Folgender Text ist die deutsche Übersetzung des Vortrags, den der Autor an der Konferenz Historical Materialism Istanbul 2024 unter dem Titel “Spinoza, Marx and late-modern despotism” präsentiert:
2. Spinoza und Marx: Despotismus im Übergang zur spätmodernen „biopolitischen Reduktion“
Es ist unter Marx- und Spinoza-Spezialist/innen umstritten, wie weit Marx’ Lektüre von Spinozas Tractatus Theologico-Politicus seine Konzeption der „wahren Demokratie“, die er in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie präsentiert, geprägt hat. Zwischen den Spinoza-Heften (1841) und der Kritik (1843) liegen zwei Jahre, in denen sich Marx mit anderen wichtigen Autoren auseinandergesetzt hat, insbesondere Rousseau und Feuerbach. Wir können im Rahmen dieser kurzen Mitteilung nicht auf die Einzelheiten dieser Debatte eingehen, in der sich grundsätzlich zwei Positionen gegenüberstehen: die einen, wie Maximilien Rubel[1] und Antonio Negri[2], sehen Marx’ Position als wesentlich Spinozistisch, während die anderen, wie Alexandre Matheron[3], Vittorio Morfino[4] und neulich Sandra Field[5], vor allem die Diskontinuitäten zu Spinoza und die Einflüsse durch andere Denker betonen.
Allerdings ist für die Frage, die uns heute interessiert, eine Darstellung vor allem der Unterschiede zwischen Spinozas und Marx’ Konzeptionen der Demokratie und von deren Verhältnis zu anderen Verfassungsformen unerlässlich. Wir möchten uns nämlich mit der Frage beschäftigen, wie Spinoza und Marx den Despotismus auffassen, d.h. eine Verfassungsform, die möglichst entfernt ist von der Demokratie. Vergegenwärtigen wir uns als erstes den Hauptunterschied zwischen Spinoza und Marx, den vor allem Morfino und Field hervorheben: Für Marx, der ein halbes Jahrhundert nach der Französischen Revolution schreibt, bilden Staat und bürgerliche Gesellschaft zwei nicht nur verschiedene, sondern entgegengesetzte, sogar antinomische Sphären, in denen der Mensch ein gespaltenes und entzweites Leben führt. Für Spinoza, hingegen, gibt es eine solche Entgegensetzung zwischen societas und civitas nicht. Was Spinoza unter imperium versteht, ist mit dem vergleichbar, was Gramsci mit „integralem Staat“ meint, d.h. die Gesamtheit an Zivilgesellschaft und politischem Staat. Diese auch von Machiavelli vertretene einheitliche Auffassung von Gesellschaft und Staat ist charakteristisch für prämoderne Verhältnisse. Auch Marx, der bürgerliche Gesellschaft und Staat in einer Antinomie denkt, ist sich des historisch modernen Charakters der Entgegensetzung bewusst.
Mit diesem ersten Unterschied hängt ein zweiter eng zusammen, der den logischen und ontologisch-metaphysischen Bezugsrahmen der jeweiligen politischen Theorien betrifft. Für Spinoza sind nämlich die konstituierten politischen und sozialen Institutionen, die er als potestas bezeichnet, immanenter Ausdruck der ontologisch und politisch konstituierenden potentia der Natur. Diese, wiederum, ist immer verkörpert in spezifischen Institutionen. Keine potestas ohne potentia, aber auch keine potentia ohne potestas, in einem Verhältnis der absoluten Immanenz, das identisch ist mit demjenigen zwischen substantia und modi. Da nun Marx, anders als Spinoza, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat im Sinn einer Entgegensetzung denkt, so kann er es nicht im Sinn einer absoluten Immanenz der politischen Institutionen im Gesellschaftlichen konzipieren. Das Modell, das Marx gebraucht, ist eher das Feuerbach’sche von einer Entfremdung der Gesellschaft im Staat bzw. von einer Umkehrung von Subjekt und Prädikat. Besonders deutlich zeigt sich das in der zentralen Passage, in der Marx seine Konzeption der „wahren Demokratie“ darlegt:
Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen. Wie die Religion nicht den Menschen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung. (MEW1, S. 231)
Die Demokratie ist das Wesen aller Staatverfassungen, weil in ihr der „sozialisierte Mensch“ das wahre Subjekt ist, der den Staat als Prädikat setzt. In der modernen Gesellschaft verselbstständigt sich allerdings das Prädikat. Der Staat als Objekt, das vom sozialisierten Menschen gesetzt worden war, entfremdet sich von seiner ursprünglichen Quelle und wird mystifiziert zum Subjekt, während der sozialisierte Mensch zum bloßen Prädikat des Staates herabgesetzt wird.
Wie dies Matheron betont, finden sich schon in der „Montage“ der Passagen aus dem TTP, die Marx noch vor seiner Feuerbach-Rezeption in den Spinoza-Heften exzerpiert, Vorboten einer Konzeption, in der „wahre Demokratie“ und konstituierte / entfremdete Staatsmacht einen Gegensatz bilden. Die „Montage“ ist nämlich so konstruiert, dass die Demokratie als „natürlichste Verfassungsform“ (imperium … maxime naturale, TTP16), in denen Menschen vernunftgeleitet und sui juris leben, systematisch allen anderen Verfassungsformen entgegengesetzt wird, in denen Menschen ideologisch (religiös) entfremdet und alterius juris leben. Dadurch geht aber die wesentliche Einsicht von Spinozas TTP verloren, nämlich dass alle Verfassungsformen das grundlegende Problem einer rationalen Organisation des ideologischen Konsensus (Matheron) lösen müssen. Das immanente Verhältnis von potentia und potestas beinhaltet, dass alle Verfassungsformen sich mit dem Problem der Organisation von Hegemonie konfrontiert sehen. Demokratie und Despotismus sind nicht im Sinn einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft zu denken, sondern bilden für Spinoza nur die Extreme eines Kontinuums der immanenten Organisation von Hegemonie. Wie konzipiert aber Spinoza den Unterschied zwischen Demokratie und Despotismus, wenn nicht als Umkehrung?
In der Vorrede zum TTP verweist Spinoza darauf, dass es den Osmanen am besten gelungen ist, die „Religion“ (ideologischer Konsensus; Spinozas credo minimum) in Aberglauben (superstitio) umzuwandeln, indem sie „das Urteil eines jeden so vielen Vorurteilen unterwerfen, dass in seinem Geist kein Raum für die gesunde Vernunft verbleibt, ja nicht einmal für die Formulierung eines Zweifels.“ (S. 5f.)[6] Die superstitio stellt keine Umkehrung des minimalen ideologischen Konsensus dar, den das Leben in der Sozietät erfordert. Sie kommt dadurch zustande, dass die natürliche Urteilskraft des Menschen vollkommen unterdrückt wird durch Vorurteile, die ihre Quelle teils in ideologischer Manipulation haben, teils aber auch in der immanenten Affektivität der Menschen selbst. Und zwar insbesondere in der Furcht (metus), die sie dazu verleitet, „für ihre Knechtschaft [zu] kämpfen, als ginge es um ihr Heil.“ (S. 6)
Der Despotismus unterscheidet sich also von der Demokratie dadurch, dass er den ideologischen Konsensus so organisiert, dass jede Form autonomen Denkens und rationalen Diskutierens unterdrückt wird. Dies widerspricht aber nach Spinoza (TTP20) dem Zweck des Staates (finis Reipublicae):
Nicht, sage ich, besteht der Zweck des Staates darin, die Menschen aus vernünftigen Wesen in Tiere (bestias) oder Automaten (automata) zu verwandeln, sondern im Gegenteil darin, sicherzustellen, dass ihr Geist und ihr Körper ihre Funktionen ungefährdet verrichten, sie selbst ihre Vernunft, die frei ist, gebrauchen und sich nicht mit Hass, Zorn und Arglist bekämpfen und einander feindselig gesinnt sind. (S. 308)
Im immanenten Kontinuum der Organisationsformen von Hegemonie kann die natürliche kognitive Autonomie der Menschen mehr oder weniger zur Geltung kommen, Menschen können mehr oder weniger sui juris sein. Die Demokratie ist die Form, die die kognitive Autonomie der Menschen am meisten fördert. Im zitierten Passus erwähnt Spinoza dagegen zwei Organisationsformen von Hegemonie, die diese Autonomie hemmen oder unterdrücken: Menschen können in Tiere, oder auch in Automaten verwandelt werden. Laurent Bove hat in seiner Spinoza-Interpretation großes Gewicht auf diese Formen der unterdrückten kognitiven Autonomie gelegt. Die Automatisation sieht er insbesondere in der hebräischen Theokratie verwirklicht, in der jeder Aspekt des menschlichen Lebens durch Rituale organisiert wird, deren routinemäßige, maschinelle Befolgung autonomes Urteilen überflüssig macht. Die Animalisation sieht er hingegen im Osmanischen Despotismus realisiert. Bove kann sich dabei auf einige Passagen aus dem Tractatus politicus stützen, in denen Spinoza die Frage nach der erstaunlichen Stabilität des Osmanischen Reiches stellt. Demokratien scheinen weniger stabil als das Reich der Türken zu sein (TP6.4). Spinoza fügt aber hinzu: „Wenn freilich Sklaverei, Barbarei und Einöde Frieden heißen soll, dann gäbe es für die Menschen nichts Erbärmlicheres als Frieden.“[7] Und an anderer Stelle sagt er, dass man eine civitas, in der „der Frieden von der Trägheit (inertia) der Untertanen abhängt, die man wie eine Herde (pecora) führt, um sie lediglich zu Sklaven abzurichten, angemessener ‚Einöde‘ (solitudo) als civitas“ nennen kann (TP5.4). Und in diesem Zusammenhang setzt Spinoza explizit das „wahre menschliche Leben“ im imperium optimum dem bloß animalischen Leben in der despotischen Vereinzelung entgegen (TP5.5):
Wenn wir also sagen, jener Staat sei der beste, in dem die Menschen ihr Leben in Eintracht verbringen, dann verstehe ich unter menschlichem Leben etwas, das nicht bloß über den Blutkreislauf und andere [physiologische] Funktionen, die allen Lebewesen gemeinsam sind, sondern in erster Linie von der Vernunft her definiert ist, die eine Tugend des Geistes ist und das wahre [menschliche] Leben [ausmacht].
Die Frage, die wir jetzt aufwerfen möchten, betrifft die Aktualität von Spinozas Konzeption der despotischen Reduktion des menschlichen Lebens auf die bloß animalischen Funktionen. Wir haben gesehen, dass Marx’ Modell der Umkehrung zwischen Subjekt und Prädikat, um das Verhältnis zwischen „Volk“ und „Verfassung“ zu denken, für Marx selbst eine Folge der modernen Entzweiung zwischen Staat und Gesellschaft ist. Spinozas Modell der Immanenz von sozialer potentia und instituierter potestas ist wesentlich prämodern. Inwieweit kann Spinozas Theorie der despotischen Reduktion des menschlichen Lebens auf das bloß biologische übertragen werden auf moderne, gar spätmoderne Gesellschaften?
Die „asiatische Despotie“ kommt auch in Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vor. Sie stellt ein Beispiel für eine prämoderne Verfassungsform dar, in der die Menschen noch nicht entzweit sind in eine materielle Existenz einerseits und in eine politische andererseits, die der ersten entgegengesetzt ist. Diese allgemeine Charakterisierung von prämodernen Verfassungsformen gilt sowohl für die griechische Demokratie als auch für die asiatische Despotie. In der griechischen Demokratie ist aber das Leben der freien und gleichen Staatsbürger unmittelbar politisch, während nur Sklaven eine bloß private Existenz führen. In der asiatischen Despotie, hingegen, ist „der politische Staat […] nichts als die Privatwillkür eines einzelnen Individuums, und der politische Staat, wie der materielle, ist Sklave.“ (MEW1, S. 234) In diesen prämodernen Verfassungen „gibt es noch keine politische Verfassung im Unterschied zu dem wirklichen, materiellen Staat oder dem übrigen Inhalt des Volkslebens.“ Anders in der Moderne, wo „die Verfassung selbst zu einer besonderen Wirklichkeit neben dem wirklichen Volksleben ausgebildet ist“ (ebd.). In Zur Judenfrage kennzeichnet Marx die Entzweiung zwischen dem materiellen und dem politischen Leben, unter Berufung auf Rousseau, folgendermaßen:
Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten Citoyens anerkannt. (MEW1, S. 370)
Die Hypothese, die wir jetzt wagen möchten, ist allerdings die folgende: Die Entwicklung des Kapitalismus selbst treibt zu einer schrittweisen Aushöhlung des Politischen bzw. zu einer Reduktion der politischen Dimension des menschlichen Lebens auf die bloße Verwaltung von bloß ökonomisch-materiellen Interessen. Während Gramsci die Einheit von Staat und Gesellschaft, im Anschluss an Machiavelli, noch als eine Reaktivierung des Politischen im Volksleben entwerfen konnte, so erweist sich die neoliberale Hegemonie eher als eine, die den Staat zum entpolitisierten Verwalter ökonomischer Interessen herabsetzt. Diese historische Entwicklung ist aber nicht etwas, das die moderne Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat einfach rückgängig machen würde. Eher handelt es sich um eine immanente Entwicklung dieser Trennung selbst. Die in ihr angelegten Widersprüche treiben dazu, dass die klassisch liberale Arbeitsteilung zwischen Staat und Ökonomie (Laissez-faire) und ihre politische Besiegelung durch die Französische Revolution vom Kapitalismus selbst nicht aufrechterhalten werden kann (wie Foucault dies in seinen Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik ausführlich analysiert hat: Im Neoliberalismus findet eine Entkoppelung der Marktlogik von der Wirtschaftspolitik des Laissez-faire statt).
Das Interessante für uns heute ist allerdings, dass Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (d.h. noch lange bevor er sich mit dem Phänomen der ökonomischen Krisen auseinandersetzte), uns theoretische Elemente zur Verfügung stellt, die uns ermöglichen, diese Entwicklung auf den Begriff zu bringen. Denn Marx sieht darin klar, dass die Antinomie, der Widerspruch zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat nicht gelöst werden kann durch die „korporatistischen“ Vermittlungsinstanzen, die Hegel dazu entwirft. Diese Vermittlungsinstanzen können nicht verhindern, dass die zentrifugale Eigendynamik der antagonistischen (ökonomischen) Privatinteressen das „Volk“ ständig in eine „formlose Masse“ (GRP §303), in einen „Haufen, eine Menge von zersplitterten Atomen“ (GRP §290Z) verwandelt, wie dies Hegel selbst ausdrückt. Was aber für Hegel eine durch Vermittlungen abzuwehrende Gefahr ist, ist für Marx die harte Realität der bürgerlichen Gesellschaft selbst in ihrer politischen Trennung vom Staat:
Die Atomistik, in die sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrem politischen Akt stürzt, geht notwendig daraus hervor, dass das Gemeinwesen, das kommunistische Wesen, worin der Einzelne existiert, die bürgerliche Gesellschaft getrennt vom Staat oder der politische Staat eine Abstraktion von ihr ist. (MEW1, S. 283)
In diesem Zusammenhang müssen wir auch die sehr pointierte Kritik verstehen, die Marx gegen Hegels Unterscheidung zwischen der Souveränität – das „Moment der letzten Entscheidung“ (GRP §275) – und dem Despotismus erhebt. Sowohl Souveränität wie auch Despotismus zeichnen sich laut Hegel durch die „Idealität aller besonderen Berechtigung“ aus. Der Idealismus des Souveränen aber, im Unterschied zum Despoten, orientiert seine Entscheidungen immer am „Zweck des Ganzen“. Im „friedlichen Zustand“ kommt nun dieser „Zweck des Ganzen“ durch die Eigendynamik der Privatinteressen zur Geltung, und die „direkte Einwirkung von oben“ muss nur punktuell erfolgen. Im „Zustand der Not“ aber, d.h. in Zeiten der Krise – im Ausnahmenzustand bzw. im extremus necessitatis causus[8] – kommt der „Idealismus“ des Souveränen „zu seiner eigentümlichen Wirklichkeit“, indem er das „Ganze“ vor der Zersplitterung der Gesellschaft in Partikularinteressen retten muss (wie Engels’ „ideeller Gesamtkapitalist“). Marx kommentiert dazu:
Seine „eigentümliche Wirklichkeit“ hat dieser Idealismus nur im „Kriegs- oder Notzustand“ des Staats, so dass sich hier sein Wesen als „Kriegs- und Notzustand“ des wirklichen bestehenden Staats ausspricht, während sein „friedlicher“ Zustand eben der Krieg und die Not der Selbstsucht ist. (MEW1, S. 223)
Anders ausgedrückt: Der über allen Privatinteressen erhobene Dezisionismus der Staatssouveränität kommt gerade dann zu seiner „eigentümlichen Wirklichkeit“, wenn die Eigendynamik der Privatinteressen in eine Krise tritt und das „atomistische“ Wesen der Gesellschaft zur Erscheinung kommt.
Sind wir jetzt in der Lage, unsere ursprüngliche Frage nach der Aktualität von Spinozas Konzeption des Despotismus beantworten zu können?
Wir möchten hier einem Hinweis von Antonio Negri folgen, nach dem Spinozas Kritik der „eminent soziopolitischen Organisation von Ausbeutung“ sich gerade in der „postindustriellen Epoche“ adäquater erweisen könnte als Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, die das Problem der „Ableitbarkeit“ des Staates ungelöst lässt. Der neoliberale Kapitalismus widerlegt nämlich in den Fakten die klassisch liberale Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Politik. Die Trennung von Ökonomie und Politik drückt sich in der Entzweiung aus: Der Mensch lebt „ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben“, einerseits als Gemeinwesen, andererseits als Privatmensch; „der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde.“ (MEW1, S. 355)
Der neoliberale Kapitalismus reduziert aber die Menschen auf Humankapital. Wie im Despotismus, findet im Neoliberalismus eine Animalisation des menschlichen Lebens statt, das auf seine bloß irdischen, egoistischen, privaten Dimensionen reduziert wird. Man könnte hier von einer „biopolitischen Reduktion“ sprechen: Die verallgemeinerte Konkurrenz zwischen Wirtschaftssubjekten, die nur noch als Humankapital gelten, hemmt und unterdrückt jede affektive, kognitive und politische Autonomie der multitudo. Statt eine multitudo libera zu bilden, wie dies im imperium democraticum der Fall wäre, werden Menschen auf eine multitudo subacta reduziert (TP5.6), die sich wie eine Herde (pecora) führen lässt. Marx’ Konzeption des Wesens des „Staatsidealismus“ als „Not- und Kriegszustand“ – als Staat des Ausnahmezustands oder der Krise – stellt in diesem Zusammenhang eine wesentlich realistischere Auffassung dar als die des Staates als entfremdeten politischen Himmels, die für das liberale Zeitalter noch stimmen mochte. Im Neoliberalismus wird der Staat zum bloß irdischen Verwalter der Krise der Ökonomie herabgesetzt. In der Spätmoderne wird somit die prämoderne Immanenz von Staat und Gesellschaft in ihrer despotischen, entpolitisierten Variante wiederhergestellt. Oder, um Althusser – den größten Kritiker von Marx’ Entfremdungstheorie – zu paraphrasieren: „Wenn es wahr ist, wie es Marx in seiner Jugend in einem Bild ausdrückte, dass die Politik den Himmel der Privatmenschen bildet, so könnte man vom Despotismus / Neoliberalismus sagen, er sei eine Welt ohne Himmel.“ (S. 103)[9]
[1] Maximilien Rubel : Marx et la démocratie (1962), in: ders., Marx critique du marxisme, Paris 1974.
[2] Antonio Negri: Reliquia desiderantur – Congettura per una definizione del concetto di democrazia nell’ultimo Spinoza, in: Studia Spinozana 1, 1985.
[3] Alexandre Matheron: Le Traité Théologico-Politique vu par le jeune Marx, in: Cahiers Spinoza, I, 1977.
[4] Vittorio Morfino: Democracy, Imagination, Revolution: Marx, Reader of Spinoza, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 34:1, 2013.
[5] Sandra Field: Marx, Spinoza, and ‘True Democracy’, in: Jason Maurice Yonover & Kristin Gjesdal (Hg.), Spinoza in Germany: Political and Religious Thought across the Long Nineteenth Century, Oxford (in Erscheinung).
[6] Spinoza: Theologisch-politischer Traktat (übers. von Wolfgang Bartuschat), Hamburg 2012.
[7] Spinoza: Politischer Traktat (übers. von Wolfgang Bartuschat), Hamburg 2010.
[8] Carl Schmitt: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität, Berlin 2015, S. 17.
[9] Louis Althusser: Montesquieu – Politik und Geschichte, in: ders. Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Berlin 1987.