Vom schwankenden Denken, von der Beweislosigkeit der Sprache, von der Literatur, ihrer Zuversicht und unserer.
In Alexander Kluges Film «Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos» von 1963 heisst es, dass sie als Artisten nur so tun, als könnten sie fliegen. Während sie im wirklichen Leben natürlich fliegen können. Dieses doppelte Fliegen ist für mich nach wie vor das, was Fliegen beziehungsweise Kunst ausmacht. Ein Fliegen, das die Ratlosigkeit des Artisten nutzt, um sich im Leben Flügel wachsen zu lassen. Im Widerspruch dieser beiden Vermögen hält sich die ganze schöne Spannung von Leben und Kunst auf, die wir nicht reduzieren können, nur immer wieder durchqueren und vermehren. Zwar kann ich im wirklichen Leben schreiben, aber als Schriftstellerin tue ich nur so. Alles, was ich an Schreibfähigkeiten im wirklichen Leben habe, gewinnt Bedeutung erst, indem ich sie vergessen und aufgeben kann, um an die mir eigene Sprache, ihre Dringlichkeit, ihr Stottern, ihre Genauigkeit zu kommen. So dass für mich die Kunst des Schreibens genau darin liegt, so zu tun, als könne ich schreiben. Nur so kann Kunst dem Unfertigen, dem Ungekonnten und Unabschliessbaren Raum zur freundlichen Aufnahme sein.
«Die Welt ist nichts als eine nie stillstehende Schaukel. Alles in ihr schwankt fort und fort. Auch Beständigkeit ist nichts als verlangsamtes Schaukeln. Ich kann nichts stillstellen. Alles bleibt schwankend und taumelnd, in ganz natürlicher Trunkenheit. Ich schildere nicht das Sein, ich schildere die Übergänge.» Das schreibt Montaigne. Auch ein Artist in der weiten Kuppel der Kunst. Seine fliegende Artistik möchte ich für meine folgenden Überlegungen beherzigen – denn sie schwanken, taumeln, suchen nach Verbindungen im Ungewissen, formulieren Übergänge. Wie anders sollen sie von der Literatur handeln können, ihrer Gegenwärtigkeit, ihrer zunehmenden Vermarktung, davon, wie sie mit Anträgen beschwert, um nicht zu sagen, bekämpft wird. Anträge, die mit Literatur nichts zu tun haben können, wenn sich diese nicht vollends untreu werden will.
Zunächst hatte ich den Wunsch, etwas zum aktuellen Literaturbetrieb zu schreiben, seiner zunehmenden Marktförmigkeit. Im Geschäft mit der Literatur hat sich das Siegerprinzip des zahlenmässig Vielen durchgesetzt, das uns alle gleichermassen einem Gesetz unterwirft, das zu befragen immer schwerer fällt. Es wirkt als Glaube an höhere, externe, institutionalisierte Autoritäten, deren Legitimität sich ganz von allein dadurch zu verstehen scheint, dass sie Mehrheiten auf ihrer Seite haben. Für die sie sprechen, urteilen, auswählen. Ich habe nichts gegen Glauben, wir alle glauben, aber solange wir ihn nicht reflektieren können, so lange wir uns seiner Prämissen nicht bewusst sind, so lange beherrscht er uns, und wir werden seinen Ansprüchen nie gerecht werden können. Glauben wir zum Beispiel, eine möglichst grosse Leserschaft bedeute, dass wir ein gutes Buch geschrieben haben, so wird die Leserschaft nie gross genug sein. Was sollen die Vielen mit Literatur zu tun haben können? Was sind das für Kriterien, die an Texte herangetragen werden? Dass der Literaturbetrieb in regelmässigen Abständen davon träumt, sich selbst nicht ausgeliefert zu sein, andere Kriterien als die der Quantität zu verfolgen, ist Teil seiner Marktförmigkeit und hält den Laden mit seinen Aufgeregtheiten am Laufen.
Den Betrieb zu kennen, wäre ein Irrglaube, genau so wie die Annahme, es gäbe etwas über das Geschäft und die Absatzzahlen hinaus, das ihn begeistern würde und damit auch die, die sich auf ihn beziehen. Viel zu lang dachte ich, dieser Betrieb, was er zu vergeben und zu sagen habe, wäre interessant für meine Arbeit als Schriftstellerin.
Im vergangenen Herbst musste der Stroemfeld Verlag, ehemals Roter Stern, mit Sitz in Frankfurt, Konkurs anmelden. Nun weiss ich nicht, was mit meinen drei letzten Büchern, die bei ihm erschienen sind, geschehen wird. Für den Herbst war eine Neuauflage meiner alten «Indiander» im Verlagsprospekt angekündigt, die Fahnen hatte ich schon korrigiert, und dann war alles sehr schnell gegangen. «Indiander», ein mir sehr liebes Buch, war erstmals 1996 beim Bruckner & Thünker Verlag erschienen. Es hatte, nachdem die erste Auflage recht schnell ausverkauft war, keine zweite Auflage gegeben, vorher war auch dieser Verlag in Konkurs gegangen. Zweimal hat das Buch wegen Verlagskonkurs keine weitere Auflage erlebt. Und langsam neige ich dazu, dass es an ihnen, den falsch geschriebenen, den anderen Indianern liegen muss, die sich im Buch ein Kind mit Rechtschreibschwäche, über sein Schreibheft gebeugt, erträumt. Der Traum dieses Kinds allerdings geht weiter, ob das Buch nun erscheint oder nicht. Und das ist, worüber ich hier viel lieber etwas zu schreiben versuchen möchte: von den Träumen und Welten, den vielen Geistern von Utopien, von der Hoffnung und der Zuversicht, die der Literatur innewohnen. In einem Interview mit David Lipski hatte der vor zehn Jahren verstorbene David Foster Wallace gesagt: «Ich habe nun einmal diesen unfassbaren Glauben eines Fünfjährigen daran, dass Kunst vollkommen magisch ist. Und dass gute Kunst etwas kann, was nichts sonst im ganzen Sonnensystem vermag. Und dass die guten Sachen weiterleben und gelesen werden und dass beim grossen Klären die Scheisse nach unten sinkt.» (FAZ 8.9.2018)
Die Erfahrung, dass ich schreibend mein Leben retten kann, habe ich in der Küche meiner Grossmutter gemacht. Ich war noch klein. Es war Nachmittag, sie sass über die Zeitung gebeugt, war vertieft, und ich empfand, wie weit fort sie war. Ein unheimliches Gefühl, dass die, die da neben mir sass, die mich beschützen sollte, fort war. Ich beobachtete sie, sie bemerkte mich nicht, schaute nicht auf. Ich hielt den Atem an, lauschte auf ihren Atem. Ja, sie lebte und war dennoch nicht da. Ich wusste, dass sie bei einem Fliegerangriff kurz vor dem Ende des zweiten Weltkriegs auf freiem Feld in den Rheinauen von Leverkusen von Tieffliegern überrascht worden war. Sie hatte sich auf den Boden gelegt, war ohnmächtig geworden, und als sie erwachte, war es ruhig. Totenstille, hatte ich sie sagen gehört, und in ihre Arme hatte sich ein Hase geflüchtet. Lag zusammengekauert dicht an sie gedrängt und war tot. Diese Geschichte war nicht an mich gerichtet gewesen, ich hatte sie dennoch gehört, mir meinen kindlichen Reim darauf zu machen versucht, sie mir immer wieder vorgestellt. Ihre Abwesenheit in der Küche, wie sie neben mir atmete und doch nicht da war, hat sich mir mit dieser anderen Entfernung, von der sie selbst nicht wusste, wo sie gewesen war, verbunden. So dass ich, um mich von meinem Gefühl zu lösen, dass die lebendige Grossmutter wie tot schien, unberührbar – so weit fort sass sie neben mir -, anfing, ihr einen Brief zu schreiben. Ja, einen Brief, den ich der Entfernung zwischen uns würde anvertrauen können. Den ich schreiben, abschicken und auf dessen Antwort ich würde warten können. Ich sandte ihr, die neben mir sass, einen Brief vom Hasen, schrieb ihr, dass er es war, der tot war, nicht sie. Dass ich noch keine Buchstaben schreiben konnte, spielte dabei keine Rolle. Stattdessen setzte ich lange Wellen aufs Blatt, füllte seine Leere mit Linien, die ans Ufer schlugen. Wellen, die zugleich Boote waren, in denen etwas von mir schwankend auf offenem Meer trieb. Etwas, das ich in die Boote gesetzt, ihnen übergeben hatte, bis es von den Wellen angespült werden würde. Dann, dessen war ich gewiss, würde auch meine Grossmutter wieder auftauchen, mich sehen, mir zunicken und mich fragen, ob ich etwas zu trinken haben wolle. Ganz so wie Montaigne es formuliert, hatte ich noch ohne Buchstaben, nur mit Linien und auf dem grossen Meer des weissen Blatts einen Übergang von mir zu etwas anderem als mir geschrieben. Ich war mitten in der Küche auf schwankender See nicht vor Angst und Unheimlichkeit untergegangen, denn ich hatte das Boot der Schrift gefunden.
Jeder Sprache wohnt der Wunsch inne, dass sie etwas von uns enthält. Dass sie uns also nicht nur sagen kann, sondern darüber hinaus auch uns aufhebt in der Zeit und durch die Zeiten. Denn woher sonst wollen wir eines Tages wissen können, dass es uns gegeben hat? Wer oder was soll bezeugen können, dass es uns gab und dass das, wofür wir gekämpft und gelitten haben, nicht umsonst gewesen ist? Denen, die gelebt haben, die wir geliebt haben, ein Leben zu erfinden, das nicht umsonst war, ist ein tiefes Begehren von Literatur. Was allerdings nicht heisst, dass ihre Zeugnisse beweisbar wären, im Gegenteil. («Keiner zeugt für den Zeugen», heisst eine Zeile bei Paul Celan.) Sprache, Literatur, ob sie richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist, lässt sich nicht beweisen, nur lesen. Und zwar von jedem einzelnen, unersetzbar, nicht verallgemeinerbar. Gerade weil Literatur sich selbst nicht beweisen kann, bietet sie uns ein ganz anders geartetes Gedächtnis, das all das Flüchtige, das Unabweisbare, das zugleich das ist, was noch immer unterwegs ist, aufhebt.
Es gibt ein Gedicht von Günter Eich, das so geht: «In Saloniki/ weiss ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim. / Das sind schon zwei.» Das Gedicht trägt den Titel «Zuversicht». Ein Titel, der wie eine Krone auf seinen wenigen Zeilen sitzt.
Zwei Leser also, verstreut auf der Welt, die mich lesen. Was für eine Zuversicht ist das? Von wem, für wen und gegenüber was? Schon zwei? An dem, was es zu lesen gibt, ändert das nichts, es bleibt über die schiere Gegenwart hinaus gültig, zumindest für den Leser in Saloniki und den anderen in Bad Nauheim. Ob es mehr werden, ist unwichtig für das, was es zu lesen gibt. Das für sich in Anspruch zu nehmen, wie Eich es tut, macht eine andere Zuversicht deutlich. Eine, die mit Literatur zu tun hat. Ihrem anderen Sagen, ihrer anderen Zeitlichkeit, ihrer anderen Verbundenheit mit all dem, was sich immer wieder der Sprache entzieht und dennoch da bleibt.
Die Eichsche Zuversicht kommt aus dem Wunsch, dass Sprache uns enthält, dass sich in der Dichtung dieser Wunsch so ausspricht, dass er lesbar werden kann, offen auf ein Verstehen und Lesen, das noch kommt. Lesbar von einem und noch einer. Vielleicht in Isfahan, in Seoul gibt es mittlerweile noch eine vierte Leserin. Solchermassen bleibt das letzte Wort zu einem Text aufgeschoben und damit nicht nur die Bedeutung des Textes offen, sondern auch die seiner möglichen Leserinnen. Es könnten andere werden.
Diese Zuversicht hat nichts mit dem Markt zu tun, auf dem Literatur erscheint, nichts mit den Räumen, in denen sie performiert wird. Räumen und Erscheinungsformen zudem, die der Literatur jede Legitimität absprechen, wenn sie nur zwei Leser hat. Ein «Schon» gibt es da nicht, auch keine Bewegung aus dem «Schon» des bestehenden Jetzt. So dass die grösste Sorge all derer, die mit Literatur zu tun haben, also auch derer, die sie zu schreiben beanspruchen, der möglichst hohen Zahl der Leser und Besucher von Lesungen zu gelten scheint. Diese Sorge überwiegt sogar die Sorge um das, was als Literatur gehandelt wird, die wiederum vernachlässigbar scheint gegenüber dem einen grossen Gebot der möglichst hohen Zahl. Vor kurzem sah ich auf der Leinwand eines Basler Kinos eine Werbung, in der über den leeren Reihen eines Kinosaals die gross geschriebene Frage zu lesen stand: «Kein Publikum?» Um uns dann ein Studium des Kulturmanagements an der FHNW zu empfehlen. Wo man also lernen kann, wie man zu Publikum kommt.
Kein Publikum ist das drohende, schreckliche Schicksal, mit der Kunst eingeschüchtert wird, ja, ich würde so weit gehen und sagen, womit sie bekämpft wird. Kultur, sagt Jean-Luc Godard, ist die Regel, Kunst die Ausnahme. Wenn sich, wie heutzutage immer mehr auch in der Literatur die Kultur zur Regel der Kunst macht, gibt es keine Hoffnung, keine Zeit, keine Möglichkeit, dass das, was wir Gegenwart nennen, je anders werden könnte, als wir es uns immer wieder bestätigen, dass es so sei. Dann allerdings bleibt uns die schlechte Wirklichkeit nur immer aufs Neue zu bestätigen, indem wir sie wiederholen.
Auf diesen Gedanken kam ich im letzten Herbst in Venedig, dessen rückhaltlosen Ausverkauf ich in den letzten zwanzig Jahren miterlebt habe, und der sich immer mehr beschleunigt. Ich lief gegen Mitternacht über den Campo Santa Maria Formosa, nicht weit vom Rialto entfernt, und fand den Platz in weiten Teilen abgesperrt, von Wächtern umstellt. Stühle, Tische, Sonnenschirme, Büdchen mit Matrosenjacken, Gummistiefeln und Masken, alles, was zur touristischen Möblierung des Platzes gehört, lagen in wirren Haufen umgestürzter Trümmer herum. Wären da nicht die Wächter über diese still gestellte Szenerie gewesen, die leuchtenden Absperrbänder, ich weiss nicht, ob mir aufgefallen wäre, dass etwas anders war als üblich. Beim genaueren Betrachten der haufenweise daliegenden Tische und Stühle konnte ich feststellen, dass ihnen nichts anzuhaben war, sie waren unzerstörbar, ja, sie bestanden aus Unzerstörbarkeit.
Von einem der Wachleute erfuhr ich, dass hier ein Katastrophenfilm gedreht werde. Die Kulisse, die sie über Nacht beschützten, sei eine danach, es habe viele Opfer gegeben. Mit Schrecken durchfuhr mich die Idee, dass die Szenerie für einen Katastrophenfilm aus nichts anderem bestand als aus der üblichen Invasion der Touristen in ein städtisches Gebilde, das aus nichts als Nuancen besteht – ein so feines, bewegliches urbanes Gebiet, das sich vervielfacht, zerlegt, davontreibt und wieder angetrieben wird, das in seiner unablässigen Bewegung kalt gestellt wird unter den immer gleichen Ansichten, ihrer Tauglichkeit für die Vielen, die nicht bloss viele sind, sondern immer mehr. Die Katastrophe war also schon vor jedem Abbild einer Katastrophe da. Sie musste nur aufgenommen werden. Die Bilder, wie sie aussehen würden im Film, glichen den Ansichten des Platzes, wie er täglich heimgesucht und verbraucht wird.
Ich frage mich, was uns geschehen ist, und was es ist, das um uns geschehen ist, dass wir unsere Kunst – das Lebendigste und Widersprüchlichste, was wir haben – einer Anerkennungsnotwendigkeit unterwerfen, uns ihr unterwerfen lassen, in der es immer weniger um das Lesen der zwei Leser aus Nauheim und Saloniki geht, sondern um etwas, das scheinbar alle, jedenfalls möglichst viele interessant finden sollen und verständlich. Anders gefragt, was an uns, unseren Texten, soll für mehr als zwei Leser lesbar sein? Was für eine Vorstellung von uns selbst steht dahinter? Und was für eine Idee von Kunst? Vielleicht ein despotisches, diktatorisches Verlangen, eines, das keine Unterschiede macht. Wovon doch jeder literarische Text lebt.
Wie mutlos, wie ohne Zuversicht sind wir denn, sobald wir uns als Einzelne, Besondere, eben Andere entwerfen zu wollen wünschen?
Gilles Deleuze sagt, dass Schreiben Werden sei: Werden all dessen, was man schreibt. Und wenn man von zwei Lesern schreibt, dann wird man diese beiden Leser, der in Saloniki, wo er beim Lesen aufs Meer schaut, und der andere in Bad Nauheim mit seinen Rosenbeeten. Denn Schreiben sei eben nicht kommunizieren, sondern widerstehen. Widerstehen, um all die eingeübten Erzählweisen, vorgefassten Muster und Meinungen dessen, was die Gegenwart sei, die Kindheit, das Frausein, das Sein der Männer, der Tiere, der Pflanzen zurückzuweisen. Nur so lässt sich dem Leben ein Ausweg finden, nur so können wir uns vom Mass der Mehrheit, dem leeren Mass der Vielen, das eben nicht das Viele birgt, wo jedes einen Unterschied macht, befreien.
Ist Literatur nicht etwas von einer Minderheit für eine Minderheit Erschaffenes? Womit ich nicht die zahlenmässige Minderheit meine, sondern all das, «was zu leise fühlt», wie Kleist es nennt. All das, was auch in uns als Anderes, Kleineres, Unscheinbareres existiert, das in keiner Mehrzahl aufgeht. Und erwächst der Literatur nicht genau aus diesem Minderheitenstatus ihre ganz eigene Zuversicht? Die Idee eines durchschnittlichen Lesers, einer Leserin, die Idee eines möglichst grossen Publikums für eine dem einzelnen, dem kleinen, dem anderen zugehörende Literatur, ist das Phantom des Marktes. Das hat nichts mit der Gültigkeit von Texten, ihrer Lesbarkeit und ihrer Arbeit an so etwas wie Gerechtigkeit zu tun, indem sie dem, wovon sie zu schreiben versucht, durch die genauesten Worte und Sätze gerecht zu werden sucht.
Das Poetische nennt Alexander Kluge ein Einsammelverhältnis, ein Sich-selbst-Einsammeln. Ja, sind wir denn nicht zusammen? Halten wir nicht dicht? Sind wir vielleicht viele Teile und Wesen und Wünsche und Gedanken auf einmal, und alle wollen woanders hin oder wissen gar nicht, wo sie hingehören? Gehören sie überhaupt wem?
Das Poetische öffnet den Raum des Vielen, jenen unbegrenzten Raum der Teile, der vielen Einzelheiten, Sprachen und Stimmen. Es sucht eine Unterhaltung mit all dem in Gang zu setzen, was vielleicht zu uns gehören könnte, was vielleicht lebenswichtige Teile unserer selbst sind, nur haben wir sie noch nie bemerkt, geschweige denn, dass wir je das Gespräch mit ihnen gesucht hätten.
Die Zuversicht, lesbar zu sein, erlaubt womöglich nur das, was den Prozess des Zusammenlesens seiner selbst durchlaufen hat. Ein Prozess, der nicht von aussen geschehen kann, der nicht vorab bestimmt werden kann, der sich bewegen muss, der geschehen muss, sonst kommt es zu keinem Zusammenhang. Wenn wir uns nicht mehr zusammenlesen können, wenn wir den Wunsch danach nicht mehr haben, dann wird es auch die Hoffnung nicht mehr geben, dass ich eines Tages etwas finden werde, von dem ich nichts wusste und das nichts anderes ist, als das Ich, das ich sein könnte.
Erkennen können, dass es uns in Teilen schon gab und dass es Geschichten gab, die in uns nach ihrer Fortsetzung suchen. All das sind Dimensionen, die Sprache und vor allem Literatur existenziell und in einer ganz anderen Zeitlichkeit gültig sein lassen.
Die Zuversicht Eichs ist eine des Poetischen. Sie setzt ein Verhältnis voraus, das wir mit uns unterhalten, um uns einsammeln und zusammenlesen zu können. So gesehen gehen Schreiben und Lesen ineinander über. Beides geschieht als etwas, in dem wir uns, unsere Teile, all die Reste, Unsagbarkeiten, Überstände zusammensammeln und anders verwenden können. Immer wieder anders, in unverhoffter Fügung – in unverhoffter Dichtung.
Zuversicht des Poetischen, das ist die Zuversicht einer ganz anderen Lesbarkeit, einer, die sich noch ergeben kann, die Zeit hat, die nicht aufhört, das Lesen zu suchen. Womit auch die Zuversicht verbunden ist, von sich als einer kleinen, ungesagten, unsagbaren Weise sprechen zu können, ohne dadurch verloren zu sein.
Detlef Dorow
Was für ein feinsinniger und kluger Text, den ich für mich so berührend empfand, dass ich so etwas wie ein kleines Glück verspüre.
Herzlichen Dank für soviel Mut zum Eigensinn.