinge wie Handschuhe, Desinfektions- oder Schmerzmittel. Viele Krankenhäuser verschieben Behandlungen in die Zukunft und nehmen nur noch die allernotwendigsten chirurgischen Eingriffe vor, weil ihr Budget erschöpft ist. Allein 2011 gab es eine Kürzung von 60 Prozent des Budgets für die laufenden Betriebskosten des öffentlichen Gesundheitswesens, sodass die Angehörigen von Patienten selbst Kanülen oder Verbandsmaterial zur Verfügung stellen und bei der Behandlung mithelfen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Rede von einer Reform des Gesundheitswesens, bei dem übrigens Experten des Bundesministeriums für Gesundheit federführend waren, schlicht irreführend.
Offiziell sind rund 30 Prozent der Bevölkerung nicht mehr krankenversichert. Inoffizielle Schätzungen gehen davon aus, dass etwa jeder zweite keine Krankenversicherung mehr hat. Wer nicht versichert ist, musste bisher die Kosten einer Behandlung vor Ort bezahlen oder das Geld wurde am Jahresende mit der Steuer eingezogen. Zwar garantiert die neue Regierung mittlerweile wieder den freien Zugang zum Gesundheitssystem, an dessen desolatem Zustand hat sich allerdings bisher wenig geändert. Einen Hinweis auf das Ausmass der Verschlechterung der öffentlichen Gesundheitsversorgung gibt die Rate der Kindersterblichkeit, die zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent angestiegen ist. Nicht weniger dramatisch ist die psychische Situation grosser Teile der Bevölkerung. So ist die Selbstmordrate zwischen 2007 und 2011 um 45 Prozent gestiegen. Besonders deutlich sind die Folgen der Kürzungen im Bereich der AIDS-Prävention. Nachdem das Programm zum Austausch von Injektionsnadeln für Drogenabhängige fast vollständig eingestellt worden war 615-544-8646 , stieg die Zahl der Neuinfektionen von 655 Fällen 2008 auf 1187 Fälle 2012 an. Trotz dieser nicht ernsthaft zu bestreitenden Zusammenhänge wurde in den Medien die Behauptung kolportiert, ein wesentlicher Grund für die Zunahme von HIV seien Drogenabhängige, die sich selbst mit AIDS infiziert hätten, um sich höhere Sozialleistungen zu sichern. Das WHO-Regionalbüro für Europa sah sich gezwungen, diese Meldungen, die auf eine WHO-Erklärung zurückging, offiziell zu dementieren.
Das Vorhaben der neuen Athener Regierung, die sozialen Verwüstungen des fünfjährigen Diktats der Troika zu korrigieren und die Ökonomie zu stabilisieren, stellen ein Minimalprogramm dar, hinter das keine Regierung, die grundlegenden demokratischen Ansprüchen genügen will, zurückfallen kann. Die in Griechenland heftig diskutierten „roten Linien“ zu überschreiten, würde bedeuten, politischen Selbstmord zu begehen.
Aus Sicht der Gläubiger hingegen stellen die Positionen der griechischen Regierung eine gefährliche Abweichung von der bisher verfolgten Politik in der EU dar, die nicht in Frage gestellt werden kann, ohne die Glaubwürdigkeit der bisherigen Verschuldungs- und Austeritätspolitik zu beschädigen. Denn das Problem liegt nicht so sehr in Griechenland, dessen ökonomische Bedeutung für die EU vernachlässigbar ist, sondern in den ökonomischen Verwerfungen innerhalb der EU, die sich in Griechenland nur mit besonderer Schärfe gezeigt haben. Mit diesen Verwerfungen ist ein erhebliches politisches Sprengpotential verbunden, wie in der Aussage zum Ausdruck gekommen ist, der griechische Finanzminister Varoufakis habe für die gesamte europäische Linke mitverhandelt. Die Behauptung Wolfgang Schäubles, die gegenwärtige Regierung habe die Erfolge ihrer Vorgänger zerstört, ist daher nicht einfach eine Lüge oder Resultat einer unzureichenden Informiertheit der Bundesregierung, sondern der notwendige Ausdruck einer Position, die aus Gründen der Selbstbehauptung ein systembedingtes Scheitern der Austeritätspolitik negieren muss.
So droht nun nicht allein die Verhandlungsstrategie der griechischen Regierung, sondern auch die der Vertreter der Eurozone, ja die EU selbst zu scheitern. Insofern grosse Teile der Bevölkerungen die diesen Verhandlungsstrategien immanenten Illusionen ihrer Regierungen teilen, werden die Schockwellen einer offenen politischen Krise unkalkulierbare Folgen haben. Wahrscheinlich ist daher eine Zwischenlösung, die eine Teilzahlung bis Herbst 2015 vorsieht. Laut der „Zeitung der Redakteure“ wird über die Auszahlung einer Tranche von vier Mrd. € diskutiert, die allerdings unter den Zahlungsverpflichtungen Griechenlands im Sommer in Höhe von 6,7 Mrd. € liegt. Ein Kürzungsprogramm soll die fehlende Summe kompensieren.[4] Damit wäre die Entwicklungslinie der weiteren Ereignisse vorgezeichnet: Die Gläubiger halten die Zahlungsfähigkeit Griechenlands gerade so aufrecht, ebenso jedoch den Druck, die geforderten Kürzungen umzusetzen, unabhängig davon, ob sich die gegenwärtige Regierung halten kann oder nicht.
Während die griechische Regierung nun versucht, eine Gesamtlösung mit einem „ehrenhaften Kompromisses“ durchzusetzen – die Chancen dafür sind gering – plädieren der linke Flügel von SYRIZA, die ausserparlamentarische Linke und zahlreiche Basisaktivisten immer nachdrücklicher dafür, mit Mobilisierungen die innenpolitische Auseinandersetzung zu forcieren, die eigene Agenda umzusetzen und sich nicht durch einen möglichen Bruch mit den Staaten der Eurozone lähmen zu lassen, so etwa Jannis Milios[5] und Stathis Kouvelakis.[6] Die weiteren Entwicklungen über den Sommer werden massgeblich davon beeinflusst werden, welche Dynamik die sozialen Bewegungen in Griechenland und Europa gegen die Austeritätspolitik werden entfalten können.
[1] HAZ v. 7.5.2015.
[2] Efimerida Syntakton v. 30.3.2015. Kathimerini v. 30.3.2015. FAZ v. 28.3.2015.
[3] FAZ online v. 29.4.2015.
[4] Efimerida ton Syntakton v. 21.5.2015. Süddeutsche Zeitung v. 21.5.2015.
[6] https://www.jacobinmag.com/2015/05/kouvelakis-syriza-ecb-grexit/
Kostas Kipuros
Die Ausführung von Gregor Kritides treffen den Kern der Sache: Den “Institutionen” geht es einzig und allein darum, das linke Experiment unter Syriza zum Scheitern zu bringen – möglichst noch, bevor sich der Virus der Anti-Alternativlosigkeit in Spanien, Portugal oder Irland verbreitet. Zwei Aspekte dieser Strategie, die auch in linken Kreisen dabei noch zu wenig diskutiert werden, sind die Motive der deutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten, in diesem verordneten Erosionsprozess der europäischen Südländer eine – besser – d i e Führungsrolle zu spielen. Immerhin galt Deutschland – bei allen nötigen Abstrichen – bis zur Einführung der Agenda 2010 als Modell eines funktionierenden Sozialstaates. Derzeit verfolgt jedoch keine andere Regierung in der Eurozone derart radikal eine Strategie des Abbaus sozialer Standards zugunsten von Wirtschaftsinteressen, wie die Berliner große Koalition. Die damit verbundene wirtschaftliche Dominanz wird schon jetzt als politische Dominanz praktiziert, wobei ironischerweise wie Tomasz Konicz auf Telepolis ausführt, gerade der zwangsweise Export des deutschen Modells – Streichung staatlicher Investitionen, Schwarze Null sowie sogenannte Sparmaßnahmen – zum Scheitern dieser Politik führen wird – mit noch verheerenderen Folgen als jetzt zu besichtigen. Griechenland belegt dies exemplarisch. Dennoch wird in Deutschland diese katastrophale Strategie der Krisenbekämpfung medial als alternativlos begleitet, wobei auffällt, dass einem großen Teil der deutschen Bevölkerung die aggressive Exportideologie der großen Koalition als eine Art Wirtschaftsnationalismus zur Identifikation dient.
Der andere Aspekt betrifft die mittelbaren Folgen des deutschen Spardiktats, denn die Alternative zu Syriza heißt in Griechenland mitnichten die Rückkehr zum status quo ante – also die erneute Regierungsbildung durch ein von der Nea Dimokratia geführtem bürgerlichen Lager, was schon deshalb unmöglich ist, da die Pasok faktisch keine Rolle mehr spielt. Selbst ein Beigeben von Syriza würde längerfristig zu selbst für Deutschland kontraproduktiven Ergebnissen führen, da der Bruch von Wahlversprechen zu immensen sozialen Verwerfungen führen würde. Ganz zu schweigen von der potenziellen Möglichkeit des weiteren Aufstiegs der faschistischen Chrisy Avgi, über deren Gefährlichkeit merkwürdigerweise nichts aus Berlin zu vernehmen ist.
Lässt sich darauf folgern, dass für Schäuble/Merkel ein Machtzuwachs der faschistischen Kräfte in Griechenland etwa das kleinere Übel wäre, als die weitere Existenz der Syriza-Regierung? Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit einer solchen Abwägung bleibt es ein Rätsel, weshalb Berlin mit derartiger Vehemenz das aktuelle griechische Experiment bekämpft. Denn anders als Regierung und deutsche Medien suggerieren, ist Syriza alles andere als radikal. Wie Finanzminister Varoufaki bereits mehrfach darauf hingewiesen hat, geht es der griechischen Regierung ja nicht um den Sturz der Verhältnisse innerhalb der Eurozone, sondern ganz im Gegenteil um deren Stabilisierung, um das Los der Ärmsten zu lindern. Was Syriza innerhalb Griechenlands erreichen will, sind im Grunde sozialdemokratische Ziele – im eigentlichen Sinn wohlgemerkt. Die wirklich linksradikalen Kräfte werden durch die Kommunistische Partei Griechenlands gestellt. Man könnte auch etwas lax formulieren: Eine ethisch “bessere”, dialogbereitere, kompromissbereitere und intellektuellere Linke wird das Merkel/Schäuble-Duo nicht bekommen. Weder in Griechenland noch sonstwo in Europa. Diese Chance zu vertun, käme einer immensen historischen Schuld Deutschlands gleich.
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