Die unterschiedlichen Beiträge im Sammelband der Herausgeberinnen ermöglichen einen breiten Einblick ins Thema. Der Schwerpunkt liegt auf Erfahrungsberichten von Betroffenen, von Eltern betroffener Jugendlicher sowie auf Einschätzungen von Fachleuten aus Medizin und Psychotherapie. Ich kann das Buch allen empfehlen, die bereit sind, eigene Vorurteile zu revidieren.
Entgegen der Behauptungen ihrer Kritikerinnen und Kritiker ist Alice Schwarzer nicht transfeindlich, im Gegenteil, sie hat seit 1984 sehr viel dafür getan, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und ihre Rechte zu verteidigen. Hingegen wird nicht klar, weshalb Alice Schwarzer und Chantal Louis in dem Buch von Transsexualität und nicht von Transgeschlechtlichkeit sprechen. Ob dies damit zusammenhängt, dass das erste Gesetz zur Problematik, das in Deutschland geschaffen wurde, Transsexuellengesetz (TSG) heisst?
Im Sammelband werden zahlreiche Argumente gegen den Trend, die Geschlechtsidentität einfach qua Sprechakt festzulegen, angeführt. So setzt sich Alice Schwarzer dafür ein, dass die Gesetzgebung zugunsten der Transpersonen verbessert wird, aber sie spricht sich deutlich gegen eine Regelung aus, bei der eine Person ab dem Alter von 14 Jahren ohne ärztliches/psychotherapeutisches Gutachten den Geschlechtseintrag im Personenregister ändern lassen kann. Begründung: Die Änderung des Geschlechts ist eine sehr tiefgreifende Sache, eine, die den Körper das Leben lang stark belastet; so ein Eingriff sollte niemals ohne sehr gründliche Analyse der Problemlage und das Aufzeigen von allfälligen Alternativen erfolgen. Schwarzer verweist zudem darauf, dass – im Gegensatz zur Zeit vor der Jahrtausendwende, wo noch mehr Männer eine Geschlechtsänderung zur Frau wünschten, heute überwiegend der Weg von weiblich zu männlich gewünscht werde, und zwar meist von sehr jungen Mädchen. Schwarzer argumentiert, es müsse Ursachen dafür geben, die man erforschen sollte. Sie geht davon aus, dass in vielen Fällen keine «echte» Transsexualität vorliegt. Die Beiträge von Frauen, die sich in Männer umwandeln liessen, aber später wieder als Frau leben wollten, sind hierzu aufschlussreich: Nach Charlie Evans (ehemaliger Transmann) ist die Versuchung gross, dass ein Mädchen, das sich nicht in Männer verliebt und sich in der Frauenrolle extrem unwohl fühlt, denkt, es leide an Geschlechtsdysphorie. Evans formuliert einen interessanten Satz: «Ich weiss heute, dass die Trans-Ideologie mir die Vorstellung verkauft hat, dass ich mich in das mächtige Geschlecht hineinidentifizieren könne.» Das Argument, dass man Mädchen und Jungen, die sich nicht entsprechend den Stereotypen verhalten, vor der von Evans so bezeichneten «Trans-Ideologie» schützen sollte, wird in mehreren Beiträgen betont. Medizinische Fachleute weisen ferner auf die irreversiblen Schäden am Körper hin, die mit einer Transition einhergehen.
Den Eltern, Therapeuten und kritischen Aktivisten, die im Sammelband zu Wort kommen, geht es darum, die Rollenzuschreibungen zu verändern und dadurch mögliche Auswege aufzuzeigen.
In verschiedenen Beiträgen steht immer wieder die Warnung: Transition bedeutet nicht Befreiung von Geschlechtsrollen, sondern bestätigt diese ja gerade! Und die Ethnologin Susanne Schröter zerpflückt das Argument, das Auflösen der Geschlechter bewirke eine Befreiung von patriarchalen Fesseln. Sie zeigt, dass Kulturen, die eine zwischen Mann und Frau liegende dritte Geschlechtsrolle kennen, keineswegs automatisch besonders tolerante Gesellschaften sind: In den meisten Fällen gibt es sogar eine ausgesprochene Unterdrückung von Frauen, sehr strikte Rollenzuweisungen und eine Verfolgung von Menschen, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften bevorzugen. Die Situation im Oman sei hier kurz geschildert: Männern steht die Möglichkeit offen, eine zwischen den Geschlechtern stehende Rolle einzunehmen. An der Kleidung und an weiteren äusseren Zeichen sind diese Personen erkennbar. Sie stehen Männern als Sexualpartner zur Verfügung, müssen sich jedoch stets «passiv-unterwürfig» verhalten, damit die Beziehung nicht als homosexuell bezeichnet werden kann. Homosexualität ist in Oman gesetzlich verboten.
In der aktuellen Auseinandersetzung um Transgender, so kann man dem Band entnehmen, finden sehr viele Streitigkeiten innerhalb der Frauenbewegung statt– Männer äussern sich kaum und Männer werden auch seltener als transphob kritisiert. Chantal Louis weist darauf hin, dass der Begriff Frau in manchen Kreisen bereits anstössig wirke: lieber sprechen diese Leute von FLINTA*, einer Buchstabenreihe als Abkürzung für Frauen, Lesben, Intersexuelle
, Nichtbinäre, Transsexuelle und Agender. Weshalb, so fragt Chantal Louis, wird nicht wenigstens konsequenterweise auch das Wort Mann gestrichen bzw. in eine Buchstabenreihe umgewandelt?
Bemerkenswert sind die Aussagen eines Absolventen der Gender Studies, der bei einem Verband, der sich für LGBTI-Rechte einsetzt, arbeitete. Da er nicht zum Vorneherein alle Thesen und Positionen der gerade dominanten Strömung der Bewegung übernahm, wurde er als Referent von einer Uni-Veranstaltung ausgeladen und versucht seither vergeblich, als Genderforscher von einer Institution in diesem Themenbereich angestellt zu werden. Er erklärt sich das Phänomen so: Es ist die Angst, als transphob diffamiert zu werden. Er meint, der gegenwärtige Hochschulbereich sei besonders anfällig dafür, Denkvorschriften zu machen. Auch andere Personen, die im Buch zu Wort kommen, schildern, wie sie wegen ihrer differenzierten Positionen übergangen werden. Eine Ärztin, selber Transfrau, die stets auf die Qualität der medizinischen Standards achtete und nicht in jedem Fall den Mainstream unterstützte, schildert, wie sie aus einem Besprechungszirkel rausgeworfen wurde: einem Gremium, das sie zur Qualitätssicherung der Behandlungen von Transsexuellen selbst gegründet hatte!
Diese Aspekte sind besonders interessant: Wie ist es möglich, dass auch Fachgremien (Ärztliche und Psychologische Fachvereinigungen, medizinische und psychotherapeutische Fachblätter) nur noch das zulassen, was als Mainstream gilt?
Eine mögliche Teilerklärung könnte beim sogenannt «affirmativen Ansatz» liegen. Hierbei handelt es sich ursprünglich um eine unterstützende Haltung, die – gerade im Therapiegespräch – als durchaus sinnvoll erscheint. Kommt ein verunsicherter Mensch mit ganz vielen Fragen in die Praxis, hört die Therapeutin/der Therapeut erst mal zu und stützt die Person, selbst wenn deren Erklärungen für das eigene Leiden nicht einleuchtend erscheinen. Vertieft die Therapeutin oder der Therapeut nun das Gespräch nicht weiter, sondern wendet einfach ein gängiges Schema an, dann entsteht daraus ein dogmatisches Vorgehen. Dogmen sind jedoch das Gegenteil von guter Medizin und guter Psychotherapie.
Nach Aussagen betroffener Eltern wird der «trans-affirmative» Ansatz offenbar auch im Bildungssektor und auf Beratungsstellen für Jugendliche gepflegt. Mit dem Resultat, dass junge Menschen nicht objektiv über Geschlechtsdysphorie informiert werden.
Wertvoll sind die Hinweise im Buch «Transsexualität»: Betroffene und Fachpersonen haben Netzwerke gegründet, die Betroffenen helfen können, sich gegen allfällige Fehlberatungen und Fehlbehandlungen zu wehren.
Alice Schwarzer / Chantal Louis (Hg.): Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? – Eine Streitschrift, KiWi 2022.