Die verfahrene politische Lage in Europa sowie die in der Bundesrepublik vorherrschende Windstille in den politischen und politisch-akademischen Debatten lassen Rekurse auf solitäre Figuren, die sich als Querdenker und Häretiker auszeichnen sowie eigensinnig und mit ernsthaft-existentialistischem Gestus gedacht und gehandelt haben, als besonders verlockend erscheinen. Aus diesem Grund möchten wir mit dem vorliegenden Schwerpunkt die Aufmerksamkeit auf den jenseits des Mainstreams liegenden André Gorz lenken und die instruktiven Anregungen, die theoretischen Grundlagen und die häretische Kreativität dieses Intellektuellen betonen.
Gorz ist, trotz einiger jüngerer Arbeiten (Literatur im Anhang) über ihn, dabei, aus dem Blickfeld zu geraten. Das erscheint uns nicht als gerechtfertigt. Hat er doch die Grenzen von Diskursen verschoben, das Sagbare und Denkbare innerhalb der europäischen Linken markant erweitert. Hinzu kommt, Gorz ist als existentieller Denker und Einzelgänger eine besondere Figur, die den Titel Solitär verdient. Das dokumentiert nicht nur der aufsehenerregende Freitod – er ist 2007 auf umsichtige Weise gemeinsam mit seiner Frau Dorine aus dem Leben geschieden. Schon der junge Gorz, als Gerhart Hirsch 1923 in Wien als Sohn eines jüdischen Vaters geboren, betrieb ein mehrmaliges Namen-Wechsel-Dich-Spiel, schwieg beharrlich zu Fragen nach seiner Identität und führte für einen Pariser Intellektuellen ein äusserst öffentlichkeitsscheues Leben. Das setzt sich nahtlos fort in seinem ausgesprochen neurotischen Verhältnis zum Gesprochenen und in seiner strikten Vorliebe für das Geschriebene.
Von der Existentialphilosophie Sartres stark beeinflusst, bestimmt er das Schreiben – im Gegensatz zum Sprechen – in einem Aperçu als Möglichkeit dort zu sein, wo man nicht ist, und nicht dort, wo man ist. Demzufolge sind seine Schriften nicht nur Auseinandersetzungen mit den gegebenen sozialen Realitäten, sondern und vor allem Entwürfe für eine kommende Gesellschaft, wobei er nie an einem Denkort dogmatisch verharrt. Intellektuelle Betätigung, so seine tiefe Überzeugung, ist die schreibende Hingabe an den Versuch, das bis dato Unmögliche zu denken. Und so hat Gorz in nahezu jedem seiner wichtigen Bücher – zu nennen sind vor allem Der Verräter (1958; dt. 1980), La Morale de l’histoire (1959), Fondements pour une morale (1946-1955 verfasst; erst 1977 erschienen), Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neukapitalismus (1964; dt. 1967), Der schwierige Sozialismus (1967; dt. 1969), Ökologie und Politik (1975, dt. 1977), Ökologie und Freiheit (1977; dt. 1980), Abschied vom Proletariat (1980), Wege ins Paradies (1983), Kritik der ökonomischen Vernunft (1988; dt. 1989), Und jetzt wohin? (1991), Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997, dt. 2000), Wissen, Wert und Kapital (2003; dt. 2004) – provokante Thesen entwickelt, die nicht selten heftige Irritationen und Kontroversen innerhalb linker Diskurse hervorgerufen und dergestalt die europäische Linke aus dem Trott ausgetrampelter theoretischer Pfade gebracht haben.
Das gilt etwa für seine Verabschiedung des Proletariats als historisch-revolutionäres Subjekt und seiner damit einhergehenden Rehabilitierung der einzelnen, individuellen Subjekte als «Nicht-Klasse». Oder für seine Kritik an der traditionellen Linken, der er zum Vorwurf macht, ignorant und stur am gesellschaftlichen Konzept der Arbeit festzuhalten, wodurch sie sich der Möglichkeit beraube, ein zukunftsträchtiges «Jenseits der Arbeit» politikfähig zu machen. Und das gilt schliesslich für seine zum damaligen Zeitpunkt erfrischende Überlegung, das Recht auf Einkommen vom Recht auf Arbeit zu separieren, was er in der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zuspitzte. Findet diese innovative These bei manch kundigem Autor noch Erwähnung, so meist unter Ausblendung der Tatsache, dass Gorz seine Gedanken zum Grundeinkommen später revidierte. Und wird er häufiger noch als jener Autor apostrophiert, der dem Proletariat Adieu sagte, so scheinen andere Aspekte seines Denkens verhallt zu sein bzw. in der Wirkungsgeschichte aufzugehen.
Dazu gehört sein ausgesprochenes Querdenkertum, das nur beispielhaft erhellt werden soll. Es zeigt sich in der Abwendung von den negatorischen Bestimmungen des Sozialismus als Nicht-Kapitalismus. Gorz fordert zu denken, wofür man ist, nicht wogegen. In diesem Kontext avancieren dann, und hier zeigt sich sein libertär-anarchoider Zug, durchaus einmal «Hacker» zur emblematischen Gestalt, zum Zeichen einer postkapitalistischen Gesellschaft. Ferner ist Gorz im Unterschied zu anderen Intellektuellen nicht in seine Ideen verliebt, sondern scheut sich nicht, wenn diese sich nicht als praktikabel erweisen, sie als «Blödsinn» zu verwerfen. So widerrief er seine Vorschläge zu einer dualistischen Wirtschaft und zu den «Tauschkreisen». Selbst sein langjähriges Eintreten für ein bedingungsloses Grundeinkommen unterzog er einer Revision. Mehr und mehr davon überzeugt, dass der Kapitalismus ein Grundeinkommen zu integrieren und nach seiner Logik funktionieren zu lassen versteht, distanzierte er sich von dem Konzept, da er darin keine emanzipatorische Perspektive mehr erkennen konnte. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, so seine pessimistische Intention, wird die Figur des individuellen Warenkonsumenten gefestigt, die einer totalen Abhängigkeit ausgesetzt ist. Die Individuen würden per Grundeinkommen nämlich dafür bezahlt, dass sie konsumieren, wodurch sie so funktionieren, wie sie die gesellschaftliche Ordnungsmacht haben will.
Zur Eigenart von Gorz gehört schliesslich, dass er sich kaum an Parteien, sondern relativ stark an die Gewerkschaften wandte. Auch das spricht für seinen enorm praktischen Sinn. Seine Kritik der ökonomischen Vernunft enthält eine separate Zusammenfassung für Gewerkschaftler. Liest man diese Texte, so kommen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, wie die der 35-Stunden-Woche, auf, die von heute aus wie Träume aussehen, aber Mitte der 1980er Jahre einmal ernsthafte Optionen waren. Seit den 1970er Jahren hat Gorz sich zunehmend und mit erheblicher Resonanz die neuen sozialen Bewegungen adressiert.
Doch seit den 1990er Jahren ist es zunehmend still geworden um Gorz. In diesem Zusammenhang kann man seine nervenaufreibende und mühselige Suche nach einem neuen Verleger erwähnen, als er erwog, L’immatériel in deutscher Sprache zu veröffentlichen (2003; dt. Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie) – ein Buch, das das Auseinanderklaffen von Reichtum und Wert zum zentralen Thema hat, eine Analyse der aufkommenden Wissensökonomie enthält und das utopische Potential dieser Ökonomie mittels des Begriffes «Wissenskommunismus» freilegt. Mit dem Züricher Rotpunktverlag fand diese Suche ein Ende. Das Still-geworden-Sein mag hierzulande insbesondere mit dem Populärwerden strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien zu tun haben, was nahezu einen Blickzwang auf französische Philosophen wie Foucault, Deleuze und Derrida hervorrief und Gorz – im Gegensatz zu den anderen erwähnten Denkern seiner Generation – als altbackenen Subjektphilosophen daherkommen liess. Freilich gab es auch in dieser Phase, und ungeachtet theoretischer Konjunkturen, Interessenten wie die Leute um das Projekt Oekonux (zusammengesetzt aus Ökonomie und Linux), die Gorz’ Theoriekonzeptionen als äusserst aktuell und innovativ begriffen. Die sich ausbreitende Stille wurde allerdings spätestens 2006 beendet. Mit dem Lettre à D. (2006; dt. Brief an D. Geschichte einer Liebe) gelang Gorz ein letzter fulminanter literarischer Erfolg und fortan war er noch einmal in aller Munde, vielleicht sogar mehr als ihm lieb war. Die Aufmerksamkeit stieg exorbitant an, als sein Freitod bekannt wurde. Zum Medienereignis avancierte der Suizidin Verbindung mit dem Lettre à D. Quer durch die Publikationslandschaften las und hörte man die Kunde vom «romantischen Liebestod».
Ungeachtet dieser Reprise blieb Gorz in den akademischen Diskursen wenig beachtet. Erst in der jüngsten Vergangenheit lässt sich so etwas wie ein erfreulicher Gegentrend ausmachen. Das ist schon deshalb zu begrüssen, weil Gorz es verdient, in die seit mehreren Jahren sich intensivierenden Rekurse auf französische Philosophen einbezogen zu werden, wodurch der starre Blick auf strukturalistische und poststrukturalistische Denker gelockert werden könnte. Auf diese Weise liesse sich auch zeigen, dass sich von der Sartreschen Existentialphilosophie ausgehend ein sozialtheoretisches Denken entfalten konnte, das für aktuelle Zeit- und Krisendiagnosen attraktiv und anschlussfähig ist. So hat Gorz beispielsweise den Zusammenhang von Subjekt und Kritik in einer Weise propagiert, zu der der um einiges populärere und rundum anerkannte Michel Foucault erst gelangte, als er seine allzu positivistische Theorie revidierte und sich die Frage stellte: Was ist Kritik? (1992). Gorz ist keineswegs nur im europäischen Raum wirksam gewesen, wie die Resonanzen auf sein Denken in England, Italien und Deutschland exemplarisch verdeutlichen. Er ist auch, wie Dick Howard in seinem Beitrag aus persönlicher Nähe argumentiert, stark von Teilen der undogmatischen amerikanischen Linken beachtet worden.
Das intellektuelle Schaffen von André Gorz systematisch zu erfassen, scheint ein schwieriges Unterfangen, denn er wirkte als Philosoph, Journalist, Politikstratege und Literat. Er ist weder Mode-, noch Fernsehphilosoph oder Medienintellektueller, vielmehr repräsentiert er die Figur des engagierten, praxisorientierten Intellektuellen, bei dem nicht die Person, sondern die jeweils interessierende Sache im Vordergrund steht. Sein existentialistischer, in vielen Punkten an Sartre angelehnter Denkansatz wird politisch ausbuchstabiert. Dadurch bahnen sich wechselnde Problematiken den Weg, die eine Lust an eigenständigem Denken, an häretischer Provokation und Praxisorientierung demonstrieren – von dem wir meinen, dass es nach wie vor reizvoll ist. Zumal der Revisionsbedarf in der Auffassung des Kapitalismus, der sozialen Welt, der Demokratie und den politischen Strategien bei der politischen Linken noch erheblich ist.
Schriften von André Gorz (Auswahl)
Gorz, André (1959): La Morale de l’histoire, Paris: Éditions du Seuil.
Gorz, André (1969) [1967]: Der schwierige Sozialismus, übers. von B. Leineweber und T. König, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Gorz, André (1972, Hg.) [1971]: Schule und Fabrik. Internationale Marxistische Diskussion 30, übers. Hans-Jürg Heckler, Jeanne Poquelin und Heinz Westphal, Berlin: Merve.
Gorz, André (1974) [1964]: Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus. Anhang: Zur Aktualität der Revolution, übers. von Rainer Zoll und Jürgen Schaltenbrand, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Gorz, André (1977) [1975]: Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise, übers. von Hubert Gaethe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gorz, André (1977): Fondements pour une morale, Paris: Éditions Galilée.
Gorz, André (1980) [1977]: Ökologie und Freiheit. Beiträge zur Wachstumskrise 2, übers. von Karl A. Klewer und H. Otten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gorz, André (1980): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, übers. von Heinz Abosch, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Gorz, André (1983): Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, übers. von Eva Moldenhauer, Berlin: Rotbuch.
Gorz, André (1989) [1988]: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, übers. von Otto Kallscheuer, Berlin: Rotbuch Rationen.
Gorz, André (1991): Und jetzt wohin? Zur Zukunft der Linken. Mit Fragen von Otto Kallscheuer, Berlin: Rotbuch.
Gorz, André (2000) [1997]: Arbeit zwischen Misere und Utopie, übers. von Jadja Wolf, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gorz, André (2004) [2003]: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, übers. von Jadja Wolf, Zürich: Rotpunkt.
Gorz, André (2007) [2006]: Brief an D. Geschichte einer Liebe, übers. von Eva Moldenhauer, Zürich: Rotpunkt.
Gorz, André (2008) [1958]: Der Verräter. Mit dem Essay „Über das Altern“, übers. von Eva Moldenhauer, Zürich: Rotpunkt.
Gorz, André (2009) [2008]: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, übers. von Eva Moldenhauer, Zürich: Rotpunkt.
Über André Gorz (Auswahl)
DGB-Bundesvorstand, Abteilung Jugend (Hg.) (1983): Abschied von Proletariat? Eine Diskussion mit und über André Gorz. Protokoll einer Arbeitstagung vom 30. Mai bis 3. Juni 1983, Düsseldorf.
Bowring, Finn (2000): André Gorz and the Sartrean Leagacy. Arguments for a Person-Centred Social Theory, Houndmills, Basingstoke: Palgrave MacMillan.
Contat, Michel (2009): André Gorz: vers la société libérée. Commentaire de Michel Contat, Paris: Éditions Textuel INA.
Fourel, Christophe (2009): André Gorz. Un penseur pour le XXle siècle, Paris: Éditions La Découverte.
Gollain, Françoise (2000): Une critique du travail. Entre écologie et socialisme, Paris: Éditions La Découverte.
Hirsh, Arthur (1981): The French new left. An intellectual History from Sartre to Gorz, Boston: South End Press.
Münster, Arno (2011): André Gorz oder der schwierige Sozialismus. Einführung in Leben und Werk, Zürich 2011.
Krämer, Hans Leo/Leggewie, Claus (1989, Hg.): Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag, Berlin: Rotbuch Rationen.
Lodziak, Conrad/Tatman, Jeremy (1997): André Gorz. A Critical Introduction, London/Chicago: Pluto Press.
Völker, Wolfgang (2009): André Gorz’ radikales Vermächtnis. Widerspruch Heft 57, Zürich.
Verweis auf Webpräsenzen
Siehe auch die Webpräsenz von Stefan Meretz auf www.keimform.de und von Franz Schandl auf www.krisis.org sowie www.streifzuege.org. Beide Autoren verdanken Gorz’ Theoriekonzeptionen zum Themenverbund Wissen, immaterielle Arbeit, Wertkritik und Wissenskommunismus ein Angestossensein. Gleichwohl trugen Meretz und Schandl umgekehrt, in einem mehrjährigen engen Austausch mit Gorz, zu neuerlichen Adjustierungen in seinem Denken bei.
* Dieser Text ist die Einleitung in den Themenschwerpunkt «Solitär – André Gorz» der Zeitschrift Berliner Debatte Initial, Heft 4 / 2013. Für theoriekritik.ch wurde der Text um die Verweise auf Aufsätze in jener Zeitschrift gekürzt.