Der Buchtitel dieses neuen Sammelbands trifft die aktuelle Lage: Der populistische Planet. Populismus scheint heute global und endemisch, von den USA bis nach Indien. Acht GesprächspartnerInnen aus vier Kontinenten versuchen, sich brieflich darüber zu verständigen. Dabei wird schnell klar: Im Westen mag der Populismus erst in jüngster Zeit – oder erst seit neustem wieder – drängend geworden sein, in Indien oder Afrika herrscht er seit siebzig Jahren. So belegt der indische Dalit-Aktivist Naren Bedide, dass sich die indische Kongresspartei selbst unter Mahatma Gandhi populistischer Mechanismen bediente, die bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschloss; und die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor kann sich angesichts der Tatsache, dass der Westen endlich von den bislang exportierten politischen Zerfallserscheinungen eingeholt wird, «ein wenig Schadenfreude» nicht verkneifen.
Tatsächlich ist Populismus nicht nur allgegenwärtig, sondern er kann bereits als Totschlagargument eingesetzt werden. Im Tages-Anzeiger vom 18. August schreibt Edgar Schuler, es sei ebenso unüberlegt wie populistisch, die Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen in die Schweiz zu fordern. Abgesehen von der moralisch korrupten Argumentation ist der Gebrauch des Worts bemerkenswert: Populistisch heisst hier schlichtweg unseriös. Auch Gewerbeverbandspräsident Fabio Regazzi (CVP) nennt die 99-Prozent-Initiative eine «populistische Initiative» und billigt ihr entsprechende Kräfte zu: «dagegen anzukämpfen, ist immer schwierig» (Tages-Anzeiger, 30.8.21).
Was Populismus ist, scheint also im öffentlichen Diskurs klar. Allerdings wird dessen Lebenskraft unterschiedlich eingeschätzt. Wird der Trumpismus nach Trump überleben?, hat der Politologe Jan-Werner Müller gleich nach dessen Abwahl gefragt und die Antwort gegeben: in dieser Form nicht, weil die Person und die Figur Trump für seine Bewegung unersetzlich sind. Was künftige andersartige Massenbewegungen nicht verhindere (The Guardian, 9. 11. 2020). Andere KommentatorInnen sahen in Trumps Niederlage einen grundsätzlichen Rückschlag für rechtspopulistische Bewegungen weltweit. Dagegen behauptet sich in Brasilien der rechtsradikale Populist Bolsonaro trotz seiner menschenverachtenden, ja tödlichen Politik an der Macht und erfreut sich weiterhin hoher Zustimmungsraten.
Der Erfolg dieses breit gefassten Populismus wird in der aktuellen Diskussion mit zwei gegensätzlichen Gründen erklärt. Einerseits soll er, gemäss einem ökonomischen Ansatz, eine politische Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen der neuen globalisierten Wirtschaft sein. Andererseits wird er als Kampf unterschiedlicher Werte interpretiert, wobei sozial konservative Schichten ihre Identität in Gefahr glauben. Beide Erklärungen treffen sich darin, dass sie als HauptträgerInnen populistischer Bewegungen «GlobalisierungsverliererInnen» sehen.
Vier Ökonomien
Der deutsche Politologe Philip Manow hat 2018 eine Studie vorgelegt, die sich entschieden auf die Seite eines ökonomischen Ansatzes schlägt und eine Politische Ökonomie des Populismus liefern will. Die Abkehr von der vorherrschenden Wertediskussion und die Rückkehr zu ökonomischen Analysen ist in manchem überzeugend. Manow unterscheidet regionale Varianten des Populismus, die aus unterschiedlichen Ökonomien entstünden. Tatsächlich äussert sich die Globalisierung unterschiedlich, je nachdem, ob mehr die neuen globalen Waren/Geld-Ströme oder die neue Migration von Arbeitskräften dominieren. Manow unterscheidet vier politische Ökonomien (er spricht von vier Kapitalismen; in kritischer Sicht handelt es sich um vier unterschiedliche kapitalistische Akkumulationsregimes). Kontinental- bzw. Nordeuropa (Frankreich, Deutschland, Benelux, Schweiz sowie Skandinavien) sind exportorientiert mit einer formellen Wirtschaft und einem (relativ) starken Sozialstaat. Südeuropäische Wirtschaften setzen eher auf den Binnenmarkt; einem informellen Arbeitsmarkt mit Klientelismus entspricht ein relativ schwacher Sozialstaat. Osteuropa ist durch Migration und Kapitalimport subaltern an die globale Wirtschaft angebunden, bei schwachem Sozialstaat; das angelsächsische neoliberale Modell verhält sich aggressiv im Weltmarkt, bei zunehmend geschwächtem Sozialstaat.
Manow belegt das mit vielen Statistiken. Aus seiner Analyse folgt eine These zum Rechts- bzw. Linkspopulismus. Sein Ausgangspunkt ist die für Linke enervierende Tatsache, dass in Nordeuropa bei Meinungsumfragen an erster Stelle des so genannten «Sorgenbarometers» die Migration steht; dagegen ist es in Südeuropa die allgemeine Wirtschaftslage. In den am meisten entwickelten europäischen Industriestaaten würden MigrantInnen nicht so sehr als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, sondern vor allem als «Schmarotzer» im Sozialstaat wahrgenommen – deshalb die Ausländerfeindlichkeit. In Südeuropa dominiere angesichts der in den Heimatmarkt eindringenden Exportoffensiven der nördlichen Industriestaaten die Angst um den Arbeitsplatz – die MigrantInnen spielten angesichts des herrschenden Klientelismus auf dem Arbeitsmarkt nicht so eine grosse Rolle, weshalb auch die Ausländerthematik nicht so virulent sei. Letztere Aussage wird die vielen Flüchtlinge in Süditalien oder in Griechenland nicht gerade überzeugen oder beruhigen.
Tendenziell aber stimmt die von Manow portierte These, dass die unterschiedlichen Ökonomien unterschiedliche politische Reaktionen hervorrufen. So habe die Ausländerfeindlichkeit in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, den skandinavischen Ländern den Rechtspopulismus gestärkt. In Südeuropa hingegen werde die Globalisierung vor allem als Übergriff des Kapitals wahrgenommen, deshalb seien in Griechenland und Spanien linkspopulistische Bewegungen entstanden. Italien bestätige die These im Kleinen: Im industrialisierten Norden dominiert die fremdenfeindliche Lega, im traditionelleren Mittel- und Süditalien die Bewegung der Fünf Sterne, die Manow, etwas forciert, als linkspopulistisch einstuft.
Arbeiterklasse oder Mittelstand?
Woher rekrutieren sich diese Bewegungen sozial gesehen? Manow wertet auch hier umfangreiche Statistiken aus und kommt zum Resultat, es seien gerade nicht die «GlobalisierungsverliererInnen», die solche Bewegungen trügen. Ausschlaggebend sei nicht die aktuelle Wirtschaftslage und damit die aktuelle Abstiegsangst, sondern die Abstiegsangst aus früheren Erfahrungen, etwa der Börsenkrise. Davon betroffen seien nicht in erster Linie die Reste der «Arbeiterklasse», sondern der Mittelstand. Das ist nicht ganz neu, denn die bürgerliche Klientel der AfD ist seit einiger Zeit festgestellt worden, aber in der Deutlichkeit der ausgewerteten Statistiken doch verblüffend.
So weit so aufschlussreich. Ein Loch klafft allerdings in Manows Theorie, weil er Populismus nicht definiert, sondern voraussetzt. Populismus wird dabei an der Identifikation mit oppositionellen Parteien und Bewegungen festgemacht, ja, letztlich wird er eingedampft auf eine Oppositionshaltung. Wer gegen die herrschenden Regierungsparteien ist, ist populistisch. Aber das klammert die ja nicht gerade seltenen Populisten an der Macht und deren AnhängerInnen aus. Daraus folgt ein zweites Manko: So differenziert Manow die Frage mit seinen vier politischen Ökonomien und den entsprechenden politischen Reaktionsweisen angeht, so drückt immer wieder ein Ökonomismus durch. Die verschiedenen Populismen werden als zwangsläufiges Resultat ökonomischer Entwicklungen verstanden. Entsprechend kümmert sich Manow kaum um die Frage, von wem und wie sie politisch hergestellt bzw. befördert werden.
Zu diesen politischen Aspekten liegen unter anderem Studien von Jan-Werner Müller und Pierre Rosanvallon vor. Müllers knappes Buch Was ist Populismus?, von ihm selbst als Essay bezeichnet, ist das wohl erfolgreichste auf dem Markt der Populismus-Studien. 2016 erstmals erschienen, liegt es mittlerweile in der sechsten Auflage vor. Das Buch ist verständlich, eingängig, zuweilen witzig geschrieben. Müller ist sozusagen das Spiegelbild zu Manow. Während Manow von der statistisch belegten Empirie oppositionellen Wahlverhaltens ausgeht und diesem dann den Populismus zuordnet, geht Müller von einer fixen Definition des Populismus aus und sucht diesen dann in Theorie und Praxis sozialer Bewegungen. Der Populismus arbeitet für Müller mit der Setzung des Volks als geschlossener, damit auch ausschliessender Einheit, er ist antipluralistisch und damit antidemokratisch. Aber das ist beinahe ein Zirkelschluss: Ein Populist ist jemand, der antipluralistisch und antidemokratisch ist, also ist einer, der antidemokratisch und antipluralistisch ist, ein Populist. Der Vorteil: Müller kann so eine entschiedene Kampfansage an den Populismus formulieren und die demokratischen Verfahren dagegen mobilisieren. Seine Paradebeispiele sind Viktor Orban und Hugo Chavez. Das hat zuweilen einen Geruch der unseligen Totalitarismustheorie; aber leider muss man vielen seiner kritischen Beschreibungen zur Politik von Chavez zustimmen. Theoretisch, selbst demokratiethoretisch bleibt das freilich ein wenig dünn. Müller konzentriert sich vor allem auf die Verteidigung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gegen die instrumentell eingesetzten Plebiszite; die Gewaltenteilung, die von den Populisten ebenfalls bestritten wird, scheint mir dagegen die wichtigere demokratische Errungenschaft.
Der französische Soziologe Pierre Rosanvallon verbindet im Gegensatz zu den andern Ansätzen wirtschaftliche und politische Analysen. Sein Buch Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte. Theorie. Kritik ist die bislang reichhaltigste, differenzierteste Studie.
Fünf Grundelemente des Populismus macht Rosanvallon im ersten Teil seiner Studie aus: Ein Volk wird konstruiert, das als einheitliches gegen alle andern Gesellschaftsmitglieder gesetzt wird; das Repräsentationsprinzip in der Demokratie wird verworfen und dagegen die Evidenz des «Gemeinwillens» und von Volksabstimmungen gesetzt, samt Kritik der Legislative; statt der klassischen Parteiform wird eine Bewegung mit Führungsfigur aufgebaut; ein wirtschaftspolitischer Protektionismus wird zugleich als Nationalprotektionismus gegen die Migration angeboten; Leidenschaften und Emotionen werden gegen die Technokratie und das ExpertInnentum bewirtschaftet.
Der plötzliche Charme der Volksabstimmung
Diese Passagen sind glänzend und überaus verständlich geschrieben. Alle Grundelemente sind auch schon andernorts in Zusammenhang mit dem Populismus gebracht worden
, aber überzeugend ist es, wie Rosanvallon das Zusammenspiel mehrerer Faktoren detailgenau analysiert. Sein Material liefern vor allem die USA, Frankreich und Lateinamerika. Andere Brutstätten des Rechtspopulismus wie Deutschland und Italien werden nur gestreift; die Schweiz wird als Bezugspunkt für den plötzlichen Charme von Volksabstimmungen erwähnt, ohne deren spezifische Mechanismus zu studieren.
Als ein besonderes Element führt Rosanvallon das Konzept des «Homme-peuple» ein. Als Beispiel dient ihm Napoleon III. während dessen Herrschaft in Frankreich von 1851 bis 1870. Napoleon reiste im Land umher, um sich die Sorgen des «Volks» anzuhören, und gab sich nachher nicht etwa als dessen Repräsentant, sondern als «das Volk selbst» aus, als dessen geradezu gottgegebener Wille. «Homme-peuple» ist nur schwer übersetzbar: Soll man sich mit dem merkwürdig klingenden «Volks-Mann» begnügen, oder wäre «Mann des Volks» besser, wobei der, wie beim berühmten «Opium des Volks», nicht von aussen, instrumentell, sondern als Bestandteil des Volks gedacht ist? Entscheidend ist dabei, dass er offiziell das blosse Repräsentationsprinzips ablehnt und dagegen die «Verschmelzung» mit dem Volk setzt; zugleich rettet er praktisch das hierarchische Führerprinzip.
War (und ist) Trump ein Homme-peuple? Es gab Ansätze dazu, doch sie sind von ihm nicht ausgearbeitet worden. Die 74 Millionen, die für ihn gestimmt haben und ihm weitgehend die Treue halten, wollen glauben, dass er sie versteht und vertritt. Aber er geht nicht zu den Menschen, um sie kennenzulernen, er kennt sie ja schon, und sie ihn. Die in den Medien geschaffene Figur Trump ist ihre eigene Rechtfertigung. Er bietet sich weder als Repräsentant noch als Verkörperung des Volks an, sondern als Vorbild, an das sich die anderen angleichen sollen. Im (behaupteten) Milliardär, der seinen (behaupteten) Reichtum schamlos zur Schau stellt, wird das meritokratische Versprechen sozialen Aufstiegs sichtbar. Das hat eine aktivierende Potenz, was seine Bewegung so virulent macht.
Für den Homme-peuple gibt es dagegen mehr oder weniger krasse Beispiele auf der Linken, von Hugo Chavez bis zu Jean-Luc Melénchon. Von letzterem zitiert Rosanvallon etliche bezeichnende Aussagen, etwa «ich bin mehr als Jean-Luc Mélenchon, ich bin 7 Millionen Personen». Entsprechend hat Rosanvallon für den Linkspopulismus nicht viel Sympathien übrig. So wirft er deren HaupttheoretikerInnen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor, «das Volk» als starre Grösse zu setzen, letztlich einen essenzialistischen Volksbegriff zu vertreten; selbst in der Formulierung von den 99 Prozent unten gegen die 1 Prozent oben äussere sich das rechtskonservative Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt.
Gegenüber solch konziser Gesamtanalyse bleibt der Sammelband zum populistischen Planeten, wohl notgedrungen, disparat. Es gibt darin, jenseits des Populismus-Themas, aufschlussreiche Analysen der aktuellen Situation in einzelnen Ländern, etwa von Maria Stepanova zu Russland oder von Youssef Rakha zu Ägypten. Es gibt auch anregende Begriffe, die die kurz nach Beginn des Briefwechsels verstorbene Agnes Heller in die Debatte geworfen hat, etwa eine Unterscheidung zwischen Populismus (der sich auf einen möglichst breiten Volksbegriff bezieht) und Ethnonationalismus (der sich auf ein «Kernvolk» bezieht); anschaulich sind auch ein paar konkrete Bemerkungen zur, theoretisch allerdings subkomplex gefassten, Refeudalisierung. Aber dann legt sich die Covid-Pandemie über die globale Kommunikation, und die Beschreibungen werden grundsätzlicher, damit abstrakter, und beinahe apokalyptisch.
Fürs Repräsentationsprinzip
Pierre Rosanvallon erklärt in seinem Buch, durchaus ehrenwert, eine Kritik könne sich nicht vor der Formulierung von Alternativen drücken. Einen entsprechenden Versuch unternimmt er im dritten Teil. Dabei wird der Akzent, der bislang doch ökonomiepolitische Aspekte immer mit berücksichtigte verschoben. Populistischen Positionen wird jetzt vor allem ein anderes demokratietheoretisches Konzept entgegengestellt. Detailliert begründet Rosanvallon zum Beispiel, warum sich das Repräsentationsprinzip nicht vollständig durch «direktdemokratische» Formen ersetzen lasse. Damit knüpft er an dem an, was er in seinem Buch «Die gute Regierung» (französisch 2015, deutsch 2016) begonnen hat.
Auch Rosanvallons Alternativen lassen aber die Frage offen, wie der Populismus zu bekämpfen wäre, wie Menschen von ihren populistischen Positionen abgebracht werden könnten. Natürlich, er versichert, Demokratie verwirkliche sich nur in der konkreten Ausübung, DemokratInnen entstünden also in der Praxis vielfältiger Handlungen. Aber letztlich vertraut auch er auf die Kraft des überzeugenden Arguments in Sprachhandlungen. Zudem wird Demokratie aufs politische Feld beschränkt; Wirtschaftsdemokratie kommt nicht einmal als Stichwort vor. Verstehen lässt sich der Populismus nach Rosanvallons Buch besser, bekämpfen weiterhin nur unzulänglich.
Der populistische Planet. Berichte aus einer Welt im Aufruhr. Mit Beiträgen von Naren Bedide, Agnes Heller, Jonas Lüscher, Yvonne Adhiambo Owuor, Carol Pires, Youssef Rakha, Maria Stepanova und Michael Zichy. C.H. Beck, München 2021. 192 Seiten.
Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus. Edition suhrkamp. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 178 Seiten.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay. Sonderdruck edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 160 Seiten.
Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte. Theorie. Kritik. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2020. 266 Seiten.