Ein Rückblick auf die wilden Zeiten der Neuen Linken nach 68. Und eine Auseinandersetzung mit weiterhin aktuellen Fragen. Die posthum veröffentlichten Aufzeichnungen von Daniel Vischer bieten zuweilen nostalgische Unterhaltung, zumeist klare und deutliche politische Analysen.
Er war einer der profiliertesten linksalternativen Politiker. Parteisekretär und Zürcher Kantonsrat der Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch), als diese die Schweizer Politik noch ein wenig aufmischte. Danach, ab 1990, sass Daniel Vischer für die Grünen im Kantonsrat und von 2003 bis 2015 im Nationalrat.
Vischers autobiografische Aufzeichnungen sind nach dessen Krebstod vom Januar 2017 posthum herausgegeben worden, zum grösseren Teil noch von ihm ausgearbeitet, zum Schluss etwas fragmentarischer; sie hören um 2012 auf.
Dieses aufgezeichnete Leben besteht aus drei Teilen: Herkunft und Jugend in Basel. Die Politisierung und Aktivitäten bei den Poch. Der Ein- und Aufstieg bei den Grünen nach der Auflösung der Poch. Gegliedert wird der Text im Vierjahresrhythmus durch Schilderungen der Fussball-Weltmeisterschaften, die Vischer als ebenso rettungslos verfallener wie kenntnisreicher Fan verfolgt hat.
Vischer wurde 1950 geboren, im so genannten Basler Daig. Allerdings familiär an dessen Rand, bezüglich des Wohnorts und der Schule wenig mit den führenden Familien Basels verbunden. Dennoch, so räumt er ein, konnte er im Gefühl materieller und sozialer Sicherheit aufwachsen. Die Schule absolvierte er widerwillig, seine Haupterziehung genoss er im Theater. So singt er ein Loblied auf den damaligen Basler Theaterdirektor Werner Düggelin. «Das Paradoxe an Düggelin: Ihm ging es immer nur um das Theater als Theater, und dennoch hat wohl kaum je ein Intendant so viel gesellschaftliche Sprengkraft erzeugt wie er.» Von der Begegnung mit Düggelin leitet Vischer eine Faszination mit ambivalenten Persönlichkeiten her, die sich später wieder verstärkt äusserte.
Arbeitsteilungen in den Poch
Zuvor wurde Vischer 1973 Zentralsekretär der Poch; seit 1976 wohnte er in Zürich, wo er 1983 zum Zürcher Kantonsrat gewählt wurde. Die Progressiven Organisationen Basel (POB) und später die Poch schildert er im Nachhinein «als Mischung zwischen einer linken, nonkonformistischen Variante des Landesrings und einer revolutionären Avantgardepartei». Ein Sit-In auf den Tramschienen für ein Gratistram, dann die Besetzung des Geländes für das Atomkraftwerk Kaiseraugst verliehen ihr bewegungspolitisches Prestige. Dabei funktionierten die Poch auf zwei Ebenen, global- und lokalpolitisch. In der so genannten Generalliniendiskussion versuchte die Organisation, in der bipolaren Welt eine eigenständige Position zu entwickeln, wie man sich gegenüber der Sowjetunion verhalten solle, inwiefern die Bewegungen der «Dritten Welt» als neue globale Kraft zu unterstützen seien und welche Funktion das maoistische China dabei spiele. An solchen Fragen zerbrachen politische Gruppen, Koalitionen und Freundschaften. Im Rückblick ist das eine dieser Schimären, in die sich die Neue Linke nach 1968 gelegentlich verirrte. Warum sich in den Poch eine solche, ihrerseits durchaus dogmatische Linie durchsetzen konnte, erklärt Vischer mit einer Arbeitsteilung: Global konnte man rigide sein, wenn nur die Lokalpolitik flexibel blieb. Dazu gehörte die Teilnahme an Wahlen, bei denen die Poch durchaus Erfolge erzielte, während sie für andere linke Parteien vorerst Anathema war.
Vischer liefert einige klarsichtige, zugleich warmherzige Porträts von ExponentInnen, zum Teil mit Namen genannt, wie Georges Degen, lange Zeit der Vordenker der Poch, zum Teil anonymisiert. Nebenbei will er mit dem Mythos aufräumen, die Poch seien eine Bewegung von AkademikerInnen gewesen; gerade die POB habe sich aus verschiedenen sozialen Schichten rekrutiert.
Die Auflösung der Poch 1990 erlebte Vischer als Bruch. «Für mich bedeutete das Ende auch eine schwere persönliche Niederlage als politisch denkender und handelnder Mensch.» Gegenüber dieser subjektiv sicherlich zutreffenden Wahrnehmung scheint mir von aussen gesehen beinahe gewichtiger der Anfang von Vischers Arbeit als Rechtsanwalt. 1988 begann er, vor Gericht Angeklagte zu vertreten. Das schärfte seinen Blick für konkrete Ungerechtigkeiten, machte ihn zugleich pragmatischer.
Natürlich ist eine linke, auch selbstkritische Geschichtsschreibung notwendig, und zweifellos lassen sich anhand der Poch Bewegungsfragen diskutieren. Aber letztlich müssen neue Politgenerationen wie die Klimajugend ihre eigenen Erfahrungen machen. So haftet diesen Passagen im ersten Teil von Vischers Buch gelegentlich etwas Nostalgisches an.
Vom EWR bis zu Mitterrand
In einem zweiten Teil behandelte Vischer hingegen Probleme, deutlich und klar.
Wichtig bleibt sein globaler Blick auf die Probleme, sozusagen eine rational gewendete Generallinie: Welche Grossmacht wo welche Interessen vertritt. Bei einigen Fragen, die die Linke einst spalteten, wollte er auch im Rückblick nicht versöhnlich werden, etwa bezüglich des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 oder dem Nato-Krieg gegen Kosovo 1999. In letzteren scheint mir die alte bipolare Logik durchzuschimmern: Gegen USA und Nato, also – nicht ganz, aber doch ein bisschen apologetisch – für Serbien. Und wenn er behauptet, die Schweizer Linke habe sich einst so für die EU begeistert, weil da lukrative Posten in Aussicht standen, fällt er unter sein Niveau.
Vischer hat sich früh für die Sache des palästinensischen Volks engagiert, öfters dem Vorwurf ausgesetzt, antiisraelische oder sogar antisemitische Vorurteile zu bedienen. Fasziniert zeigte er sich von François Mitterrand, dem «perfekten Machiavellisten», einem Konservativen, der linke Politik betrieben habe. «Meine Sympathie für ihn wuchs, gerade weil das Mysteriöse einen Teil des Politischen ausmacht.» Diese Faszination ging einher mit Vischers wechselnder Bezugnahme auf Gesellschaftstheorien: Den «moralischen Grossdiskurs» von Jürgen Habermas tauschte er gegen die scheinbar detachierte Systemanalyse von Niklas Luhmann ein. So konnte er das Politische als eigenständiges gesellschaftliches System begreifen und in diesem dann pragmatischer agieren.
Ein Grounding
Das zeigte sich auch bei seiner Rolle während des Zusammenbruchs der Swissair im Oktober 2001. Diese Passagen veranschaulichen im Detail Möglichkeiten und Grenzen der Gewerkschaftsarbeit in einem vorgegebenen Rahmen. 1993 war Vischer, weil man gerade einen engagierten Juristen suchte, zum Präsidenten der VPOD Sektion Luftverkehr gewählt worden, «ein unauffälliger Job, kaum je von öffentlichem Interesse». Ab 2000 änderte sich das. Die desaströse Strategie der ehemaligen Swissair-Führung ist mittlerweile hinlänglich dokumentiert. In den Turbulenzen um die Rettung der Swissair wurde Vischer einerseits zum Ansprechpartner für den neuen Chef Mario Corti, andererseits zum Vertreter des Personals. Gewisse Sympathien dem «tragischen Helden» Corti gegenüber kann Vischer nicht verhehlen, während er dem Hasardeur Moritz Suter die Hauptschuld am Zusammenbruch wegen dessen verheerender Strategie zuspricht, die noch die neue Swiss mit einem «Geburtsfehler» belastet habe. Auch die Verantwortung der Banken steht ausser Frage, da «das Grounding vom 2. Oktober 2001, einem Dienstag, absichtlich herbeigeführt, ja geradezu putschartig eingefädelt worden ist». UBS-Chef Marcel Ospels «süffisanter Auftritt» am vorangegangenen Montagabend «triefte vor Falschheit».
Auf der andern Seite beschreibt Vischer die Bewegungsführung
, ansatzweise auch selbstkritisch. «Das Grounding hat zur wohl grössten Massenmobilisierung des Personals einer schweizerischen Grossfirma geführt.» Und er verteidigt sich gegen spätere Vorwürfe, «die Bewegung nicht weitergeführt, sondern jäh gestoppt zu haben». Diese Kritik sei einer Fehleinschätzung entsprungen. Die Mobilisationskraft habe sich nämlich aus der Identifikation mit der alten Swissair und der Wut gegen die Bonzen gespeist; sobald klar geworden sei, dass die Swissair in der bisherigen Form nicht mehr zu retten war, sei die Bewegung als Massenbewegung praktisch versiegt. Zu diesem Zeitpunkt sei es nur noch darum gegangen, möglichst viele Arbeitsplätze zu retten und ein halbwegs tragfähiges Konstrukt für eine Nachfolgegesellschaft aufzubauen – ein Ziel, das Vischer wiederum Kritik von seiner Mutterpartei, den Grünen einbrachte.
Ein positives Resultat immerhin vermochte er der Tragödie abgewinnen: «Mit der Swissair ging aber auch der aufgeblasene Zürcher Wirtschaftsfreisinn sang- und klanglos unter. Ihm ging die Luft aus.»
Aufgestauter Hass
Vischer wurde 2003 relativ spät und unerwartet in den Nationalrat gewählt. Im Nachhinein zeigte er sich dem Politbetrieb der Schweiz gegenüber erstaunlich milde eingestellt. Das Parlament sei egalitärer als man glaube, urteilte er. Seine Insiderperspektive erlaubt ein paar genaue Beobachtungen zur Parlamentsarbeit, stösst aber an Grenzen. So verteidigte er die Konkordanzpolitik im Bundesrat ganz formal, ohne sie inhaltlich füllen zu wollen: Die Bundesratssitze sollten, so genau wie möglich, nach dem Anteil an WählerInnenstimmen verteilt werden.
Selbstverständlich kommt das Buch nicht um Christoph Blocher herum. Diesen bezeichnet Vischer als rebellischen Anachronisten, als einen «Konterrevolutionär in jeder Beziehung». So weit, so bekannt. Origineller ist seine Behauptung, Blocher sei das «genaue Gegenteil eines Strategen, der sich immer unter Kontrolle hat». Denn dieser könne, wenn allzu siegesgewiss, jede Selbstbeherrschung verlieren und sich Rachegelüsten hingeben.
Das mag etwa für Blochers Abwahl aus dem Bundesrat 2007 zutreffen, die dieser mit taktischen Fehlern begünstigte und lange nicht akzeptieren konnte. Aber dass er sich «in der Gnade Gottes» versteht, macht ihn dann doch wieder zum Strategen im Verfolgen grundsätzlicher Ziele. Wichtiger als die Analyse des Phänotyps Blocher bleibt allerdings die Frage, warum sich so viele Menschen weiterhin hinter ihn und die SVP scharen.
Im Handmenge befand sich Vischer 2010 bei der Debatte zur infamen SVP-Ausschaffungsinitiative, da er als Kontrahent zu SVP-Veranstaltungen eingeladen oder aufgeboten wurde und ihm dabei «aufgestauter Hass» entgegenschlug. Dabei habe die angeheizte Stimmung gar nichts mit der konkreten Initiative zu tun gehabt, sondern habe sich einerseits ganz generell gegen das Konstrukt «gewalttätiger Ausländer», andererseits aber auch gegen den «Typ des urbanen rot-grünen Intellektuellen» gerichtet. Scharf ging Vischer aber auch mit dem Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative ins Gericht, weil dieser den Vorurteilen einer angeblich zu milden Gerichtspraxis bei Ausschaffungen entgegengekommen sei. So habe «der Gegenvorschlag der SVP-Initiative genützt, statt sie auszuhebeln».
Von heute aus gesehen: Wenn die SVP das Feindbild des städtischen Intellektuellen in den forcierten Gegensatz von Stadt und Land einbinden will, dann übersieht sie womöglich die sich vermischenden Identitäten in den Agglomerationen, die ja wellenförmig auch von der SP als wichtiger Kampfplatz anerkannt werden.
Den Abschluss des Buchs macht eine kurze Skizze zu den «vier politischen Blöcken» in der Schweiz. Ausbaufähig wäre hier Vischers Versuch, insbesondere die Mitteparteien, aber teilweise auch die SP in ihrer Rolle als «ideeller Gesamtkapitalist» zu analysieren, das heisst zur Aufrechterhaltung einigermassen sozial abgefederter Infrastrukturbedingungen für die kapitalistische Privatwirtschaft. Dabei werde der Kampf um Koalitionen zusehends schwieriger. «Allenfalls bei den Eisenbahnen zeigt sich noch heute, was in anderen Bereichen möglich war und sein könnte.» Natürlich verbleibe die SP damit im Rahmen ihrer Wachstumsgläubigkeit, zu der auch die Grünen bislang keine überzeugenden Alternativangebote entwickelt hätten.
Und was hat es mit dem Fussball auf sich? Hans Fässler hat kürzlich in der WOZ eine vernichtende Kritik geliefert, dass man als Linker mit Profifussball, ja Profisport nichts zu tun haben könne und dürfe (siehe WOZ Nr. 26/21 vom 1.7.21). Der Fussballfan Vischer greift dagegen, wie alle Fans, auf das alte Argument emotionaler Sozialisierungen zurück. Fussballimmanent gesprochen: Er kann die ganz früh entstandene Loyalität mit Real Madrid selbst angesichts der franquistischen Vergangenheit des Clubs nicht zugunsten einer Unterstützung des demokratisch organisierten FC Barcelona aufgeben. Im Übrigen: Wie schnell ist das einst mächtige, angeblich demokratische Barcelona gefallen. Der Profifussball ist ein Korruptionssumpf und Opium des Volks. Was seine emotionale Attraktivität nicht schmälert.
Daniel Vischer: «Eckdaten. Linke Politik und rechter Fussball». Edition 8, Zürich 2021. 328 Seiten, 26 Franken.