Angesichts verschiedener Umstände habe ich im letzten Jahr angefangen, mich intensiver mit der Frage nach meiner Weiblichkeit und meiner Position als Frau in der kapitalistischen Gesellschaft auseinanderzusetzten. Den Auftakt dafür gab neben dem Eintritt in die Arbeitswelt die Erfahrung von Solidarität unter Frauen in einem Frauenboxraum. Mir wurde klar, dass ich mich bisher persönlich wie politisch fast ausschliesslich an männlichen Vorbildern orientiert habe. Ich beschloss, mich feministischen Ansätzen zuzuwenden, um als Frau eine politische Perspektive jenseits einer Ablehnung der eigenen Weiblichkeit zu finden.
Eines der ersten ergiebigen Bücher, das mir im Rahmen dieser Auseinandersetzung in die Hände fiel, war Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation (engl. 2004, dt. 2012) von Silvia Federici. Davor hatte ich mich durchaus mit Gender-Studies beschäftigt, empfand den Ansatz vieler postmoderner Feministinnen, Begriffe wie Geschlechteridentität, Frau und Weiblichkeit als politische und analytische Kategorien zu verabschieden, aber als unbefriedigend oder irreführend, wenn es um die Deutung widersprüchlicher Erfahrungen oder um den Anspruch selbstbestimmter Alltagspraxis und politischer Organisation geht. Federicis marxistisch geprägter feministischer Ansatz konnte in diese Bresche springen.
Federici (1942) wuchs in Italien auf und kam 1967 für ihre Dissertation in die USA. Sie ist eine marxistisch geprägte, feministische Aktivistin. Seit 1970 engagiert sie sich in verschiedenen Bewegungen in Europa, Amerika und Afrika. Sie schreibt über die Theorie und Geschichte von Frauen sowie über den Aufstieg und die Durchsetzung des Kapitalismus und seiner spezifischen Geschlechterverhältnisse in Europa und in den ehemaligen Kolonien. Heute ist Federici emeritierte Professorin für Woman Studies und politische Philosophie und lebt in New York.
Ziel des Buches Caliban und die Hexe ist nicht nur die historische Erforschung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus unter Einbezug der Frauen – was an sich schon eine neue Perspektive eröffnet (die der Bäuerin, der Leibeigenen, der Sklavin, der Vagabundin, der Hexe, der Produzentin von Leben und Arbeitskraft). Darüber hinaus versucht Federici die Rekonstruktion einer Geschichte des Widerstandes gegen den Aufstieg des Kapitalismus und seine spezifischen Disziplinierungs- und Ausbeutungsformen. Frauen haben dabei nach Federici eine entscheidende Rolle gespielt. Sie sind es gewesen, die sich gegen die Einhegung von gemeinschaftlich verwaltetem Land, gegen die Disziplinierung der Sexualität und die Kontrolle des weiblichen Körpers und Begehrens wehrten. Damit erinnert Federici an eine Vielzahl unterschiedlicher weiblicher Schicksale, die in der allgemeinen Geschichtsschreibung meist unterschlagen werden, und daran, dass es immer widerständische, feministische und antikapitalistische Kräfte gegeben hat und geben wird.
Das Buch Caliban und die Hexe reiht sich ein in die Tradition jener Arbeiten, die sich auf der Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus der historischen Genese kapitalistischer Verhältnisse zuwenden. Ziel ist es, die heute weit verbreitete Annahme zurückzuweisen, dass der Kapitalismus eine Art Evolution der ökonomischen Strukturen darstelle, die sich im Mittelalter herausgebildet hätten. Anhand historischer Studien entwickelt Federici die These, der Kapitalismus sei vielmehr als Antwort auf antifeudale Befreiungskämpfe und verschiedene soziale Kämpfe und Bewegungen zu begreifen. Sie untersucht in diesem Zusammenhang, wie Hausarbeit, Familienleben, Kindererziehung, Sexualität, Geschlechterverhältnisse und das Verhältnis von Produktion und Reproduktion im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts neu geordnet wurden. Ziel dieser Neuordnung war es, eine maximale Ausbeutung der Arbeitskraft zu erreichen. Entscheidend ist für Federici in diesem Zusammenhang die Frage, warum die grosse Inquisition in Europa und den Kolonien und die Hexenverfolgung mit der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus zusammenfallen, werden diese Phänomene doch gemeinhin mit einem barbarischen mittelalterlichen Aberglauben in Verbindung gebracht. Auf eingängige und einleuchtende Art zeigt Federici, dass die Hexenverfolgung wie auch die Kolonialisierung Teil eines ökonomischen Herrschaftsprojekts waren und sind, dessen Höhepunkt ein generalisierter Angriff auf den weiblichen Körper während der Hexenverfolgung darstellte. Federici zufolge ging es dabei um die Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung und die Kontrolle über die Reproduktion von Arbeitskraft. Im Unterschied zu anderen feministischen Ansätzen werden die Frauen bei Federici über die Abdrängung in die private Reproduktionssphäre gerade nicht aus der kapitalistischen Produktion ausgeschlossen. Vielmehr müssen die Geschlechterhierarchien als Quelle der kapitalistischen Wertschöpfung und Ausbeutung verstanden werden.
Caliban und die Hexe ist ein eingängiges und sehr inspirierendes Buch, das auch für Leser_innen verständlich ist, die mit der marxistischen Terminologie noch nicht vertraut sind. Federici zeichnet den grossen Bogen der kapitalistischen Entwicklung über zwei Jahrhunderte nach und erweitert damit nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern auch Marx und Foucault um eine feministische Perspektive, die sich durchaus nicht in einer «Frauengeschichte» erschöpft. Zeitweilig ist das Buch historisch etwas ungenau und verfällt hie und da in Mystifizierungen. Nichtsdestotrotz ist die Lektüre von Caliban und die Hexe ein bereichernder Beitrag zur Diskussion und Analyse früherer wie heutiger Geschlechterverhältnisse und Ausbeutungsmechanismen sowie zur Erinnerung an eine lange Geschichte des antikapitalistischen Widerstandes.
Silvia Federici: Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Übersetzt von Max Henninger. Herausgegeben von Martin Birkner. Mandelbaum Kritik und Utopie. Wien: 2012. Originalausgabe: Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation. Brooklyn, NY: Autonomedia, 2004.