«Five easy Pieces» (zusammen mit dem Kindertheater Campo in Gent, 2016) und «Die letzten Tage von Sodom» (zusammen mit dem Behindertentheater Hora am Schauspielhaus Zürich, 2017) sind die ersten zwei Teile einer Trilogie über Repräsentationsmöglichkeiten auf der Bühne von Milo Rau. Nachfolgend ein kleiner Versuch über die Frage, mit welchen Gefühlen und Interessen wir heute Kindern und behinderten Menschen auf der Bühne zuschauen.
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Kinder und Menschen mit einer geistigen Behinderung sind heute idealtypische Sehnsuchtsfiguren, um in einer medialisierten und imaginären Wirklichkeit die Möglichkeit des Wahren und Authentischen offen zu halten. Im Theater zeigt sich das in ihrem Scheitern am perfekten Spiel. Weil sie keinen direkten Zugang zu einer erwachsenen Emotionalität haben und sich alles von aussen her aneignen müssen, liegen sie immer wieder leicht daneben. Diese Unfähigkeit zur perfekten Repräsentation macht die Faszination aus, die gerne mit einem besonderen Zugang zur Wahrheit gleichgesetzt wird. Dabei wird oft der Widerspruch in der Darstellung des Realen an sich vergessen: Man möchte Echtheit und Spontaneität, doch gleichzeitig braucht es dafür Wiederholung, Vermittlung und Künstlichkeit. Ein zweites Moment macht Kinder und geistig Behinderte für die aktuelle Kunst attraktiv. Wo die Inhalte des künstlerischen Ausdrucks mangels kanonisierter Stoffe immer beliebiger werden, dient der in einer Leistungsgesellschaft tendenziell dysfunktionale Status von Kindern und behinderten Menschen als Versicherung gegen ungewollte Vereinnahmungen und Banalisierungen.
Im Kinderstück «Five easy Pieces» und in «Die 120 Tage von Sodom», einer Koproduktion mit dem Theater Hora, entfaltet der beschriebene Kontext einerseits seine Wirkung und wird andererseits mit nachgespielten Probeszenen und Befragungen aus den Castings kontrastiert. Die dialogischen und konfrontativen Sequenzen unterbrechen formal den Spielfluss, rücken die Schauspieler als Personen ins Licht und damit Fragen nach ihren Erfahrungen, Wünschen, Begrenzungen oder was man eigentlich tut, wenn man seinen eigenen Körper in einer Rolle zeigt, entkleidet oder quälen lässt. Das Resultat ist aber keine naturalistische Blossstellung ihres Soseins als Kinder oder Behinderte, sondern ein eigentlicher Akt der Subjektivierung. Insofern ihre Prägungen, Verhältnisse und ihre «Triebstruktur» unerbittlich verhandelt und zur Schau gestellt werden, wird bei den Zuschauern die Illusion ihrer autarken Authentizität zerstört. (Ein Vorgang, der selbstverständlich auch Wut auf den Regisseur auslösen kann, zum Beispiel mit dem Vorwurf der Instrumentalisierung.) Und weil sowohl die Kinder als auch die Horas in die Opfer- und in die Täterrolle schlüpfen, angekleidet und nackt spielen, entkommen sie dem wertlosen «Gutsein der Unvernünftigen» und treten symbolisch in die Gattungsgeschichte ein. Dieser Akt der Initiation in die Normalität, indem nun die Kinder und Behinderten auf der Bühne alles tun, was dort auch die mündigen Erwachsenen tun, trägt einen doppelten Hintersinn.
Er spiegelt erstens den Widerspruch zwischen der postmodernen Sehnsucht nach dem ganz anderen, dem Überraschenden und Ungetrübten bei Kindern und Behinderten und der gleichzeitigen Gleichheits-, Normalisierungs- und Inklusionspraxis, die das Anderssein als gesellschaftliche Konstruktionen zurückweist und sowohl den Generationengraben wie auch die Autonomiedifferenzen einebnet. Das Spiel mit den verschiedenen Ebenen in «Five easy Pieces» und in «Die 120 Tage von Sodom» haben nicht zuletzt den durchaus realistischen Effekt, den illusorischen Charakter beider Positionen zu zeigen. Und zweitens steht plötzlich die moralische Frage im Raum, ob denn unter dem Normalitäts- und Gleichheitsaspekt auch jenseits der Bühne mit Kindern und behinderten Menschen alles getan werden darf, was man mit mündigen Erwachsenen tut, und ob auf der anderen Seite dies alles nun nicht mehr getan werden darf, was man mit ihnen nur tut, weil sie eben Kinder oder behindert sind. Oder anders gefragt, inwiefern die traditionelle Postulierung eines anderen Seins-Statuts Schutz oder Gefängnis ist.
Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Thematik ist es kein Zufall, dass Pier Paolo Pasolini eine Art Brücke bildet zwischen «Five easy Pieces», das mit einer Erzählung aus seinem Kurzfilm «Was sind die Wolken?» endet, und «Die 120 Tage von Sodom». Pasolinis Modernekritik und seine Analyse des Fortlebens des Faschismus in der Massenkonsumgesellschaft ist scharf und tief pessimistisch. Viele europäische Gesellschaften, so Pasolini, tragen den Faschismus noch in sich, weil sie ihn einfach nur verdrängt, einverleibt, aufgefressen haben. Die nicht erfolgte Reinigung durch kollektive Rituale der Ausscheidung ruft den destruktiv-analen Wunsch nach Beschmutzung alles Lebendigen und gleichzeitig den nach absoluter Reinheit und Schuldlosigkeit hervor. Die Figur des Kinderschänders Marc Dutroux in «Five easy Pieces» als Exempel für die reale Gewalt an Kindern und die analen Exzesse vom «Arschtanz» bis zum Essen der Scheisse in «Sodom» als mögliche Metaphern für die Beschmutzungsrituale des gegenwärtigen Populismus, den Verkauf von Schmutztreibstoff nach Afrika durch Schweizer Rohstofffirmen oder die Mülldeponien der westlichen Industrien in den Wohngebieten der Armen sind Belege für die Schmutz-Seite dieses Zustands. Komplementär dazu zeigt sich die Reinheits-Seite in der hysterischen Angst vor der Figur des Pädophilen und dem drakonischen Bestrafungswunsch unserer Gesellschaften (vgl. die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Schweiz 2004). Damit wird, psychoanalytisch gelesen, die verdrängte Angst vor dem Verlust der imaginierten Unschuld der Kinder durch ihre zunehmende Sexualisierung in den Medien, durch starken Leistungsdruck oder durch die Erosion der Generationenpositionen in emotionalisierten familiären Bindungen nach aussen abgeleitet.
Im Kontext von «Sodom» bildet innerhalb der von Pasolini erkannten Dialektik zwischen Ausscheidungs- und Reinheitsphantasie die Abtreibung von behinderten Kindern ein Gegenstück zum bereits erwähnten Gutsein der Unvernünftigen und Aussenseiter. Pasolini hat in den 70er Jahren seine Kritik der moralischen Verfassung der Konsumgesellschaft an der Abtreibung festgemacht: Gegen ihre allzu sorglose Proklamation als freies Recht der Eltern, hält er fest: «Dass die Abtreibung – selbst wenn die bisherigen Erfahrungen für eine Legalisierung sprechen – deshalb noch nicht aufhört, eine moralische Schuld zu sein.» Damit ist jenseits der Elternverantwortung auch die Frage angesprochen, mit welchem Recht ein Kind überhaupt seinen Eltern gehört. Besonders brisant ist das Thema, wenn man die faschistischen Morde an behinderten Menschen mit der Tatsache konfrontiert, dass heute 90% der Föten, bei denen ein Down-Syndrom diagnostiziert wird, abgetrieben werden.
Als was stehen dann also die Horas, von denen die meisten ein Down-Syndrom haben, in «Die 120 Tage von Sodom» auf der Bühne? Als professionelle und preisgekrönte Schauspieler? Als hochsubventioniertes schlechtes Gewissen einer bis zur Halskrause verschuldeten Gesellschaft? Als Allegorie des Leidens? Als Sehnsuchtsfigur des anarchischen Glücks? Als Vorzeigebeispiele der Normalisierungsbemühungen unserer Gesellschaft oder als letzte Überlebende eines Normalisierungswahns? (Und ähnlich variabel ist der Befund bei den Kindern von «Five easy Pieces»). Doch was es auch sei, sie sind immer eine Art von Zeugen. Und als solche sind sie jene sonderbaren Doppelagenten, die als Opfer, Täter oder Zuschauer in die Situation verstrickt sind und zugleich in der Figur des Spielers und Erzählers ins Freie treten. Zeuge sein bedeutet also in diesen von Milo Rau unerbittlich und sensibel komponierten Lehrstücken über die Gewalt, das Leiden und deren Darstellung ein abgerungenes, erzwungenes ausser sich Stehen, das immer wieder über sich selbst hinaus auf etwas Anderes hinweist und so immerhin dem Höllenkreis einer abgeschlossenen Identität entgeht. Jedoch bewirkt die doppelte Zugehörigkeit des Zeugen letztlich auch seine polyvalente Fremdheit oder sein doppeltes Ausgeschlossensein. Zum einen aus dem Kreis der Opfer, was ihm den Vorwurf des «schuldhaften Überlebens» einträgt (von sich selber oder von den anderen), zum anderen aus dem Kreis der Normalität, der gegenüber man ein Entronnener und Gezeichneter bleibt.
Und insofern Menschsein immer bedeutet, in dieser Weise Zeuge zu sein – besonders im postfaschistischen und digitalen Zeitalter – ist der Wunsch nach Unschuld eine der stärksten Triebgründe menschlicher Gemeinschaften. Lässt sich nicht zum Beispiel eine Korrelation herstellen zwischen dem in den neuen Sicherheitsdispositiven immer mehr unter Druck geratenen Rechtsprinzip der «Unschuldsvermutung» und einem zunehmenden Unschuldsbewusstsein des europäischen Mittelstands? Und nicht von ungefähr schliesst Hiob, der biblische Prototyp des leiderprobten Zeugen, seine Rechtfertigungsrede mit folgendem Satz: «Ich gebe, bis ich sterbe, meine Unschuld nicht preis.» (Hiob 27,5)
Eine zentrale Frage, die nach «Five easy Pieces» und «Sodom» – repräsentiert durch die Kinder und die Horas – im Raum steht, ist die nach der Möglichkeit von Unschuld. Die Antwort in den zwei Stücken liegt keineswegs jenseits von Schuld und Leid. Analog zum christlich grundierten Pessimismus Pasolinis wird ihr auf der Bühne mit zum Teil beunruhigenden Bildern der Vermittlung von Leid und Schönheit nachgespürt. Und wenn auch gelten würde, dass Unschuld immer schön ist, so ist doch Schönheit nicht immer ohne Schuld.
Buch: DIE 120 TAGE VON SODOM / FIVE EASY PIECES von Milo Rau, herausgegeben von Stefan Bläske, mit Beiträgen von Gwendolyne Melchinger, Dirk Pilz, Klaus Theweleit, Rolf Bossart u.a., Verbrecher Verlag Berlin 2017.
Eva Blanke
Ein etwas schneller Kommentar:
1. “Das Resultat ist aber keine naturalistische Blossstellung ihres Soseins als Kinder oder Behinderte, sondern ein eigentlicher Akt der Subjektivierung. Insofern ihre Prägungen, Verhältnisse und ihre «Triebstruktur» unerbittlich verhandelt und zur Schau gestellt werden, wird bei den Zuschauern die Illusion ihrer autarken Authentizität zerstört”.
Ist man entweder Kind oder Behindert?
Da ist zu lesen: Akt der Subjektivieren durch verhandeln ihrer Prägungen, Triebstruktur und Verhältnisse? Das sind hehre Ziele. Würden das mit Bezug zu Frauen hier stehen, würde ich mich fragen, ob ich im falschen Film bin. Weshalb? Weil da in einer Weise über Menschen geschrieben wird, als Triebgesteuerte (falls man noch an irgendwie naturwüchsige Triebe glaubt) mit eigenen Prägungen (vgl. dazu die Geschichte mit den Gänsen (Lorenz) bezüglich Prägung), Verhältnisse (ja, insofern es gesellschaftliche Verhältnisse sind) und dies quasi noch als Akt der Subjektivierung bezeichnet, das erinnert mich schon an “Entwicklungshilfe”.
Was sicher bei der Zuschauerin passiert, sind einfach Momente von grosser Irritation und Peinlichkeit. Wird Behinderung als Konflikt zwischen Erwartungen und Fähigkeiten begriffen, so spielt dieses Theater von Milo Rau mit diesem Konflikt, indem alle erdenklichen Register gezogen werden.
2. “ganz anderen, dem Überraschenden und Ungetrübten bei Kindern und Behinderten und der gleichzeitigen Gleichheits-, Normalisierungs- und Inklusionspraxis, die das Anderssein als gesellschaftliche Konstruktionen zurückweist und sowohl den Generationengraben wie auch die Autonomiedifferenzen einebnet.
Gleichheit bezüglich: als Rechtssubjekt sind wir alle Gleich vor dem Recht (Knüppeltribunal in Deutschland mit Franz Christoph), Normal bezüglich der Idee der Deinstitutionalisierung gemäss Basaglia, und Inklusion als Teilhabe an allen für eine Gesellschaft wichtigen Gütern und Werten (Bildung, Politik und Kultur).
Schade wird der in seinen Ursprüngen politische Begriff der Integration/Inklusion hier seiner Geschichte vollkommen entledigt, was nur Ausdruck einer leider vorherrschenden “gegenwärtigen Inklusionspraxis” sein kann.
3. “Im Theater zeigt sich das in ihrem Scheitern am perfekten Spiel. Weil sie keinen direkten Zugang zu einer erwachsenen Emotionalität haben und sich alles von aussen her aneignen müssen, liegen sie immer wieder leicht daneben. Diese Unfähigkeit zur perfekten Repräsentation macht die Faszination aus, die gerne mit einem besonderen Zugang zur Wahrheit gleichgesetzt wird”.
Einige Fragen dazu:
Was ist eine erwachsene Emotionalität?
Sind Menschen mit Behinderung kindgebliebene Erwachsene?
Was bedeutet das, von aussen aneignen?
Was ist ein perfekte Repräsentation?
Ich denke, in diesem Zusammenhang wäre es wohl sinnvoll Klafki zu lesen oder auch Piaget.
Rolf Bossart
Sehr geehrte Frau Blanke
Sie machen mit Ihren Fragen und Bemerkungen auf tatsächliche Probleme aufmerksam, die im Stück und auch in meinem Text verhandelt werden. Inwifern mein Text selber auch Teil des Problems ist, stellen Sie zumindest als Frage in den Raum und ich kann das nicht ganz verneinen. Erstens ist meine Wortwahl (Triebstruktur), aus einer identifikatorischen Perspektive tatsächlich seltsam und zweitens ist der Versuch, qualifizierende Aussagen über behinderte Menschen zu machen immer in gewisser Weise Unrecht.
Eine Bemerkung zu 1: Der Punkt auf den ich hinaus will mit dieser Wortwahl ist der, dass diese Begriffe das allgemein Menschliche bezeichnen, nicht Behinderung, nicht Männlichkeit, nicht das Weibliche usw. , es sind anthropologische Begriffe, die man natürlich teilen kann oder nicht, aber sie den behinderten Menschen zuzuerkennen, indem sie genauso auf der Bühne auftreten, wie das Nicht Behinderte SchauspielerInnen tun, die ja auch das Menschliche als Gewalttäter, Opfer usw. repräsentieren in der vollen Zweideutigkeit solcher Rollen, die ja im Stück thematisiert wird, ob sie jetzt das nur spielen oder es selber auch ein bisschen sind, was ja eben als Voraussetzung für Subjektivierung überhaupt gewertet werden kann, vielmehr als wenn Behinderte nur als nette Typen, spassige Hanswurste oder arme Benachteiligte, die auch was können usw. auftreten. In dieser Zweideutigkeit zeigt sich eben die Subjektivierung, so meine These.
Zu Ihrer Frage: Ist man einfach Kinder oder Behinderte? Das bezieht sich auf die beiden Stücke Five easy pieces und Sodom und ist keine allgemeine Aussage..