Der weltweite Reichtum und die technische Entwicklung würden allen Menschen ein angenehmes Leben ermöglichen. Dem stehen die Verwerfungen des kapitalistischen Weltsystems entgegen. Den Kapitalismus kann man nicht sofort abschaffen. Doch vielleicht reichen ein paar pragmatische Mittel, um die Weltwirtschaft ein wenig gerechter zu machen: Aufwertung der Unctad und der ILO, globaler Mindestlohn und transnationale Arbeitszeitbudgets.
Nehmen wir Stecknadeln. Ja, die gibt es immer noch. Einfache Dinger, im Dutzend billiger. Dennoch braucht ihre Produktion etlichen Aufwand. Adam Smith hat ihn im Buch «Über den Wohlstand der Nationen» 1776 beschrieben. In dem «recht unscheinbaren Gewerbe» seien sieben Arbeiter beschäftigt: Einer zieht den Draht, der Nächste streckt, ein Dritter schneidet, ein Vierter spitzt ihn zu, der Fünfte schleift das obere Ende, zwei setzen den Kopf drauf.
Mittlerweile ist das alles automatisiert. Doch Adam Smith wollte mit dem Beispiel die Vorteile der Arbeitsteilung veranschaulichen. Die steigere die Produktivität, befördere den Tausch und den Handel, zuerst im Lokalen, dann zwischen Stadt und Land, schliesslich zwischen Nationen, und erhöhe so «Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates». Adam Smith war zwar nicht der schrankenlose Apostel des Freihandels, als den ihn seine neoliberalen JüngerInnen vereinnahmen. Freihandel aber lautet heute die herrschende Losung, auch wenn wieder vermehrt protektionistische Forderungen erhoben werden.
Welthandel
2015 wurden weltweit Waren im Wert von rund 16000 Milliarden US-Dollar grenzüberschreitend exportiert. Ist das viel? Ja und Nein. Im gleichen Jahr betrug das Bruttoinlandprodukt aller Staaten dieser Welt in nominellen Preisen rund 74000 Milliarden US-Dollar. Der Nationalgrenzen überschreitende Weltmarkt macht etwa 21.6 Prozent, also gut einen Fünftel, der weltweit produzierten marktförmigen Güter aus. Das ist historisch nicht einmalig, die so genannte Globalisierung war vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar gross wie heute, auf tieferem Gesamtniveau allerdings.
Jahrhunderte lang wies dabei das entwickelte Zentrum in den transnationalen Wertschöpfungsketten der Peripherie die Rolle als Rohstofflieferantin zu. Mit der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Ungleichgewicht infrage gestellt. 1964 entstand als Uno-Unterorganisation die Unctad, um den Handel zwischen Nord und Süd gerechter zu gestalten. 1974 verabschiedete die Uno das Postulat einer «Neuen Weltwirtschaftsordnung». Mit ihr wurden faire Rohstoffpreise und gleiche Verhandlungsmacht angestrebt.
Dieses Bestreben geriet bald in den Gegenwind des Neoliberalismus. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus hofften afrikanische Politiker wie der tansanische Staatspräsident Julius Nyerere kurzfristig auf eine «Friedensdividende» und auf die Wiederaufnahme der Idee einer neuen Weltwirtschaftsordnung. George Bush bog diese Forderung anlässlich des Golfkriegs 1991 zur «Neuen Weltordnung» um, in der ein aggressiver Westen seine Pfründe gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln verteidigte. Den Freihandel verkaufte man jetzt als kleinsten gemeinsamen Nenner; zu seiner Durchsetzung wurde 1995 aus dem bisherigen Zoll- und Handelsabkommen Gatt die Welthandelsorganisation (WHO) gegründet, die mittlerweile alle grossflächigen Handelsabkommen orchestriert und mit einem eigenen Rechtssystem kodifiziert.
Doch in der 2001 gestarteten Doha-Runde von 160 WTO-Mitgliedern griffen Schwellenländer entwicklungspolitische Postulate auf: Der Marktzugang sollte für die weniger entwickelten Länder verbessert werden, während sie zugleich ihre Agrarsektoren schützen wollten. Nach mehreren Verhandlungsetappen gilt die Doha-Runde fünfzehn Jahre später als gescheitert. Das Ziel einer globalen Vereinbarung ist in bilaterale Abkommen und solche zwischen Handelsblöcken ausgelagert, mit einer Vielzahl von Akronymen wie den bestehenden Nafta und Ceta oder den geplanten TTIP, Tisa und TPP. Der neue US-Präsident Donald Trump wütet zwar gegen die existierenden Abkommen, aber grundsätzlich ist er begeistert von Deals – der raffinierte Immobilienhändler, der alle andern über den Tisch zieht. «America first» heisst dabei unfair gegenüber allen andern.
Dagegen bietet sich an, die Unctad wieder aufzuwerten, anstelle der WTO und anderer westlich dominierter Institutionen und statt bilateraler Abkommen. Noch immer ist ihr deklariertes Ziel, «die sich entwickelnden Länder darin zu unterstützen, von den Vorteilen einer globalisierten Wirtschaft gerechter und effizienter zu profitieren». Das geht nicht konfliktfrei, nicht alle Schwellen- und Entwicklungsländer haben gleiche Interessen. Aber die Klimakonferenz in Paris 2015 hat gezeigt, dass sich selbst China mit seinem autoritären Staatskapitalismus gelegentlich einbinden lässt. Man müsste die Unctad-Politik handfester machen: Kohäsionsmilliarden durch einen neuen Entwicklungsfonds bereitstellen. Programme einführen, wie einst in Südafrika zur Stärkung schwarzafrikanischer Mitwirkung beim Ausgang aus der Apartheid – dabei allerdings demokratische Kontrollmechanismen nicht vergessen. Generell könnte mehr Demokratie nicht schaden: basisnahe Sachgremien statt pompöse Ministerkonferenzen.
Transnationale Integration
Die Multis waren gestern, jetzt geht es um transnationale Konzerne. Die haben nicht bloss Tochtergesellschaften, sondern differenzieren ihre vertikal gegliederten Wertschöpfungsketten nach einzelnen Ländern und schaffen weltweit eine neue, integrierte Produktion sowie eine vielfach vernetzte globale Wirtschaftsstruktur. Am Beispiel der von Donald Trump demagogisch angeprangerten Auslagerung der US-Autoproduktion nach Mexiko: Ein Auto, das in Mexiko vom Band rollt und in die Vereinigten Staaten exportiert wird, besteht bis zu vierzig Prozent aus Teilen, die in den USA produziert wurden, und einzelne Teile überqueren die Grenze bis zu achtmal.
Auf der einen Seite verschärft und verfeinert sich dadurch die Arbeitsteilung im Weltmassstab, andererseits reicht sie in die einzelnen Länder hinein. Mit der sozialen Prekarisierung sind Zustände der Dritten Welt in die Erste Welt zurückgekehrt; umgekehrt bilden sich in den Schwellenländern Sektoren hochwertiger Produktion und entsprechender Gesellschaftsschichten.
Entsprechend ist auch das Zentrum betroffen. Aktuell will der französische Automobilkonzern Peugeot den britischen Autohersteller Vauxhall übernehmen. Wie immer in solchen Fällen werden kurzfristig Arbeitsplatzgarantien ausgehandelt. Um sie längerfristig zu sichern, muss der Internationalen des Kapitals die internationale Kooperation der Belegschaften antworten. Das hängt auch von politisch-institutionellen Rahmenbedingungen ab. In der EU gäbe es – zu wenig genützte – transnationale Mitsprachemöglichkeiten. Mit einem Brexit wird sich dagegen der Kampf der nationalen Belegschaften gegeneinander verschärfen.
Gefragt ist da eine weitere Uno-Sonderorganisation, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Sie setzt sich für die «Förderung sozialer Gerechtigkeit und international anerkannter Menschen- und Arbeitsrechte ein»; ihre Agenda 2030 steht unter dem Motto «menschenwürdige Arbeit». Vom 5. bis 16. Juni treffen sich in Genf 4000 Delegierte aus 187 Ländern, um über die Zukunft dieser Arbeit zu diskutieren. Die ILO bleibt aber schwach, weil ihre Sanktionsmöglichkeiten beschränkt sind. Wie wäre es deshalb mit einem globalen Mindestlohn, kaufkraftmässig abgestuft natürlich? Das würde Arbeitsplatzverlagerungen im «race to the bottom» nur wenig behindern, aber immerhin die schlimmsten Auswüchse stoppen. Zudem taugt der Kampf um einen Mindestlohn wirksam zur Mobilisierung, wie sich bei Kampagnen in den USA gezeigt hat, und er ist ein handliches legales Mittel.
Karl Marx hat einst über den Begriff «fair» apropos der Forderung nach einem «fairen Lohn» gespottet. Eine solche moralische Kategorie sei der ökonomischen Analyse unangemessen, in der es um die herrschenden Mechanismen gehe, wie denn Lohn überhaupt als Kategorie im Verhältnis etwa zum Kapital stehe. Das ist analytisch richtig, aber in der Praxis ist fair besser als unfair. «Fairtrade», fairer Handel, ist mittlerweile ein eingetragenes Markenzeichen: Das geht weiter als die einstige Forderung nach einer fairen Welthandelsordnung und zugleich weniger weit. Weiter, weil auch menschenwürdige Arbeitsbedingungen überprüft werden, weniger weit, weil fairer Handel auf die Einsicht der besser betuchten KonsumentInnen setzt und so weltweit gesehen ein Nischenprodukt bleibt.
Casinokapitalismus
Die gegenwärtige globale Verflechtung von Waren- und Handelsströmen ist, wie gesagt, historisch nicht einzigartig. Auch vielfältige Finanztransaktionen sind nichts Neues. Neu ist hingegen, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten explodiert sind. Sie erreichen mittlerweile in Geldwerten ein Dutzendfaches der Warentransaktionen. Vieles davon ist real Imaginäres – Zahlen, hinter denen keine handfesten Wirtschaftstätigkeiten stehen, die dennoch Wirkung etwa via Aktienmärkte entfalten. Als Kehrreim muss deshalb die Forderung nach einer globalen Finanztransaktionssteuer erklingen.
Systemisch mit dem Casinokapitalismus verknüpft ist die Steuerflucht, die das Steuersubstrat vieler Länder des Südens aushöhlt. Der Schweizer Finanzplatz ist da immer noch über keinen Verdacht erhaben. Die Zähmung des Steuerwettbewerbs ist ein weiterer Kehrreim für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung.
Arbeit
Die Arbeit ist die Sonne, um die sich das Menschengeschlecht dreht. Wenn man die gesellschaftliche Gesamtarbeit betrachtet, könnten alle Menschen reichlich ins Brot gesetzt werden. Arbeit ist die sinnliche Auseinandersetzung mit der Umgebung, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Doch um den Doppelcharakter, den die Arbeit im Kapitalismus annimmt, kommen wir nicht herum: Der Gebrauchswert, den sie schafft, ist eingebunden in die Form von Tauschwert, den wir auf den Markt tragen. Auch ist die Arbeitskraft selbst Ware, die verkauft werden muss. Lohnarbeit dominiert unser Leben.
Die Lohnarbeit ist ungleichmässig verteilt, in den einzelnen Gesellschaften wie global. Die einen sind arbeitslos, die andern schuften sich zu Tode. Die einen erledigen den Dreck und verdienen wenig, die anderen befehlen und verdienen viel. Dazwischen arbeitet der Mittelstand ein wenig zu viel und verdient ein wenig zu wenig.
Der technische Fortschritt verspricht, viele Arbeit überflüssig zu machen. In der Informationsgesellschaft soll jeder zweite Job durch Automatisierung und Robotik ersetzt werden. Wahlweise ist das ein disziplinierendes Schreckgespenst oder eine lockende Utopie. Beide Einschätzungen übersehen die weiter bestehenden Produktionszusammenhänge. Auch in der Software steckt menschliche Arbeit. Auch künftig wird Hardware in den neuen Manufakturen der Weltwirtschaft hergestellt werden. Dazu kommen Schmiermittel – die Druckerpatrone, die mehr kostet als der Drucker. Und es braucht die Wartung. Nein, die weltweite Arbeit geht nicht so schnell aus, und viel davon bleibt vorläufig in die Lohnform in den globalen, hierarchisch gegliederten Wertschöpfungsketten eingebunden.
Zugleich wächst der Sektor der Care-Ökonomie, der Arbeit im Pflege- und Sorgebereich. Sie folgt einer anderen, nicht quantifizierbaren Logik. Während der grössere Teil davon weiterhin, vor allem von Frauen, unbezahlt geleistet werden soll, wird ein anderer Teil in Profitzentren der Lohnarbeit subsumiert.
Eine Arbeitszeitpolitik wird umso dringlicher. Dabei kann es nicht bloss um die Verteidigung national kodifizierter Errungenschaften gehen. Die 35-Stunden-Woche in Frankreich kann von Arbeitgebern als bequeme Ausrede für die Verlagerung der Produktion in arbeitsintensivere Länder benutzt und damit von der neuen, wirtschaftlich neoliberalen, Regierung Macron entsprechend zur Disposition gestellt werden. Umgekehrt geht die relativ lange durchschnittliche Arbeitszeit in der Schweiz auf Kosten weniger produktiver Länder. Deshalb muss Arbeitszeitpolitik international gedacht werden. Dazu kann wenig Phantasie nicht schaden. Ein Vorschlag wären zum Beispiel Arbeitszeitbudgets für transnationale Unternehmen. In ähnlicher Weise wie Gender Budgeting könnten sie die Arbeitszeit innerhalb eines gesamten Produktionsprozesses zwischen einzelnen Unternehmensteilen und Regionen ausgeglichener verteilen. Jedem Teilbetrieb stünde dabei ein bestimmtes Quantum an Arbeit zu. Dieses kann nicht beliebig innerhalb des Konzerns verschoben werden, sondern Veränderungen unterliegen transnationalen Aushandlungen. Ein Fabrikbetrieb kann also nicht von einem Monat auf den andern in ein Billiglohnland abgezügelt werden. Auch die Robotisierung könnte so geordnet eingeführt werden. Wenn ein Arbeitsprozess automatisiert werden soll, würde dem betroffenen Betrieb das eingesparte Arbeitsquantum gutgeschrieben. Es könnte dann durch den gesamten Konzern hindurch ausgeglichen werden. Arbeitszeitbudgets wären, wie ein Mindestlohn, Forderung ebenso wie Kampfmittel, weil sie unmittelbar in den Arbeitsalltag eingreifen und weil sie die Interessenlage unter den Beschäftigten des ganzen Konzerns vereinheitlichen.
Das eine und das andere
Unctad und ILO und Mindestlohn und Finanztransaktionsteuer und Arbeitszeitbudgets vertrauen auf pragmatische, legalistische Möglichkeiten. Was das andere, Grundsätzlichere nicht ersetzt: wo immer möglich den Sektor der Lohnarbeit eingegrenzt halten und verkleinern. Service public und Care-Ökonomie gegenüber dem Verwertungszwang verteidigen und Genossenschaften fördern. Auch Fairtrade – jenes Nischenprodukt, das die Forderung nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zum Markenzeichen gemacht hat – drängt das Profitprinzip ein wenig zurück. Was zudem den kapitalistischen Wachstumszwang abschwächt. Stecknadeln braucht es schliesslich nicht unbegrenzt.
* Erweiterte Fassung eines Artikels, der zuerst in der WOZ – Die Wochenzeitung Nr. 12 vom 23. März 2017 erschienen ist; siehe www.woz.ch.