Professor Thierry Carrel zeigt in seinem Beitrag (S. 181, „Kontraste in der Medizin“), dass sogar in seinem Fach, der Herzchirurgie, das auf hochkarätige Technik zwingend angewiesen ist, der Mensch, seine Sorgen und Ängste, seine Pflege, vermehrt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollten. Erstaunlich, dass genau dasselbe auch von der Psychiatrie, der Medizin der Seele (bzw. der Seelenheilkunde), gesagt werden muss. Ein Fach, das daran ist, den Menschen, seine Sorgen und Ängste, seine Seele als wichtigstes Ziel seines Interesses zu vergessen, zu verlieren, zu übersehen.
Die Psychiatriekritik ist seit längerer Zeit immer leiser geworden, ja nahezu verstummt. Es ist der Psychiatrie in den letzten Jahren gelungen, ihr Image, das in den 1970er und 1980er Jahren doch schwer beschädigt war, ganz wesentlich zu verbessern. Den PsychiaterInnen1 kam dabei eine Entwicklung zu Hilfe, an der sie in keiner Weise beteiligt waren: Der grosse Fortschritt der Neurobiologie. Die Neurobiologie boomt, Staat und Industrie investieren Milliarden. In den Medien werden die Befunde der Hirnforschung zu Riesenerfolgen aufgebauscht. Neurobiologisches Denken ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Hirnforschung ist daran, sich zur neuen Gesellschaftslehre aufzuschwingen. In meinem letzten Artikel habe ich geschrieben, dass ein neue Mythologie entstanden sei – die Neuromythologie (vgl. Rufer 2006).
Und so sieht es aus – das neurobiologisch gestützte Weltbild der heutigen Psychiatrie:
„Alles, was wir fühlen, ist eben Chemie: seelenvoll in den Sonnenuntergang blicken, Liebe, Anziehung, was auch immer – alles sind biochemische Vorgänge, wir haben ein Labor im Kopf.“ (Woggon, 2000, S. 54)
Dies eine international angesehene Stimme aus der Schweizer Psychiatrie, diejenige von Professorin Woggon aus Zürich. Der Mensch ist ihrer Ansicht nach offensichtlich ein biologisches Objekt, gesteuert durch biochemische Prozesse: Die Maschine Mensch!
Das Tabu, das den ungetrübten und unvoreingenommenen Blick auf die Psychiatrie ohnehin bereits verhinderte, steht nun noch unverrückbarer da – als wäre es in Fels gemeisselt: „Wo man nicht weiter zu fragen wagt oder nicht einmal auf den Gedanken kommt, hat man es mit einem Tabu zu tun.“ (Mitscherlich 1977, S. 111) Das Tabu reguliert die Einstellung zu einem Sachverhalt wie eine Autorität, die keinen Widerspruch duldet. Das führt zu einer Denkhemmung, Erkenntnis wird verhindert.
Die Allgegenwart und der weitgehend unbestrittene Wahrheitsanspruch des neurobiologischen Denkens sind der eine Grund, dass die Psychiatriekritik verstummt, bzw. mehr denn je tabuisiert ist. Es gibt einen weiteren: Obwohl viele Menschen gegenüber der Psychiatrie ein Unbehagen verspüren, wagen die wenigsten, es zu äussern. PsychiaterInnen gelten als Respektspersonen. Es herrscht Unsicherheit und Angst, schliesslich ist potentiell jede und jeder in Gefahr, irgendwann als psychisch „krank“ diagnostiziert zu werden. Die PsychiaterInnen gelten als Experten, die den „Wahnsinn“ beziehungsweise die „Geisteskrankheiten“ sogar dann, wenn sie noch nicht ausgebrochen sind, diagnostizieren können.
Es gibt keine Wahrheiten
Meine Damen und Herren, es gibt keine Wahrheiten, davon bin ich überzeugt, und ich stehe mit dieser Ansicht keineswegs allein da.
Ich beziehe mich im Folgenden auf Autoren wie Michel Foucault, Ludwig Fleck und auch auf eine Denkrichtung, die als Konstruktivismus bezeichnet wird.
Wissen, auch wissenschaftliches Wissen, ist immer gesellschaftlich und historisch, das heisst durch wissenschaftsexterne Faktoren bestimmt. Jede soziale Gruppe ist in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingebunden. Der Forscher, der Künstler, der Mensch kann nicht anders denken, als so, wie es sich aus den Einflüssen der sozialen Umwelt mit Notwendigkeit ergibt. Sie beeinflusst die Forschergemeinde – ihre Fragestellungen, ihre Beobachtungen, ihre Resultate. Das auf diese Weise entstandene Wissen erscheint als selbstverständlich, evident und wird nicht mehr hinterfragt. Aufgebaut wird dabei gleichsam eine Harmonie der Täuschungen (vgl. Fleck, 1980, S. XXIII).
So werde auch ich ihnen heute selbstverständlich keine Wahrheiten erzählen – sondern meine Meinung, meine Konstrukt, meine Täuschung vielleicht. Ich möchte sie jedoch anregen, versuchsweise Sachverhalte aus einem anderen, einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten. Ich möchte Sie gleichsam auf einen psychiatriekritischen Spaziergang mitnehmen. Doch, was ich erzähle, ist mitnichten eine provokative Erfindung. Eigene Erfahrungen und Einschätzungen sind immer durch anerkannte Fachliteratur gestützt.
Wir sehen, was wir erwarten, das, was wir gelernt haben. Gegebenheiten, Merkmale, die im Erwartungshorizont des Beobachters nicht vorkommen, werden nicht wahrgenommen, Merkmale, die vom Beobachter erwartet werden, aber in Wirklichkeit nicht vorhanden sind, werden „halluziniert“ bzw. eben trotzdem gesehen. Diese Feststellung machte u.a. der bekannte Kunsthistoriker Ernst Gombrich. Und da sind wir mitten in der Diskussion um den Segen oder Schaden der Psychiatrie. PsychiaterInnen sehen bzw. diagnostizieren genau das, was sie zuvor selbst als „Krankheits“-Bilder definiert haben. Sie sind in einem Zirkelschluss gefangen. Und sie handeln auf Grund dessen, was sie wahrnehmen, immer wieder auf dieselbe angelernte Art und Weise.
Wahrheit und Irrtum bilden keinen Gegensatz; von wahrem oder falschem Wissen sollte nicht gesprochen werden. „Wenn die Wahrheit und der Irrtum keinen Gegensatz bilden, dann kann die Wahrheit ein Synonym der Illusion, der Falle und des Betrugs sein oder werden.“ (Ewald, 1978, S. 17) Wahrheit wird nicht gefunden, sie wird produziert, hergestellt. Wahrnehmung und das auf sie basierende Wissen ist Konstruktion und Interpretation. Wenn wir wahrnehmen, konstruieren wir laufend Sinn. Was wir wahrnehmen, hängt davon ab, wie wir es erklären. Und wie wir es erklären, wird nur zu oft von unseren Bewertungen bestimmt. Wir haben die Tendenz, nur das wahrzunehmen, was wir auch erklären können (bzw. meinen, erklären zu können).
Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, Dinge, Sachverhalte, Zusammenhänge zu sehen, zu beurteilen. Dass sich die eine schliesslich durchsetzen kann, hängt vor allem vom gesellschaftlichen, dem politischen Gewicht derjenigen, die sie hergestellt haben, ab. Wahrheit, Wissen dient einem Zweck, Wahrheit ist Macht, Wissen ist Macht.
Die Psychiatrie profitiert von den „Erfolgen“ der Neurobiologie
Nicht vergessen werden darf, dass das, was heute als Selbstverständlichkeit, als Wahrheit akzeptiert wird, in beträchtlichem Ausmass von den Massenmedien bestimmt wird. Der erwähnte Boom der Neurobiologie bzw. der Hirnforschung, wird äusserst wirkungsvoll von den Medien begleitet: Da hat sich gewissermassen ein „Dreamteam“ gefunden. Je sensationeller eine Entdeckung ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass darüber berichtet wird. Insofern gibt es eine Versuchung für Forschende, gewisse Erkenntnisse aufzubauschen. Gleichzeitig tendieren die Medien selbst dazu, Informationen zuzuspitzen. Diese beiden Effekte verstärken sich gegenseitig. So sind denn die Visualisierungen der Neurobiologen, die sogenannten bildgebenden Verfahren (Neuroimaging) zu neuen ikonischen Götzen geworden.
Es ist kein Zufall, dass es Bilder sind, die diesen Boom ausgelöst haben. „Das Medium ist die Botschaft“ (Marshall McLuhan). Die Wirkung dieser Bilder ist gewaltig. Es wird gesagt, man könne nun dem Geist bei der Arbeit zuschauen. Es hat gleichsam eine Überschreitung der Medialität hin zu einem Realitätserlebnis stattgefunden. Oder anders gesagt: Medium bzw. Bild und Wirklichkeit werden verwechselt: Dabei handelt es sich keineswegs um Abbildungen, die vergleichbar sind mit Fotografien oder Röntgenbilder. Sie kommen aufgrund von Computerprogrammen und interpretierten Messungen von Signalen zustande: Als Bilder dargestellte und eingefärbte Interpretationen von Messdaten – mehr nicht. Bestenfalls können Zentren oder Stellen im Gehirn bestimmt werden, die zu einem bestimmten Moment aktiv sind. Das ist alles. Dies ist, so die Feststellung von renomierten NeurowissenschaftlerInnen in ihrem Manifest aus dem Jahre 2004 (Monyer, 2004), „keine Erklärung im eigentlichen Sinne“. Und dann schreiben sie den sehr ehrlichen Satz: „Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet.“ (ebd.)
Doch diese Einwände zählen für die wissenschaftlich ausgerichteten PsychiaterInnen nicht. Für sie war die Entwicklung der bildgebenden Verfahren ein Glücksfall. Interessanterweise waren sie selbst der Meinung, dass ihrem Fach die wissenschaftliche Grundlage fehle. Dafür gibt es deutliche Hinweise, beispielsweise die folgende Aussage der bekannten Nancy Andreasen, Herausgeberin des angesehenen American Journal of Psychiatry: „Nach ungefähr einem Jahrzehnt der Frustration fühlte ich mich wie ein Kind im Bonbonladen. Wo andere Menschen ‚Bilder vom Gehirn‘ sahen, erblickte ich quantitative Sonden, mit denen man in die Köpfe lebender Menschen hineingelangen und Messungen durchführen konnte.“ (Andreasen, 2002, S. 158, Herv. orig.)
Der Wirbel um die Neurobiologie hat die Möglichkeit, heute der Psychiatrie gegenüber einen kritischen Standpunkt entgegenzustellen, gleichsam weggepustet. Wenn – wie das heute mehr und mehr der Fall ist – das menschliche Bewusstsein, Gefühle, der vorhandene oder nicht vorhandene freie Wille neurobiologisch verstanden werden, wenn das psychoanalytische Gedankengebäude, ja die Philosophie und sogar der Glaube an Gott stehen und fallen mit dem Urteil der Neurobiologen, dann ist es kaum mehr erstaunlich, dass über die biologischen Grundlagen der psychischen Krankheiten und Sinn oder Unsinn der Psychopharmakotherapie nicht mehr diskutiert wird. Die Theorien und Modelle der biologischen Psychiatrie erscheinen nun als evident, sie werden nicht in Frage gestellt, auf ihnen wird aufgebaut, sie dienen als Grundlage für weitergehende Forschung. Die von Nancy Andreasen bereits 1990 festgestellte „revolutionäre Wende der Psychiatrie“ hin zu einer Ausrichtung auf die biologische Tradition der Medizin (Andreasen 1990, S. 12) kann damit als abgeschlossen bezeichnet werden.
Die neurobiologischen „Wahrheiten“ bestimmen das Denken des einzelnen Menschen
Doch die angesprochene „revolutionäre Wende“ bestimmt nicht nur das Denken der PsychiaterInnen, nein, ihr Impetus hat sich bis in die breite Bevölkerung fortgepflanzt. So gibt es denn heute beispielsweise kaum jemanden, der nicht davon gehört hat, dass die Balance der Neurotransmitter bestimmt, wie es uns geht, ob wir gesund sind oder „psychisch krank“. Damit verbunden ist die weitverbreitete Überzeugung, dass psychische Probleme, ja sogar leichte Beeinträchtigungen der psychischen Befindlichkeit mit Psychopharmaka behandelt werden müssen.
Angst begleitet die heutigen Menschen auf ihrem Lebens- und Berufsweg. Es gibt keine gesicherten beruflichen Karrieren mehr. Nur noch kurzfristige Arbeitsverhältnisse werden angeboten. Flexibilität und Mobilität sind gefordert. Berufliches Scheitern droht nicht mehr ausschliesslich den Unterprivilegierten sondern auch der Mittelschicht. Das verhindert eine gefestigte Identität. Der Verlust von Arbeit führt nicht nur zu finanziellen Schwierigkeiten, sondern geht oft auch mit einem Rollen- und Prestigeverlust einher, was natürlicherweise die psychische Befindlichkeit verschlechtert und die Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Doch nicht nur das: Schon nur die Angst vor Arbeitsverlust führt verständlicherweise zu einer Abnahme der Lebensqualität und des Wohlbefindens. Viele Menschen fühlen sich heute schlecht, entmutigt, hoffnungslos.
Psychisches Leiden wird heute als beschämend, als verwerflich erlebt. Als Norm gilt seit dem Beginn der 1990er Jahre der erfolgreiche, selbstsichere, gesunde, das Leben geniessende Mensch. Jung, schön und erfolgreich hat Frau oder Mann zu sein, nicht depressiv. Von aussen gesehen sieht es so aus, als würde einige diese Vorgaben erfüllen. Dabei verwirklicht kaum jemand diese „Ideale“. Die heutigen Menschen bewerten und kontrollieren sich selbst, verstehen sich bereits beim geringsten Anlass als „psychisch krank“ und erachten ihr Elend als selbstverschuldet. Sie denken nicht an die notwendige Veränderung der gesellschaftlichen Situation, sondern nur an eine Behandlung mit Psychopharmaka, die ihnen dazu verhilft, wieder „normal“ zu werden. Die breite Akzeptanz des neurobiologischen Wissens hat also durchaus gesellschaftliche Folgen, sie ist Teil der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit. (Erdheim, 1982)
Der Krankheitsbegriff und die Psychiatrie
Doch gehen wir etwas systematischer vor. Zwei Bereiche sind es, mit denen die Psychiatrie mit ihren Konzepten und Theorien das heutige Denken und gleichzeitig den Alltag bestimmt: Die psychiatrische Diagnostik und die auf sie gründende Behandlung derjenigen, die diagnostiziert wurden, mit Psychopharmaka.
Die psychiatrische Diagnostik und die Psychopharmakotherapie sind eng miteinander verbunden.
Psychopharmaka – was sind eigentlich Psychopharmaka, wozu dienen sie?
Pharmaka für die Psyche. Was also sind Pharmaka (bzw. Medikamente)? Biologisch aktive Substanzen, die Krankheitserscheinungen beseitigen, lindern oder verhüten. Psychopharmaka sind demgemäss biologisch aktive Medikamente, die Krankheitserscheinungen der Psyche beseitigen, lindern oder verhüten sollten. Es stellt sich somit eine wichtige Frage: Gibt es das – Krankheiten der Psyche? Sind Menschen, die stören, die psychisch leiden, krank? Sind diese psychischen Zustände, diese Verhaltensweisen gleichzusetzen oder vergleichbar mit Erkrankungen des Körpers?
Sicher ist, dass der Krankheitsbegriff die Psychiatrie ganz wesentlich bestimmt: Es besteht eine Abhängigkeit zwischen ÄrztIn, PatientIn und Krankheits-Begriff. Es wird vom therapeutischen Dreieck gesprochen. Der Krankheitsbegriff bestimmt die Beziehung zwischen den PsychiaterInnen und ihren PatientInnen. Und die Form und der Verlauf dieser Beziehung bestätigen wiederum den Krankheits-Begriff. Die Beziehung zwischen PsychiaterIn und PatientIn reproduziert täglich die ihr entsprechenden Krankheitsvorstellungen und damit die dazugehörigen Symptome. Davon wiederum wird die Legitimation dieser Beziehung abgeleitet (vgl. Erdheim, 1988, S. 68).
Schauen wir die psychiatrische Diagnostik etwas genauer an:
Begriffe wie „Schizophrenie“, „Depression“, „Manie“ sind aus dem allgemeinen Wortschatz nicht mehr wegzudenken, sie sind gleichsam mit magischer Kraft aufgeladen. Diagnosen, insbesondere die „Schizophrenie“ sind zu Schlagworten geworden. Doch die magische Kraft des Schlagwortes übt seine Wirkung nicht nur auf Laien aus, sie reicht bis in die Tiefe spezialisierter Forschung, auch hochkarätige Wissenschaftler sind ihm unterworfen. Die Bedeutung derartiger Worte wird nicht mehr logisch geprüft, sie schaffen sich Freunde oder Feinde, sie werden geglaubt oder verworfen.
Heute sind die psychiatrischen Diagnosen – festgehalten in den beiden bedeutenden psychiatrischen Klassifikationssystemen, ICD-10, dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und DSM-IV, demjenigen der Vereinigung der US-amerikanischen PsychiaterInnen – die wichtigsten Instrumente für die Erstellung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und deren Kontrolle. Ihre grosse Bedeutung für die Psychiatrie wird dadurch illustriert, dass sie im Innern der Institution gelegentlich „Bibeln“ genannt werden. Dass sie sich durchsetzen konnten, hat wenig mit ihrer wissenschaftlichen Ausgewiesenheit zu tun; vielmehr handelt es sich um einen sozialen, einen ökonomischen und politischen Vorgang.
Die Charakterisierung von bestimmten Zuständen und Verhaltensweisen als „krank“ oder „abnorm“ ist eine soziale und moralische Definition, die Handlungsbedarf signalisiert und Interventionen initiieren und legitimieren soll – nötigenfalls gegen den Willen der Betroffenen. Die beiden psychiatrischen Klassifikationssysteme dienen einem Zweck, bilden die Grundlage für die praktisch unumgängliche Verabreichung von Psychopharmaka. Das zeigt sich u.a. auch darin, dass beispielsweise mehr als der Hälfte aller Autoren des DSM Interessenkonflikte nachgewiesen wurden, das heisst, sie hatten finanzielle Verbindungen mit der Pharmaindustrie.2
ICD und DSM können gleichsam als Standardisierung des diagnostischen Blicks verstanden werden. Die PsychiaterInnen lernen symptomorientiert wahrzunehmen, zu denken. Die diagnostischen Konstrukte werden in ihrer Wahrnehmung zur „Wahrheit“.
Die auf bestimmte, objektiv festzustellende Symptome fokussierte Diagnostik der beiden Klassifikationssysteme übersieht, dass das zentrale Kriterium für das Diagnostizieren einer Krankheit das subjektiv schlechte Befinden und das individuelle Gefühl der Hilfsbedürftigkeit sein müsste. Es wird über den Kopf der Betroffenen hinweg entschieden, ob ihr psychischer Zustand „änderungsbedürftig“ ist.
Interessanterweise nun besteht unter Fachleuten Einigkeit darüber, dass in der Psychiatrie im Grunde gar nicht von „Krankheiten“ gesprochen werden dürfte: „Von einer Krankheit spricht man erst dann, wenn Ursache, Symptomatik, Verlauf, Prognose und Therapie eines Störbildes bekannt und vereinheitlicht sind oder ein diesbezügliches Konzept vorliegt. Deswegen wurde in der ICD-10 der Begriff der Störung eingeführt, der sich von Begriff der Krankheit abheben soll.“ (Paulitsch 2004, S. 34, Herv. orig.). Und sogar in der Einleitung der ICD-10 selbst wird dies ausdrücklich festgehalten: „Der Begriff ‚Störung‘ (engl. disorder) wird in der gesamten Klassifikation verwendet, um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ‚Krankheit‘ oder ‚Erkrankung‘ weitgehend zu vermeiden.“ (Dilling, 2005, S. 22) Auch im DSM-IV wird durchgängig der Begriff Störung verwendet – es nennt sich ja auch entsprechend: „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen“. Die beiden grossen psychiatrischen Klassifikationssysteme haben den Krankheitsbegriff eliminiert. Sogar die Autoren von ICD-10 und DSM-IV sind sich einig, dass das gesicherte Wissen dürftig ist, und zwar derart, dass im Bereich der Psychiatrie der Begriff „Krankheit“ nicht verwendet werden dürfte. Schon nur diese Feststellung stellt die Zuständigkeit der Medizin für die Behandlung von „psychischen Störungen“ grundsätzlich in Frage.
Psychiatrische Diagnosen werden immer wieder als Konstrukte, als soziale Konstrukte, bezeichnet. In der Zeitschrift Psychiatrische Praxis spricht Tilman Steinert von der Schizophrenie, der bekanntesten und wichtigsten Diagnose, die die Psychiatrie kennt, als „fiktiver, abstrahierter Idee einer Krankheit“. (Steinert, 1998, S. 3) Psychiatrische Diagnosen werden zudem Konventionen, Konzepte, Sehmuster, Setzungen oder Vorstellungen genannt. Wie zur Bestätigung des offensichtlichen Unwissens im Bereiche der Psychiatrie schreibt der Sozialpsychiater Asmus Finzen: „Schizophrenie ist eine unverstandene psychische Störung.“ (1993, S. 9) Und Daniel Hell kommt in seinem Artikel „Gibt es die Schizophrenie?“ zum Schluss, „dass es die schizophrene Erkrankung so nicht gibt.“ (1998, S. 51, Herv. orig.)
Noch weiter geht die bekannte englische Psychologieprofessorin Mary Boyle: Ihr Buch über die Schizophrenie trägt den Titel „Schizophrenia. A Scientific delusion?“ (Boyle, 2002) (Der Begriff „delusion“ bedeutet auf deutsch: Irreführung, Täuschung, Wahn, Wahnvorstellung.)
Kaum etwas wissen die PsychiaterInnen also über das „Rätsel Schizophrenie“ – so der Titel des Buches von Heinz Häfner (2000) – und dennoch machen sie dramatisierende Aussagen über ihr „Lieblingskonstrukt“: So schreibt Nancy Andreasen: „Die Schizophrenie ist vermutlich die grausamste und verheerendste der verschiedenen psychischen Erkrankungen“ (2002, S. 234). Und Wulf Rössler, Psychiatrieprofessor in Zürich, sagt im Schweizer Fernsehen über die „Schizophrenie“: „Es ist eine ganz schwere, seelische Erkrankung, die über die Krankheit hinaus für die Betroffenen ganz dramatische Auswirkungen hat.“ (Rössler, 2001)
Andreasen und Rössler müssten sich überlegen, wie sich ihre Aussagen auf die Betroffenen auswirken. Als sich selbst erfüllende Prophezeiung beeinflussen derartige Äusserungen und Überzeugungen ganz wesentlich Lebenssitution und Lebensverlauf von Menschen, die als „schizophren“ diagnostiziert wurden.
Die Angst vor dem Fremden und Unverständlichen
Ich möchte nun noch etwas ausführlicher besprechen, was diese Konzentration der heutigen Psychiatrie auf Symptome, Diagnosen und die Behandlung mit Psychopharmaka bedeutet, was damit verpasst wird und was neben den Interessen der Pharmaindustrie letztlich die tieferen Gründe dafür sind, dass die Psychiatrie so funktioniert.
Selbstverständlich kann so keine gleichwertige Beziehung zwischen ÄrztIn und PatientIn entstehen. Vergessen wird dabei, dass nur dasjenige Wissen, das von der Vertrauensbeziehung zwischen zwei Menschen getragen wird, Bewusstheit – das Ziel jeder sinnvollen Psychotherapie – zu schaffen vermag.
Doch schauen wir die Sache etwas genauer an und beginnen mit zwei Zitaten aus dem Jahr 1979. Das erste findet sich in der 14. Auflage des sehr bekannten Lehrbuchs der Psychiatrie von Eugen Bleuler, das von seinem Sohn Manfred wiederholt neubearbeitet wurde:
„Er [der Begriff der Geisteskrankheit, mr] ist an der persönlichen Erfahrung des gesunden Menschen mit sich selbst und mit seinen gesunden Mitmenschen gebildet. Wen man von dieser Erfahrung aus nicht mehr begreifen, nicht mehr dem eigenen Wesen verwandt empfinden kann, empfindet man als ‚fremd‘ (alienus), als aus dem Bereich der menschlichen Gemeinschaft entrückt und in anderen Bereichen festgerückt (‚verrückt‘) als geisteskrank oder psychotisch.“ (Bleuler, 1979, S. 117)
Und von Hans Binder, ebenfalls 1979:
„[…] also nur normale Menschen können einander psychologisch völlig verstehen, sich restlos ineinander einleben und einfühlen.“ (Binder, 1979, S. 487)
Bleuler und Binder waren Chefärzte der beiden grossen psychiatrischen Kliniken im Kanton Zürich, der psychiatrischen Universitätsklinik, Burghölzli, und der kantonalen Klinik Rheinau.
Es gibt also Menschen, die wir nach Ansicht von führenden Psychiatern nicht verstehen können, oder besser, deren Verhalten aus unserer, der „Gesunden“ Sicht, unverständlich ist. Dieses Verhalten, diese Menschen würden wir als fremd empfinden: „Alienus“, ein interessantes Wort aus dem Lateinischen, bedeutet fremd, fremdartig, feindselig.
Fremd und geistesgestört, verrückt, diese Begriffe haben ganz offensichtlich viel miteinander zu tun.
Im frühen Christentum wurden Nichtchristen als alieni bezeichnet.
Im Englischen bedeutet das Adjektiv alien fremd, fremdartig, fremdländisch, nicht angemessen, ausserirdisch; das Substantiv alien der Ausländer, der Fremde, der Ausserirdische und ausserirdisches Wesen, aleinist Psychiater und alienism Geisteskrankheit.
Im Französischen meint das Adjektiv aliéné geisteskrank, geistesgestört, das Substantiv aliéné der Geistesgestörte, der Geisteskranke, das Substantiv aliénation Entfremdung, Übertragung, Umnachtung, Verfremdung und maison d’aliénes Irrenanstalt.
So ist denn viel Ähnlichkeit in unserem Verhalten, unserer Reaktion auf „Irre“ und Fremde zu beobachten. Ich habe mich damit in meinem Artikel „Ethnischer und Psychiatrischer Rassismus im Vergleich“, der in meinem Buch Wer ist irr? (Rufer, 1991) erschienen ist, auseinandergesetzt.
Traurige Tatsache, die diesen Zusammenhang bestätigt: Dem Genozid an den Juden ging im NS-Staat die Ermordung von Insassen der psychiatrischen Anstalten und weiteren Institutionen voraus. Insgesamt wurden weit über 200’000 Geisteskranke, Asoziale und Aussenseiter, umgebracht. Nur ein Staat, der bereits seine eigenen „minderwertigen“ Elemente ausgemerzt hatte, konnte sich offensichtlich das Ziel setzen, eine ganze fremde, als minderwertig betrachtete Rasse zu vernichten.
Was anders ist, was wir nicht kennen, nicht verstehen, wirkt fremd bzw. „irr“ auf uns. Doch das Fremde ist für uns nicht nur das Andersartige, Ungewöhnliche und Unvertraute, oft ist es auch das Unbeherrschbare.
Das Bild dessen, was fremd ist, entsteht sehr früh in der Kindheit, fast gleichzeitig mit dem Bild dessen, was einem am vertrautesten ist, mit dem Bild der Mutter. Das Fremde ist vorerst einmal die Nicht-Mutter, und die bedrohliche Abwesenheit der Mutter lässt Angst aufkommen. Angst wird auch später mehr oder weniger mit dem Fremden assoziert bleiben, und es bedarf immer einer Überwindung der Angst, um sich dem Fremden zuzuwenden.
Alles, was an Eltern, Geschwistern und einem selbst bedrohlich ist oder war, sammelt sich allmählich im Bild des Fremden. Es entwickelt sich im Laufe der Zeit gleichsam zu einem „Monsterkabinett des verpönten Eigenen“. (vgl. Erdheim, 1993, S. 167) Nicht das Fremde oder „Irre“ an sich ist gefährlich, die Angst ist vielmehr das Ergebnis einer durch die Begegnung mit Fremden ausgelösten Regression. Regression und Angst sind eng miteinander verbunden. In der Regression sind wie im Traum oder beim Weinen bestimmte Kontrollmechanismen ausser Kraft gesetzt; gleichzeitig sind frühkindliche Erlebnisweisen, Affekte und Erinnerungen wiederbelebt. Regressionserscheinungen sind immer mit partiellem Realitätsverlust, Orientierungslosigkeit und Wahrnehmungsverzerrungen verbunden. (vgl. Rohr, 1993, S. 140)
Nun sind regressive Zustände jedoch eine alltägliche Erscheinung. Verliebtheit beispielsweise ist ohne regressive Prozesse nicht denkbar. Die Regression kann also durchaus als angenehm erlebt werden. Sie steigert jedoch auch unsere Verletzlichkeit und Verwundbarkeit. Dies ist besonders dann der Fall, wenn wir mit Menschen, deren Verhalten unverständlich erscheint, in Kontakt kommen. Unverarbeitete, eventuell schmerzhafte Anteile der eigenen Lebensgeschichte lösen diese Emotionen aus. Die Auseinandersetzung mit dem Unverständlichen – so wir sie denn zulassen – führt zu Konflikten, die mit der eigenen Identität verbunden sind.
Auch eine Störung der Wahrnehmung ist Teil der Regression und damit auch der Fremdwahrnehmung. Das heisst also: Die Begegnung mit Betroffenen in der Psychiatrie, bewirkt, insofern wir sie nicht verstehen und wir uns dem näheren Kontakt mit ihnen nicht entziehen können, praktisch zwingend eine Veränderung, eine Einschränkung, eine Verzerrung unserer Wahrnehmung der Realität, was die Reaktionsspielräume erheblich einschränkt.
Gründe also dafür, dass der Kontakt mit Menschen, die wir nicht verstehen können, Angst und Unsicherheit auslösen kann. Doch da gibt es eben auch noch etwas anderes. Die mit der Regression verbundenen Emotionen und Gefühle können nicht nur höchst unangenehm, sondern eben auch schön, angenehm, bereichernd und verführerisch sein. So ist denn unser Verhältnis zum Fremden immer ambivalent: Wir haben Angst davor und zugleich vermag es uns auch zu faszinieren. Denn wer genauer hinzuschauen wagt, kann erkennen, dass es gar nicht so schlimm zu sein braucht, dieses „Monsterkabinett des verpönten Eigenen“. Es repräsentiert unter anderem gleichsam die Wildheit eigener, unbewusster Wünsche und ungelebter Sehnsüchte. Jedenfalls ist das, was wir auf das Fremde projizieren, immer etwas Wesentliches, etwas, das wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, etwas, das wir zu Recht oder zu Unrecht nicht zu leben wagen. Somit bedeutet der Kontakt mir dem Fremden eben auch eine Chance, die Chance wahrzunehmen, was man bis jetzt nicht wahrzunehmen gewagt hat.
Gehen wir einen echten Kontakt mit Menschen ein, die wir nicht verstehen, die uns vorerst einmal verwirren, müssen wir erkennen, und das ist das meines Erachtens das Wichtigste, dass die „Irren“ sich kaum von uns psychisch „Gesunden“ unterscheiden. So findet sich denn auch zu Beginn des Klappentextes meines Buches Wer ist irr? genau auf diese Frage – „Wer ist irr?“ – die Antwort: „Niemand! Alle!“ (Rufer, 1991)
Das Verstehen des Anderen tastet sich an Punkten entlang, die ich von mir selbst kenne oder neu kennenlerne. Was ich von mir selbst kenne, ist dabei ebenso bedeutsam, wie die Bereitschaft, sich „befremden“ zu lassen, d.h. wahrzunehmen, was ich von mir selbst nicht oder noch nicht kenne. Nur, dass ich immer wieder auf Bekanntes stosse, gestattet mir, die Brücke zum Fremden zu schlagen. Aus dieser Sicht ist, ganz anders als es die Psychiatrie vertritt, eine – wenn auch vorsichtige – Identifizierung mit dem Gegenüber sinnvoll.
Das Verstehen des Fremdseelischen führt zur Aufweichung des allzu kompakten eigenen Ichs. In gewissem Sinne ist es die Angst vor dem Verlust der Ich-Grenzen, die uns zögern lässt, diesen Weg zu gehen.
Besonders gefordert sind wir, wenn keine verbale Auseinandersetzung mit den Betroffenen möglich ist, wenn wir in unserer Rolle, beispielsweise derjenigen der PsychiaterIn, von unserem Gegenüber nicht akzeptiert werden. Es entsteht eine Rollenanomie, eine Situation, die nicht, wie wir das gewohnt sind, klar definierten Regeln folgt. Die Interaktion wird unberechenbar, das uns bekannte Handlungs- oder Verhaltensrepertoire hat seine Wirkung, seine Gültigkeit verloren. Identitätsstützen kommen ins Wanken. Gewohnte Verhaltens- und Abwehrmuster sind in dieser Situation unbrauchbar. Eine Identitätskrise kann die Folge dieses Kontaktes mit Menschen sein, die wir weder verstehen, noch ihr Verhalten zu steuern vermögen.
Das Problem sind also nicht die Betroffenen, die PatientInnen, sondern das, was sie in uns auslösen, bzw. die Gefühle, die durch den Kontakt mit ihnen ausgelöst werden könnten: Es droht Orientierungslosigkeit und damit verbunden Kontrollverlust.
Es ist nicht einfach, stellt höchste Anforderungen, sinnvoll und therapeutisch klug auf Menschen einzugehen, die ein wirres, unverständliches Verhalten zeigen. Ihre Autorität, ihr Prestige hilft den PsychiaterInnen dabei in keiner Weise. Als Autorität, identifiziert mit der Rolle der allwissenden PsychiaterIn aufzutreten, ist in dieser Situation keineswegs sinnvoll. Ein wichtiger Schritt besteht darin, die Betroffenen, trotz aller Fremdheit, als auf irgendeine Weise mit uns selbst verwandt zu erkennen, zu erkennen, dass auch wir, wie alle andern Menschen, unter vergleichbaren Bedingungen in einen vergleichbaren Zustand fallen könnten. Dies beispielsweise, wenn wir von der PartnerIn verlassen werden, wenn grosse berufliche Ziele verpasst werden oder Arbeitslosigkeit droht. Der Mensch ist im Grunde ein einfaches Wesen, es sind immer dieselben Probleme, Themenbereiche, die uns quälen, die psychisch „Gesunden“ wie auch die „Kranken“.
Kein einfacher Weg also, keine leichte Aufgabe, sich verwirrten bzw. „akut psychotischen“ Menschen offen und vorurteilslos zu stellen. Es ist wichtig, dass diejenigen, die das tun, nicht allein sind, dass sie getragen, unterstützt und beraten werden von Gleichgesinnten.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass in wichtigen Projekten, die zeigen, dass auch anders als auf dem üblichen, dem schulpsychiatrischen Weg mit Betroffenen umgegangen werden kann – das Projekt Soteria von Lauren Mosher und das vergleichbare Diabasis-Projekt von John Perry, beide in Kalifornien, das Windhorse Projekt von Edward Podvoll – sich ausschliesslich oder fast ausschliesslich Laien (insbesondere Nicht-ÄrztInnen) um die Betroffenen kümmern. Offensichtlich kann das psychiatrische, das psychopathologische Wissen und die Identifikation mit der Rolle der PsychiaterIn sich ungünstig auf Zustand und Prognose der Betroffenen auswirken.
Keine leichte Wahl: Lassen wir uns ein auf das Fremde, so müssen wir uns zwingend auf uns selbst besinnen, uns bisher unbekannte Seiten unseres Wesens kennenlernen, gewohnte Rollenidentifikationen in Frage stellen und korrigieren. Gehorchen wir der Angst, so werden wir unsere Grenzen verstärken und befestigen. Das Fremde wird dann gleichsam zum Feind, dessen Gegenwart uns ängstlich und starr macht. Die Fremden und „Verrückten“ werden dabei zur Projektionsfläche. Wir können sie auch dann beispielsweise als unzuverlässig oder aggressiv erleben, wenn dies objektiv betrachtet in keiner Weise zutrifft. Es sind unsere eigenen projizierten Aggressionen, die wir dabei als Eigenschaft der Fremden und „Irren“ wahrnehmen: Das, wovor man Angst hat, wird leider nur allzu leicht zum Bösen, vor dem man, solange man schwach ist, flieht, das man aber später, sobald man sich stark fühlt, bekämpfen muss.
Dies ist meines Erachtens der Grund, wieso PsychiaterInnen ihre Schützlinge seit jeher bisweilen mit grosser Härte behandeln. Ich muss betonen, dass diese Härte keineswegs eine alte Geschichte ist, die sich ausschliesslich in den dunkeln Vorzeiten der Psychiatrie abspielte. Bis heute sind Zwangsmassnahmen, Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen – neben dem Patientensuizid – das grosse Problem der Psychiatrie. Das geht so weit, dass PsychiaterInnen, die – sei es im Namen der Freiheit, sei es im Namen der Rechte der Betroffenen oder der Menschlichkeit – nicht bereit sind, Zwangsbehandlung vorzunehmen, in der heutigen klinischen Psychiatrie untragbar sind.
Rituale
In schwierigen unübersichtlichen Situationen, so eben auch im Kontakt mit dem Unverständlichen und Fremden, können Rituale und Zeremonien den beteiligten Menschen Halt geben.
Rituale wirken angenehm, vereinfachend und entlastend. Zugleich blockieren sie aber das selbständige Denken und stehen meist im Dienst der Unbewusstmachung von Problemen und Veränderungsmöglichkeiten. Rituale sind Handlungsanweisungen, die automatisch ausgeführt werden, sie lassen die Welt überschaubarer erscheinen. Das Ritual erscheint als sinnvoll, sein Sinn soll nicht hinterfragt werden (vgl. Erdheim 1998, S. 36). Diejenigen Bereiche der Kultur bzw. der Gesellschaft, die vor einem Wandel geschützt werden sollen, werden daher rituell durchreglementiert und können sich so ausserordentlich stabil erhalten.
Übergangsriten leiten von einem Lebensabschnitt zum anderen über. Beispielsweise der Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Aber auch Taufe und Hochzeit haben rituellen Charakter. Diese Rituale gehören im Grunde zu sogenannt primitiven Kulturen; doch auch bei uns werden beispielsweiswe Hochzeiten und Taufen bis heute als Rituale gefeiert.
Psychiatrische Diagnosen bzw. das Stellen von psychiatrischen Diagnosen ist ein Vorgang, der rituellen Charakter hat – ein Übergangsritual. Nachdem das Ritual stattgefunden hat, ist, in der schwierigen, kurz zuvor noch unübersichtlichen Situation, allen alles klar. Niemand mehr braucht sich zu fürchten. Nun ist alles wieder im Lot, jetzt ist das Unverständliche mit einem Schlag verständlich geworden. Selbstverständlich, es handelt sich – beispielsweise – um eine „Schizophrenie“, ein biologisch ausgelöstes, ein vererbtes Geschehen. Nun ist die Bedrohung behoben, nun gibt es wieder Distanz zwischen der Betroffenen und der PsychiaterIn. Nun ist es klar, nun wissen es alle: Es gibt keine Ähnlichkeit – das Erleben, das Verhalten der Betroffenen sind anders, ihre Gene, ihre Biologie sind anders. Die „Eugenischen“, diejenigen mit dem guten, dem gesunden Erbe, können nicht „schizophren“ werden, dieses Schicksal kann nur diejenige ereilen, die erblich vorbelastet sind. Einfühlung ist damit kaum mehr möglich. Als die Menschen, die sie waren, sind die Betroffenen sozial gestorben, diese ihre Identität hat sich gleichsam in Luft aufgelöst. Der Mensch in seiner Einzigartigkeit mit seinem Entwicklungspotential geht verloren, wird ausgelöscht. Gleichzeitig entsteht er neu – es wird ihm eine neue, „kranke“ Identität zugeschrieben. Psychiatrische Diagnosen erweisen sich damit als soziale Rolle, die Identifikation mit diesen Rollen macht die betroffenen Menschen beispielsweise zu echten „Schizophrenen“, die sich letztlich dann auch so verhalten, wie das von ihnen erwartet wird. So stellt denn bereits das Stellen einer psychiatrischen Diagnose ein Ausüben von Macht dar: Eine psychiatrische Diagnose hat viel dramatischere Auswirkungen als die nüchterne Benennung der Problematik, die die Krise ausgelöst hat – beispielsweise Konflikte in der Partnerschaft oder Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
Klar ist auch, was danach geschehen wird: Es findet ein zweites Ritual statt. Es werden Psychopharmaka, Neuroleptika bzw. Antipsychotika verschrieben, verabreicht oder injiziert. Die Behandlung mit Psychopharmaka schafft zusätzliche Distanz. Sie macht die Hypothese, dass die Abweichung der Betroffenen biologisch verursacht ist, zu einer „Wahrheit“.
Die Biologie – Neurotransmitter, Moleküle, Gene – kann nicht verstanden werden, Einfühlung ist unmöglich. Sie ist Natur in ihrer unveränderlichen, erbarmungslosen, schicksalhaften Gestalt. Die behandelnden PsychiaterInnen werden durch diese beiden Rituale (die Diagnostik und die Verschreibung der Psychopharmaka) vom Innern der Betroffenen abgeschnitten. Das gilt leider auch für die Betroffenen selbst: Was sie erleben, was sie fühlen, wird uninteressant. Neurobiologische Zusammenhänge sind es nun, die interessieren, die den Betroffenen beigebracht werden. Diagnose und Behandlung geben ihnen keine Möglichkeit, sich selbst kennen zu lernen, zu verstehen – ihre Ängste, ihre Verunsicherung, ihre Verwirrung. Sie wissen jetzt, dass sie „krank“ sind, dass es sich um eine biologisch verursachte „Krankheit“, die vererbt wurde, handelt, dass sie von nun an jahrelang, lebenslang, auf Psychopharmaka angewiesen sind.
Die beschriebenen Ängste gehören zur Gesellschaft als Ganzes. Wir alle haben Angst, wir alle neigen dazu das „Monsterkabinett des verpönten Eigenen“ auf die Insassen unserer psychiatrischen Kliniken zu projizieren. Wir alle sind erleichtert, wenn das unverstandene Problem einen Namen erhalten hat – beispielsweise „Schizophrenie“ – und wenn die Behandlung mit Psychopharmaka, Neuroleptika angelaufen ist.
Doch kann es auf diese Weise keine Entwicklung geben. Die PsychiaterInnen bewegen sich in ihrem, ihnen als selbstverständlich erscheinenden, traditionellen Denkmodell bzw. Denkstil und sind sich nicht bewusst, dass sie immer nur finden, denken und anschliessend behandeln, was und wie das vorschriftsgemäss von ihnen erwartet wird.
Auf einige Bereiche der Psychiatrie möchte ich noch kurz eingehen.
Der therapeutische Nutzen sämtlicher Psychopharmaka ist nicht gesichert
Die umfassendsten und sorgfältigsten Untersuchungen über die therapeutische Wirkung von Psychopharmaka wurden mit Antidepressiva durchgeführt. Therapieresistenz ist das grosse Problem für diejenigen, die Antidepressiva verabreichen. Laut der Psychopharmakabefürworterin Brigitte Woggon ist die Erfolgsrate für das erstverordnete Antidepressivum bei schweren Depressionen bzw. bei hospitalisierten depressiven Patientinnen nur fünfzig Prozent (Pöldinger/Reimer 1993, S. 182; Woggon 1998, S. 35). Doch auch bei jeder zweiten stationär aufgenommenen depressiven Patientin, die ausschliesslich mit einem Placebo behandelt wurde, stellte sich innerhalb von zwei bis sechs Wochen eine deutliche Besserung ein (Zehentbauer 2006, S. 150). Es gibt sogar Studien, in denen sich annähernd 90 Prozent der mit einem Placebo behandelten Fälle besserten. Diese Befunde werden dadurch unterstrichen, dass auf Grund der Voreingenommenheit der PsychiaterInnen – in der Fachliteratur wird von „bias“ gesprochen – die geprüften Psychopharmaka im Vergleich mit Placebos tendenziell zu gut beurteilt werden (Fisher 1993, S. 347). Diese Voreingenommenheit kann sehr wohl placebokontrollierte Psychopharmakastudien verfälschen, da auf Grund der für die PsychiaterInnen und übrigens auch die Versuchspersonen leicht festzustellenden Nebenwirkungen der Psychopharmaka, sogar sogenannte Doppelblindversuche keineswegs wirklich blind sind. (Im Übrigen zeigen die stark variierenden Placeboeffekte, die in verschieden Studien gefunden werden, deutlich, wie wichtig bei jeder Behandlung der menschliche Faktor, die Atmosphäre, insbesondere die Arzt-Patient-Beziehung sind.)
So ist denn der therapeutische Nutzen der Antidepressiva nicht gesichert (ausführlich in Rufer 2004, 2001). Und diese Beurteilung gilt nicht nur für Antidepressiva, sondern für alle Psychopharmaka, das heisst auch für Neuroleptika, Tranquilizer und die sogenannten mood stablizer wie Lithium und Carbamazepin (Tegretol) (Fisher/Greenberg 1993, S. 348; 1989, S. 29). Die möglichen schädlichen, zum Teil sogar tödlichen Wirkungen der verschiedenen Psychopharmaka dagegen sind gesichert.
Das bedeutet gleichzeitig, dass Psychopharmaka keine spezifische Wirkung haben. Sie können bestenfalls Symptome unterdrücken oder wegdämpfen, sind jedoch in keiner Weise in der Lage, die Ursache der Störung auszuschalten. So sind die Wirkungen von Neuroleptika, u.a. Müdigkeit, Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und des Gedächtnisses, Dämpfung der Gefühlswahrnehmung bei als psychisch „gesund“ geltenden Versuchspersonen genauso zu beobachten wie bei denjenigen, die als „schizophren“ diagnostiziert wurden.
Dies sind wichtige Überlegungen, sind doch sämtliche Hypothesen über die neurobiologische Ursache der psychischen Störungen – insbesondere der „Schizophrenie“ und der „Depression“ – vom Wirkungsmechanismus der zu ihrer Behandlung eingesetzten Psychopharmaka, der Neuroleptika und der Antidepressiva, abgeleitet: Unspezifisch wirkende Substanzen und fiktive Störungen – das ist die Grundlage dieser hochkarätigen wissenschaftlichen Aussagen. Mit gutem Grund können diese Hypothesen somit als Phantasmen bezeichnet werden. Die immer wieder gehörte Aussage der Neurobiologen, dass in naher Zukunft selektiv wirkende Psychopharmaka zur gezielten Behandlung von psychischen Störungen entwickelt würden, wird damit sehr, sehr fragwürdig.
Alle, die sich um das Thema kümmern, wissen, dass psychotische Symptome sogar unbehandelt verschwinden können. Dies gilt sowohl für die Störungen, die als „Manien“ bezeichnet werden – da gehört es geradezu zur Definition der „Krankheit“ – wie auch für „Schizophrenien“. Und psychotherapeutisch ausgerichtete, psychopharmakafreie Behandlungskonzepte der „Schizophrenie“ sind einer Psychopharmkotherapie überlegen bzw. haben die bessere Prognose. Das konnte wiederholt gezeigt werden (Goldblatt, 1995, S. 325ff; Karon, 1989, S. 105ff; Mosher, 1985, S. 105ff; Perry, 1980, S. 193ff). Dasselbe gilt auch für die unipolare Depression (Steinbrueck, 1983, S. 856ff). Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass psychotische Zustände zu den Möglichkeiten normalen menschlichen Erlebens oder Reagierens gehören (vgl Bock 1999, S. 29, 346, Klappentext; Dittrich 1987, S. 35ff; Erdheim, 1982, S. 418/431; Rufer 1998, S. 531f; Kernberg 1978. S. 51f/76; Simoes, 1994, S. 103ff). Sie können als aussergewöhnliche Bewusstseinszustände oder als (psychotische) Regressionen verstanden werden. Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände (ABZ) bzw. veränderte Wachbewusstseinszustände (VWB) – klinisch nicht zu unterscheiden von der akuten paronoiden Schizophrenie – sind bei jedem Menschen u.a. durch Reizentzug (sensorische Deprivation), Fasten, Schlafentzug, Hyperventilation oder die Einnahme von Halluzinogenen auszulösen (vgl. Dittrich 1987, S. 35ff, Simoes 1994, S. 103ff). Die Pathologisierung dieser psychischen Zustände und die damit verbundene Behandlung mit Psychopharmaka erweist sich auch aus diesem Blickwinkel als das falsche, ja als destruktives Vorgehen.
Der Patientensuizid – ungelöstes Problem der Psychiatrie
Selbstgefährdung ist der häufigste Grund für Einweisungen in psychiatrische Anstalten. Zudem wird zur Begründung von zwangsweisen Hospitalisationen sehr oft Selbstgefährdung angegeben. Wer mit seiner Einweisung nicht einverstanden ist, der wehrt sich. Wer sich aber wehrt, der wird vorerst einmal mit Neuroleptika „beruhigt“. Zur Behandlung der Depression erhalten Menschen, die als selbstmordgefährdet gelten, praktisch immer Antidepressiva.3
Da PsychiaterInnen das Recht beanspruchen, Menschen wegen Selbstgefährdung zwangsweise zu hospitalisieren und zu behandeln, darf erwartet werden, dass sie mit ihren Therapien besonders erfolgreich sind. Doch das trifft in keiner Weise zu. Selbstmorde ihrer PatientInnen sind eines der ungelösten Probleme der Psychiatrie: Seit dem Beginn der 1950er Jahre haben die sogenannten Patientensuizide deutlich zugenommen, und dies weitaus stärker als die Zunahme der Suizide in der Gesamtbevölkerung (Reimer, 1986, S. 157; Ernst, 1979, S. 36; Finzen, 1988, S. 11/12).
Die Gründe, die zur steigenden Zahl der Patientensuizide führte, sind naheliegend: 1952 wurde Chlorpromazin (Largactil, Megaphen), das erste Neuroleptikum, 1958 Imipramin (Tofranil), das erste Antidepressivum, eingeführt. Seither werden Neuroleptika und Antidepressiva bei einer steigenden Zahl von PatientInnenen in immer höherer Dosierung eingesetzt. Beide Medikamentengruppen weisen als klar deklarierte Nebenwirkung Suizidalität auf. Bei den Neuroleptika wird in den Fachbüchern von der pharmakogenen Depression gesprochen, die mit einer Zunahme der Tendenz, Selbstmord zu begehen, verbunden ist. Die Akathisie – die mit einer unerträglichen inneren Spannung und Unruhe verbundene Bewegungsunruhe – ist bei den KonsumentInnen beider Psychopharmakagruppen zu beobachten. Sie kann so quälend werden, dass sie Suizidhandlungen auslöst – und dies wohlverstanden auch bei Menschen, die zuvor weder jemals suizidal gewesen sind noch Selbstmordversuche durchgeführt haben.
Dass insbesondere die hochgelobten neuen Antidepressiva, die sogenannten Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), die Suizidalität vergrössern können, war in der letzten Zeit sogar wiederholt in der Tagespresse nachzulesen.
Zudem darf nicht vergessen werden, dass die psychiatrische Hospitalisation auch auf rein psychischem Weg die Lebenssituation der davon Betroffenen verschlechtert. Ihre Zukunftsaussichten werden ganz wesentlich beeinträchtigt. Sie werden sowohl aus ihren privaten Beziehungen wie vom Arbeitsplatz weggerissen. Oft fühlen sie sich von ihren nächsten Angehörigen oder ArbeitskollegInnen, denjenigen also, die in einer Mehrzahl der Fälle die Einweisung eingeleitet oder unterstützt haben, verraten und verstossen. Ihre private und berufliche Situation hat sich wesentlich verschlechtert, Rollenidentifikationen zerfallen, es kann hier mit Recht von sozialem Sterben gesprochen werden (vgl. Erdheim 1988, S. 74, Rohr, 1993, S. 149).
Psychiatrische Hospitalisationen verbunden mit der Verschreibung von Psychopharmaka führen also keineswegs dazu, dass die Suizidgefahr verschwindet, vielmehr können diese Eingriffe die Tendenz, Selbstmord zu begehen, vergrössern.
Kein erfreuliches Fazit für die Psychiatrie. Doch denjenigen, die beruflich oder privat mit Menschen zu tun haben, die als suizidal eingeschätzt werden, sollten diese Informationen Mut machen – Mut, einen eigenen Weg zu gehen, Mut, in vielen Fällen auf Einweisung und Psychopharmakotherapie zu verzichten. Dies würde jedoch keineswegs bedeuten, dass sie den Selbstmord als Problem unterschätzen, nein, vielmehr, dass sie die Lebenssituation eines Menschen, der sich in einer schwierigen Krise befindet, nicht noch weiter belasten wollen.
Traumatisierung in der Psychiatrie
Letztlich löst immer die Ablehnung der Betroffenen, die verordneten Psychopharmaka zu schlucken, die Zwangsbehandlung aus. Für eine Zwangsbehandlung wird, wenn nötig, das sogenannte „Aufgebot“ herbeigerufen: Bis zu acht zu körperlicher Gewalt bereite Pfleger stehen einem oder einer einzelnen wehrlosen Betroffenen gegenüber. Vergleichbar Vergewaltigung, Folter und sexuellem Missbrauch ist dies eine traumatisierende Konfrontation (ausführlich in Rufer 2005). PsychiaterInnen bezeichnen die Folgen derartiger Erlebnisse als posttraumatische Belastungssstörung (PTBS).
Die Grunderfahrung dieser Traumatisierungen ist für die Betroffenen das radikale Macht-/Ohnmachtgefälle. Die traumatisierende Situation hat eine umfassende Reinfantilisierung des Opfers zur Folge, elementare Kindheitsängste werden wiederbelebt. Was hier stattfindet, wird als erzwungene Regression bezeichnet. Die Grenze zwischen Realität und Phantasie verschwimmt. Das traumatisierte Ich versucht, daran festzuhalten, dass die aktuelle Wahrnehmung der Realität nur ein böser Traum sei, aus dem es bald wieder erwachen werde (Ehlert , 1988, S. 505ff). In diesem Moment besteht für die Betroffenen die Gefahr, in einen Zustand der totalen Verwirrung zu fallen.
Das Trauma löst das Gefühl der existentiellen Hilflosigkeit aus. Wenn der letzte Widerstand des Opfers gebrochen ist, wird es gleichsam zum Objekt, mit dem der Täter nach Belieben verfahren kann. Die Regression hat in dieser Situation für das Opfer den Sinn, sich wieder in die Obhut von beschützenden Elternfiguren zu begeben, was mit Verschmelzungswünschen und Liebessehnsucht verbunden ist (Ehlert 1988, S. 509). Es bildet sich der Wunsch, gerade von demjenigen, der die Gewalt ausgeübt hat, Trost über das erfahrene Leid zu erhalten. Das Opfer versucht, so zu sein, wie es vom Täter erwartet wird, sein Selbstbild gleicht sich dem Fremdbild des Täters an. Betroffene in der Psychiatrie beginnen in dieser Situation daran zu glauben, wirklich psychisch „krank“ zu sein. Nur indem sie die Krankenrolle annehmen – mit anderen Worten – „krankheitseinsichtig“ sind, erlangen sie in gewissem Ausmass Zuwendung und Anerkennung von denjenigen, denen sie ausgeliefert sind.
Der Hauptabwehrmechanismus, mit dem das Ich versucht, die Traumatisierung zu bewältigen, ist die Abspaltung bzw. die Dissoziation. Die Ichspaltung kann sich später als „flashback“ manifestieren: Das Opfer sieht sich unvermittelt in die traumatische Situation zurückversetzt. Was oft zurückbleibt, ist ein Gefühl der Schuld wie auch die Tendenz, Selbstmord zu begehen.
Zu den beschriebenen psychischen Folgen der Traumatisierung kommen für PsychiatriepatientInnenen erschwerende Begleitumstände hinzu. Bereits im Vorfeld der Zwangseinweisung sind sie unter anderem durch Konflikte mit Angehörigen, ArbeitgeberInnen, LehrerInnen vorbelastet. Zudem sind sie den Wirkungen der Neuroleptika, die die intellektuelle Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, die Gefühlswahrnehmung unterdrücken und das Auftreten von deliranten Syndromen bzw. toxischen Delirien (Verwirrung, Desorientierung, Halluzinationen) sowie Depressionen und Suizidalität bewirken können, ausgesetzt. Die Fähigkeit, die Folgen der Traumatisierung zu verarbeiten, ist damit wesentlich beeinträchtigt. Dazu bräuchte es ein möglichst klares Bewusstsein und intakte Gefühle. Verhängnisvoll ist zudem die Isolation der Betroffenen nach der Zwangsbehandlung. Der damit verbundene Wegfall von Sinnesreizen (sensorische Deprivation) führt zum Auftreten von aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen (ABZ), zu deren Erscheinungsbild Wahrnehmungsverzerrungen und Halluzinationen gehören. Zudem bedeutet die Diagnose – insbesondere wenn sie zum ersten Mal gestellt wird – für die Betroffenen eine schwer zu verarbeitende Erfahrung. Psychiatrische Diagnosen, insbesondere die „Schizophrenie“, verändern auf einen Schlag das Selbstverständnis und damit die Identität der betroffenen Person.
Genau die Symptome, die PsychiaterInnen zu behandeln vorgeben – Verwirrung, Halluzinationen und Suizidalität sowie die Hilflosigkeit der Betroffenen – können durch ihre Eingriffe potenziert, chronifiziert, ja sogar erstmals produziert werden. Was hier stattfindet, ist ein typischer Circulus vitiosus (Zirkelschluss): Schliesslich bestätigen die Symptome, die in der Folge der Zwangsmassnahmen auftreten, den PsychiaterInnen die Diagnose, was die Ausübung der Gewalt rückwirkend legitimiert.
Die Psychiatrie kann also mit Michel Foucault als das Fach beschrieben werden, das die Symptome, die es behandeln will, im Grunde oft selbst produziert: Dies gilt vor allem für die beschriebenen Folgen der psychiatrischen Zwangsmassnahmen, das gilt für verschiedene Psychopharmakawirkungen,4 für die Folgen der Diagnostik und der damit verbundenen negativen Erwartungshaltung der Betreuer und der Angehörigen der Betroffenen.
Doch möchte ich gleich noch beifügen, dass, wenn ich hier immer wieder von den PsychiaterInnen spreche, ich ausschliesslich diejenigen meine, die sich entsprechend der hier diskutierten psychiatrischen Lehrmeinung verhalten. Es gibt selbstverständlich unter denjenigen, die in der Psychiatrie arbeiten (PsychiaterInnen, PsychologInnen, Schwestern, Pfleger, ErgotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen), nicht wenige, die sich anders zu verhalten versuchen, die sich nicht scheuen, einen echten, nicht durch Diagnose und Behandlungskonzept beeinträchtigten Kontakt mit den Betroffenen einzugehen.
1) Ich habe mich entschlossen, das sogenannte Binnen-I zu verwenden. Beispielsweise so: PatientInnen oder PatientIn. Es soll darauf hinweisen, dass jeweils sowohl Frauen wie Männer gemeint sind.
2) http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=23907.
3) Ausführlich in Rufer 2004, 2001 und 1995.
4) Wichtig in diesem Zusammenhang: die Steigerung der Tendenz, Suizid zu begehen und das Auftreten von toxischen Delirien (Verwirrung, Desorientierung und Halluzinationen), was beides als mögliche Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika beschrieben ist.
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* Entnommen ist dieser nach wie vor aktuelle Artikel dem Sammelband Kontraste in der Medizin. Zur Dialektik gesundheitlicher Prozesse, herausgegeben von André Thurneysen, 2009. Erschienen in der Reihe „Komplementäre Medizin im interdisziplinären Diskurs“ des Peter Lang Verlags. Wir danken dem Verlag für die Nachdruckgenehmigung.
Blum Bernhard
Bin beeindruckt.
Herzliche Grüsse und alles Gute
Bene
Marianne peus
Als Angehörige kann ich die derzeitigen Zustände im Umgang mit Betroffenen von Seiten der psychiatrischen Allmachtslobby nur bestätigen. Esist überall in den Köpfen der Sozialprofis, das “richtig”eingestellt sein. Ich würde mir eine ganzheitlicher Sicht und Begleitung wünschen. Nur wo und wie?