Wilhelm Reichs Verbindung von Sexualität und revolutionärer Politik war eine Pionierleistung. Sie hat, im Widerstreit, sogar Resonanz bis in die Populärkultur gefunden. Und seine kritischen Analysen zum Alltagsbewusstsein sind weiterhin anregend und fruchtbar.
Bei der mir vorliegenden Ausgabezur «Massenpsychologie des Faschismus» muss es sich wohl doch um einen späteren Raubdruck handeln. Obwohl: Das Kleinformat, 14 mal 11 cm, und das Titelbild entsprechen der Originalausgabe von 1933, auch die Typografie und der schlechte Druck. Aber die Originalausgabe hat einen roten Umschlag und nennt auf der Innenseite den «Verlag für Sexualpolitik» in Kopenhagen – Prag – Zürich als Herausgeber. Dieser Hinweis fehlt hier. Offenbar ist die Ausgabe ein fotomechanischer Nachdruck des Originals, wobei das Titelbild – ohne Verlagshinweis – ebenfalls übernommen wurde, allerdings als erste Innenseite nach links gerückt worden ist, während ein der Originalausgabe nachempfundenes, neu gestaltetes Titelblatt in Broschur um den Band gelegt worden ist. Textlich handelt es sich um die zweite Auflage aus dem Jahr 1934.
Mit der «Massenpsychologie des Faschismus» hatte Wilhelm Reich (1897 – 1957) der orthodoxen kommunistischen Interpretation des deutschen Faschismus, die sozioökonomische Gesichtspunkte betonte, eine psychoanalytische Dimension hinzugefügt beziehungsweise entgegengestellt. Der Untertitel «Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik» verkündete zugleich ein Programm, mit dem man gegen den Faschismus ankämpfen sollte oder hätte ankämpfen sollen. Im Gefolge von 1968 wurde der lange verfemte Wilhelm Reich wieder entdeckt, und in diesem Zusammenhang erfolgte offenbar auch der vorliegende Raubdruck. Im Internet-Antiquariatshandel werden drei solcher Raubdrucke angeboten, einer von 1970, dann ein «Junius-Druck» von 1972 und schliesslich eine Ausgabe der Anarcho-Press um circa 1980. Aber das Titelbild der vorliegenden Ausgabe stimmt mit keinem dieser drei überein; bei letzterer ist beispielsweise, nicht ganz anarchistisch, auf dem Umschlag ein Preis von «4 DM» vermerkt. Später wurde das Buch gar massenmarktfähig; ich besitze eine Ex-Libris-Ausgabe von Anfang der 1980er Jahre, aus einer Zeit, als Ex Libris nicht nur eine seriöse Buchgemeinschaft war, sondern sogar ein seriöser Verlag. Allerdings fehlt in dieser Ausgabe hinwiederum der Untertitel zur «proletarischen Sexualpolitik»: Das hätte die bildungsbürgerlichen Sensibilitäten vielleicht doch ein bisschen zu stark verletzt.
Wohl ebenfalls aus dem gleichen 68er-Milieu stammt ein Raubdruck von Reichs «Charakteranalyse»: gleiches Kleinformat, gleiches Papier. Hier allerdings ist auf dem Innenblatt vermerkt «Im Selbstverlage des Verfassers». Diese beiden 1933 erschienenen Bücher von Reich sind zentrale Werke des Freudo-Marxismus, mit einer ebenso verwickelten wie weit reichenden Rezeption. Reich selbst beschäftigte sich später mit eher esoterisch anmutenden Themen, etwa mit der von ihm so genannten Orgonenergie, auch mit parapsychologischen Experimenten.
Regen machen
Die haben es sogar in die Popmusik geschafft. 1985 veröffentlichte die unvergleichliche Kate Bush ein Lied, das mit den Zeilen beginnt: «I still dream of Orgonon». Orgonon war die Heimatstätte und zugleich das Laboratorium von Wilhelm Reich ab 1943 in Maine/USA gewesen. Der Song heisst «Cloudbusting», und er handelt von jener Maschine, die Reich Anfang der 1950er Jahre entworfen hatte, um die Wolken zu teilen und Regen zu machen. Ja, Regen zu machen. Nun ist man sich von Kate Bush Etliches gewöhnt; sie hat mal ein Lied geschrieben, in dem die häuslichen Wonnen einer Waschmaschine beschrieben werden. Aber wie ist sie bloss auf Reichs Orgonon gekommen, und was hat es mit der Regenmaschine auf sich? Sie selbst hat berichtet, dass sie kaum etwas von Wilhelm Reich wusste, als sie den Song schrieb. Angestossen wurde der vielmehr durch das «Book of Dreams» von Peter Reich. Der Sohn von Wilhelm Reich, 1944 geboren, hatte seinen Vater nur als Heranwachsender erlebt, da Wilhelm Reich 1957 während einer politisch motivierten Gefängnisstrafe gestorben war. 1973 veröffentlichte Peter Reich eine lyrische Evokation an den verlorenen Vater, der ihm als faszinierender Schamane erscheinen wollte. Die Mischung musste Bush ansprechen, und fürs entsprechende Musikvideo gewann sie den Schauspieler Donald Sutherland, der ein paar Jahre zuvor tatsächlich mal Wilhelm Reich gelesen hatte, für eine Rolle in Bernardo Bertoluccis «Novecento» (1976). Das Video, mit Kate Bush als staunendem Buben, lässt sich heute nur noch aus ethnologischer Distanz beobachten, siehe https://www.youtube.com/watch?v=pllRW9wETzw. Aber darüber legt sich der weiterhin betörende Sound mit seinem insistierenden Rhythmus, der ein Kind, einen Sohn auf der Suche nach seinem Vater zwischen Verzweiflung und Hoffnung zeigt. Nachdem «the men in power» gekommen sind, um den Vater abzuführen, gelingt es dem Jungen, die Regenmaschine in Gang zu setzen, und als Regen niederprasselt, wird die Geschichte im Crescendo zur Emanzipationsgeschichte: «The sun’s coming out / your son’s coming out» – wobei das Coming Out noch keine explizit sexualpolitische Komponente hatte, obwohl das zu Wilhelm Reichs Werk gepasst hätte.
Bis zu seinem dramatischen und tragischen Ende hatte Reich einen weiten, konfliktreichen Weg zurückgelegt. Als brillanter Student war er bereits 1920 in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen worden und von Freud als einer von dessen – nicht ganz seltenen – Ziehsöhnen geschätzt worden. In wenigen Jahren schrieb er beinahe zwei Dutzend originelle Aufsätze zur psychoanalytischen Theorie. Dabei verschärfte Reich Freuds Libido- zu einer Orgasmustheorie. In der «Funktion des Orgasmus» (1927) wurde die seelische Gesundheit ganz dem Ausleben der orgiastischen Potenz überantwortet. Zugleich trieb er die Politisierung der Psychoanalyse voran. 1927 war er unter dem Eindruck der Julirevolte in Wien – als protestierende ArbeiterInnnen wegen eines Skandalurteils den Justizpalast gestürmt hatten und dabei von der sozialdemokratisch geführten Polizei 84 Menschen erschossen wurden sowie fünf Polizisten ums Leben kamen– insgeheim der KPÖ beigetreten, obwohl er offiziell Mitglied der österreichischen Sozialdemokraten blieb. In einer eigenen Praxis betrieb er klinisch-therapeutische Arbeit mit Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu und begann den Aufbau eines sexualpolitischen Netzwerks. Ursprünglich von der KPÖ unterstützt, wurde er im Januar 1930 aus dieser wegen «spalterischen Aktivitäten» ausgeschlossen. Er ging nach Berlin, trat der KPD bei und gründete den Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol. Kaum drei Jahre später wurde er auch aus der KPD ausgeschlossen. Nach der Machtübernahme der Nazis emigrierte er zuerst zurück nach Wien, dann nach Skandinavien.
Kritik des Alltagsbewusstseins
Dort publizierte er im Eigenverlag die «Massenpsychologie des Faschismus». Sie rechnet mit den verkürzten Einschätzungen des Faschismus ab und legt das Gewicht auf die reaktionäre Familienideologie, der auch viele Arbeiter erlegen seien. In historischen und aktuellen Analysen erkennt Reich die Unterdrückung der Sexualität als wichtigstes Instrument für die Durchsetzung einer autoritären Ideologie. Individualpsychologisch setzt er eine grundlegende Sexualökonomie an, das heisst die Art und Weise, wie ein Individuum mit seiner biologischen Energie umgeht, diese eindämmt oder orgiastisch entlädt. Orgiastische Impotenz charakterisiere den gegenwärtigen Durchschnittsmenschen und verursache biopathische (krankhafte) Symptome und gesellschaftliche Neurotisierungen. Durch Eindämmung und Umleitung der Sexualität seien mystische Irrationalismen und letztlich auch der Faschismus möglich geworden. Dagegen propagierte Reich die Freisetzung der Sexualenergie, mit einer Sexualpolitik, wie er sie zuvor schon in seiner klinischen Praxis erprobt hatte.
Die Politisch-philosophische Bibliothek f im bücherraum f enthält neben den beiden oben geschilderten noch einen dritten Raubdruck von Reich. Unter dem Pseudonym Ernst Parell hatte dieser im Jahr 1934 die Broschüre «Was ist Klassenbewusstsein?» veröffentlicht, in seinem «Verlag für Sexualpolitik» als Nummer 1 der «Politisch-Psychologischen Schriftenreihe der Sex-pol». Beabsichtigt war damit nichts weniger als ein Beitrag zur «Neuformierung der Arbeiterbewegung». Das war ein verschärfter Angriff auf die orthodox kommunistische Linie, und zwar unmittelbar auf dem Gebiet der politischen Mobilisierung. Den kommunistischen Parteien warf er vor, das Klassenbewusstsein mechanistisch zu verstehen. «Die bisherige marxistischrevolutionäre Politik setzte ein Klassenbewusstsein im Proletariat als fertig vorhanden voraus, ohne es detaillieren, konkretisieren zu können. Das Klassenbewusstsein der Masse ist nicht fertig formuliert, wie die KP-Führung glaubte, fehlt auch nicht völlig und ist auch anders strukturiert, wie die SP-Führung meinte; es ist vielmehr in konkreten Elementen vorhanden, die an sich noch nicht Klassenbewusstsein sind (etwa blosser Hunger), es aber wohl in ihrer Zusammenfassung ergeben könnten; diese Elemente sind auch nicht rein vorhanden, sondern durchsetzt, vermischt, durchwoben mit gegenteiligen psychischen Kräften und Inhalten.»
Reich geht in leninistischer Tradition weiterhin von der Notwendigkeit einer Avantgardepartei und avantgardistischen Führern aus. Die müssten über ein hohes theoretisches Bewusstsein in ökonomischen wie politischen Belangen verfügen. Allerdings müsse man in der politischen Arbeit berücksichtigen, dass sich das Klassenbewusstsein der normalen Mitglieder deutlich davon unterscheide. Dieses sei «an den russisch-japanischen oder englisch-amerikanischen Gegensätzen gänzlich uninteressiert, ebenso am Fortschritt der Produktivkräfte; es orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen dieses objektiven Geschehens in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen; sein Inhalt also ist das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im engsten Sinne, an den sexuellen Spielen und Vergnügungen im weiteren Sinne, wie Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestalt der Freizeit etc. Das Sein der Menschen und seine Bedingungen spiegeln, verankern, reproduzieren sich in ihrer seelischen Struktur, indem sie sie formen. Nur durch diese seelische Struktur hindurch ist der objektive Prozess für uns erreichbar, seine Hemmung wie seine Förderung und Beherrschung. Nur durch den Kopf des Menschen, durch seinen Willen zur Arbeit und sein Sehnen nach Lebensglück, kurz seine psychische Existenz schaffen wir, konsumieren wir, verändern wir die Welt.»
Diese Betonung des vielfältig, auch widersprüchlich zusammengesetzten Alltagsbewusstseins, wie des Alltags überhaupt tönt wie aus den «Gefängnisheften» von Antonio Gramsci. So wie ja auch das erste Kapitel der «Massenpsychologie», «Die Ideologie als materielle Gewalt», viel später ein lautes Echo bei Louis Althusser gefunden hat.
Ausschlüsse
Reichs Freudo-Marxismus bereitete beiden Teilen des versuchten Bündnisses keine Freude. Parallel zum Ausschluss aus den kommunistischen Parteien wurde Reich auch aus der psychoanalytischen Bewegung vertrieben. Sigmund Freud selbst hatte sich bald von seinem ehemaligen Schüler distanziert, da dieser Freuds Todestrieb als Konzept ablehnte und den politischen Einsatz der Psychoanalyse gegen den Faschismus verlangt hatte. Im März 1933 teilte Freud Wilhelm Reich mit, das die Leitung des Internationalen Psychoanalytischen Verlags von einem mit Reich abgeschlossenen Vertrag zur Herausgabe von dessen «Charakteranalyse» zurücktrete, und zwar «mit Rücksicht auf die politischen Verhältnisse» – im Klartext: Eine Veröffentlichung des jüdischen Kommunisten Reich hätte die Stellung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) in Deutschland geschwächt. Im August 1934 wurde Reich auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern aus der IPV ausgeschlossen, offenbar auf Antrag der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). In der Politisch-philosophischen Bibliothek f findet sich als Nachdruck von 1978 eine Stellungnahme aus dem Jahr 1934, die vermutlich von Reich selbst stammt, in der er sich gegen die verunglimpfende Darstellung wehrt, er sei aus freien Stücken aus der DPG und damit auch aus der IPV ausgetreten. Laut späterer kritischer Lesart war Reichs Ausschluss Teil einer «Gleichschaltung» der DPG mit dem Medizinbetrieb des NS-Staates, den Freud um des Überlebens seiner Schule willen mittrug, ja, es scheint sogar, dass er den Ausschluss Reichs aktiv gefordert und gefördert hatte.
In Norwegen von einer kleinen Gruppe unterstützt, aber im deutschsprachigen Raum beruflich seiner letzten Stützpunkte beraubt, flüchtete Wilhelm Reich 1939 in die USA und baute dort eine neue Klinik auf. 1944 überarbeitete er die «Massenpsychologie» zu einer dritten Fassung, die seither allen Neuauflagen zugrunde liegt. Dabei hält er sich immer noch an das vorgegebene politische und theoretische Gerüst. Allerdings nimmt er terminologische Veränderungen vor, die sich seines Erachtens aus soziologischen Entwicklungen ergäben, etwa wenn er «Proletarier» durch «Arbeitende» ersetzt. Und er baut die Kritik an der sowjetisch-stalinistischen Sexualpolitik aus. Zuweilen drängt auch die von Reich in der Zwischenzeit entwickelte Theorie der biologischen Verfasstheit des Menschen den ideologietheoretischen Ansatz zurück. Denn Reich vertrat mittlerweile ein Dreischichtenmodell, wie er im Vorwort von 1944 erläuterte: Unter der gesellschaftlich bedingten oberflächlichen Schicht der sozialen Charaktere und dem freudschen Unbewussten liege als dritte Schicht ein biologischer Kern, der inhärent gut und edel sei. Was auch plötzlich eine andere politische Strategie erfordert und ermöglicht: «Der internationale Faschismus wird nie durch politische Manöver besiegt werden. Er wird der internationalen natürlichen Organisation der Arbeit, der Liebe und des Wissen erliegen.» Doch bleibt das Buch in weiten Strecken anregend, weil es sich auch nach der Überarbeitung weitgehend auf die Mechanismen konzentriert, wie das Unbewusste in Irrationalitäten ebenso wie in bewusste Ideologien umgearbeitet wird.
Nachwirkungen
Dabei war Reich längst in entferntere Gefilde vorangeschritten. Zwischen 1936 und 1940 hatte er die «Orgonenergie» als «kosmische Urenergie» entdeckt, die er mit naturwissenschaftlichen Spekulationen und empirischen Experimenten nachweisen zu können glaubte. Als praktische Behandlungstherapie sollte die atmosphärische Orgonenergie mittels eines «Orgonenergie-Akkumulators» konzentriert werden, um die gefesselten vegetativen Energien der Menschen und der Natur zu entbinden. 1973 spielten die SF-Rocker von Hawkwind das Stück «Orgone Accumulator» ein, ein wilder elektronischer Ritt, in der die Energetik der Musik die Frage hinfällig macht, wie ernst die textliche Bezugnahme gemeint sei; siehe https://www.youtube.com/watch?v=MPISXvQwm_E.
Reich beteiligte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch an der zeitgenössischen Suche nach der Sichtung von Ufos; ja, er behauptete, mit seinem Cloudbuster einmal ein solches Ufo neutralisiert zu haben. Die parapsychologischen Experimente weckten während des Kalten Kriegs sowohl das Interesse wie den Verdacht der US-amerikanischen Behörden; 1956 wurde Reich verhaftet und zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er die Strafe im März 1957 angetreten hatte, verstarb er am 3. November im Gefängnis, nach offizieller Version an Herzversagen.
Helmut Dahmer hat, in fundierter, nicht unfreundlicher Auseinandersetzung gemeint: «Reichs Lebenswerk ist die konsequente Entfaltung einer naturalistischen, aus Freuds Trieblehre destillierten Anthropologie zu einer naturwissenschaftlich aufgemachten, ontologisch gefassten Lebens- und Heilslehre.» Dabei hatte dieses Werk durchaus Wirkungen entfaltet. Erich Fromm übernahm Elemente für die Analyse des autoritären Charakters, ohne Reichs Vorarbeiten angemessen zu würdigen; auch die Gestalttherapie bediente sich bei dessen ursprünglich ganzheitlichem Ansatz. Die 68er-Bewegung griff Reichs sexualpolitische Schriften begierig auf. «Die Funktion des Orgasmus» (1927) und «Die sexuelle Revolution» (1945) gehörten bald zur Grundausstattung jeder WG. Dabei faszinierte sowohl der politisch revolutionäre Anspruch als auch die Tatsache, dass Reich an die Stelle der selbstreflexiven Aufklärung der eigenen Genitalität deren Apotheose setzte, die es mittels allerlei Techniken zu befreien galt. Umgekehrt wollten einige Reich-JüngerInnen insbesondere in den USA sein Erbe in ‹unverfälschter› Form weitertragen und versuchten und versuchen bis heute, auch seine technizistischen Experimente zur Orgonenergie durch die Zeitumstände zu rechtfertigen oder gar als Verwirrspiel von Reich gegenüber den US-amerikanischen wie den sowjetischen Geheimdiensten zu erklären. Kommt hinzu, dass die erst später veröffentlichten frühen Aufzeichnungen von Reich einen kaum reflektierten Umgang mit der eigenen Sexualität dokumentieren, bereits als Jugendlicher als Sohn eines mittelgrossen Landbesitzers mit Dienstmädchen und Prostituierten, später als Analytiker mit Patientinnen, wobei ihm Liebe, Triebe und Übertragung wiederholt durcheinander geraten. Wie so oft bei Pionieren ist sein Bild mittlerweile im Spiegelkabinett von Sektierereien, Beschuldigungen und Verschwörungstheorien verschwommen.
Dieser Text erschien zuerst in anderer Form auf der Website des bücherraums f, siehe https://www.buecherraumf.ch/laufendes.php. In der Politisch-philosophischen Bibliothek f im bücherraum f stehen zehn Titel von und fünf über Wilhelm Reich.
Andreas Peglau
Sehr geehrter Herr Howald,
da ich seit langem zu Reich forsche, mir zudem seine 1933er Massenpsychologie besonders wichtig ist, freue mich über Ihren Beitrag.
Vielleicht interessiert es Sie, dass im Januar im Psychosozial-Verlag Gießen der redigierte 1933er Originaltext erscheint:
https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/ein-marxistischer-psychoanalytiker-juedischer-herkunft-erlebt-das-ende-der-weimarer-republik/
In der letzten Woche habe ich Auszüge daraus als Hörbuch zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt:
https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/hoerbuch-wilhelm-reich-massenpsychologie-des-faschismus-1933/
Noch eine kleine Korrektur. Sie schreiben:
“Im August 1934 wurde Reich auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern aus der IPV ausgeschlossen, offenbar auf Antrag der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG).”
Reich wurde aber – auf ausdrücklichen Wunsch von Sigmund Freud – bereits im Juni 1933 aus der DPG ausgeschlossen. Das hatte automatisch zur Folge, dass er damit auch kein IPV-Mitglied mehr war. 1934, in Luzern, wurde es ihm nur mitgeteilt.
Freundliche Grüße
Andreas Peglau