Wenn ich die Stücke, Überlegungen, Auseinandersetzungen, die Peter Weiss geführt, geschrieben, verfasst hat, überdenke, dann wird mir schwindlig, wie fern sie zurückschauen.
Als erstes soll hier also der Schwindel einer Ferne kommen, und wie sich in dieser schwindligen Ferne eine Unerlöstheit aufhält, – nicht nur die von Peter Weiss.
Doch was ist Widerstand, was der Widerstand der Kunst, der Widerstand ihrer Energie anderes als eine Position des Unerlösten? Ein Zustand, für den es keine Lösung gibt, der in keiner Lösung aufgeht. Denn es gibt sie nicht, die Lösung, nicht im Leben, nicht in der Ästhetik, in der Geschichte sowieso nicht. Was es gibt, wenn auch schwach, oft zu leise, ist immer wieder die Suche nach einem Denken der Einheit von Denken und Leiden, von Werk und Wahnsinn, von Beispiel und Wesen, Psyche und Text, von einer dem Denken entzogenen Geschichtlichkeit, die nicht Teil der Geschichte werden kann.
Im Unerlösten des Widerstands geben sich unentschiedene, ambivalente, doppelt gebundene Zusammenhänge zu erkennen. Widerstand ist eine Frage des Double-Binds, auch der Frage und darin gerade – der offenen Bedeutungen.
Mit Widerstand ist nicht fertig zu werden, auch nicht in der Ästhetik – er ist ihr Siedlungs- und Quellgebiet.
In der französischen Résistance ist die Restance enthalten, also das, oder etwas, das sich aufhält, das bleibt. Es gibt im Widerstand das, was nicht weiter bestimmbar, analysierbar, entzifferbar ist, von dem wir nur in einer radikalen Übersetzung etwas wissen und sagen können. Der Umgang mit dem, was sich nicht gibt, was wiederkommt, was wiederkommend bleibt, hat mit einer anderen Zeit zu tun, ihrer Unangekommenheit, der aufgeschobenen Ankündigung ihres Kommens. Kunst arbeitet in resistenter Zeitlichkeit mit dem, womit nicht fertig zu werden ist.
Sehr früh im Leben – was für ein Glück – habe ich die Stücke von Peter Weiss auf der Bühne gesehen, die mich in ihrer waghalsigen Öffnung zwischen der Möglichkeit des Wahnsinns und der Analyse, zwischen Aufstand und Widerstand, das eine nicht ohne das andere, nicht nur tief beeindruckt haben – sie haben mich angesteckt. Ich wäre ohne sie nicht in der Art jung gewesen, wie es die Jugendlichen meiner Generation waren: alt, traurig und beseelt von der Notwendigkeit des Aufstands. Etwas stand auf in uns, atmete, sprach mit den Irren und Gespenstern der Geschichte, war selbst irre, trennte nicht scharf zwischen ihnen und uns, im Gegenteil, ging dem Gefühl nach, dass wir etwas an den Wahnsinnigen, auch denen der Revolution, verloren geben würden, wenn wir nicht zu ihnen sprächen, nicht das Gespräch mit ihnen suchen würden. Ein Gespräch, ohne das wir nicht leben wollten – ohne das wir nicht leben konnten. In ihm war etwas, das weiterging, das nach Antwort suchte in uns.
Sie sehen, hier etwas zu Peter Weiss zu sagen, hat mit der Arbeit an Zeit zu tun, mit der Notwendigkeit, sie in Frage zu stellen, sie aufzubrechen und zurückzuweisen, wie Weiss in seiner Arbeit nicht aufgehört hat, es zu versuchen. Das wiederum hat mit Gerechtigkeit und Genauigkeit zu tun. Auch mit Verantwortung in dem Sinne, dass es in der Verantwortung um ein Antworten geht. Wem also antworten? In unserer Zeit, die keine Zeit mehr hat und darum sich auch nicht mehr befragen lässt, so dringend, so drängend stellt sie sich uns unablässig dar. Wollen wir diesem Drängen folgen? Oder genauer gefragt, können wir diesem Drängen folgen? Geht es dabei um ein Folgen? Was würde uns vorausgegangen sein, wessen Nachfolger wären wir? Und, wie antworten auf Peter Weiss?
In Slavoj Zizeks Kommentar zu einer Szene aus Matrix, in der dem Protagonisten eine rote Pille und eine blaue angeboten wird – die blaue ist fürs Zurückkehren ins gewohnte Leben, die rote fürs Bleiben im Phantastischen –, fordert er eine dritte Pille. Kunst versucht diese dritte Pille zu sein. Eine realistische Pille für das Phantastische der Realität, und die vielleicht keine Pille ist, sondern die Art von Medizin, die Kunst ist. Henri Michaux sagt dazu: „Eines Tages wird man vielleicht wissen, dass es keine Kunst, sondern nur Medizin gab.“
Ich muss siebzehn gewesen sein, als ich mit meinem Deutsch Leistungskurs in Köln den Marat/Sade gesehen habe. Ich glaubte an Gespenster, ohne die sich keine Ästhetik des Widerstands denken lässt. Wie aber mit ihnen? Wie zu ihnen sprechen? Im Marat/Sade ist die Unerlöstheit der beiden Figuren, ihrer gegeneinanderstehenden politischen und ästhetischen Konzepte das Zentrum des Stücks, das es zugleich sprengt. Denn da gibt es die anderen, die aus den beiden Positionen nicht eine machen, sondern sie vervielfachen: die Wahnsinnigen. Sie haben die dritte Pille genommen.
Diese Vervielfachung durch das, was wir den Wahnsinn, die Wahnsinnigen nennen, ist, was das Stück so phantastisch macht, wodurch es sich in all seinen unauflösbaren Widersprüchen so frei bewegen kann. Als setzte das Spiel der Wahnsinnigen dem Stück Gelenke ein. Ihre zerreissende Wirksamkeit, die aus dem Aufbruch genauso hervorgeht wie aus dem Widerstand gegen diesen Ausbruch. Da geschieht der Wahnsinn, bricht aus wie die irren Reflexe der Revolution, deren Erfahrung nicht begrenzbar ist. Bis heute nicht.
Der Wahnsinn, der sich zwischen und mit den widerstehenden Positionen bewegt, setzt nicht nur dem Stück, sondern darüber hinaus auch der Geschichte der Französischen Revolution, wie wir sie uns heute vergegenwärtigen können, Gelenke ein.
Jean-Luc Godard sagt dazu, eins und eins sind drei. Drei, das sind die Wahnsinnigen, aus beiden, Marat und Sade, nicht eins, sondern ein weiteres, ein drittes. Das ist die Form, in der Widerstand und Ästhetik aufstehen, übergehen, weitergehen.
Marat und Sade verbindet der Wahnsinn, der nicht als persönliche Krankheit, sondern als zerreissender Zustand von Unauflösbarkeit, als Vergegenwärtigung anderer Widerstände des Widerstands Raum bekommt, Sprengkraft entfaltet. Die Energie dieser entfesselten Unauflösbarkeit, ist, was sich auf mich sofort übertrug. Und zwar als eine Energie des Unauflösbaren, auch des Unerträglichen, mit der ich mich gemeint fühlte – hin und her rasend, wie das Weberschiffchen zwischen den gespannten Fäden, als hätte auch ich die dritte Pille genommen.
Antonin Artaud mit seinem Theater der Präsenz, seinem Theater der Grausamkeit ist vom entgegengesetzten Pol her der grosse Unerlöste des Theaters. Im Marat/Sade treffen sie sich. Und was dabei entsteht, ist die Erfahrung von Angst im Theater, mit uns im Raum, im Hellen, in der Gemeinschaft der anderen Theaterbesucher, wirklich und phantastisch – jedenfalls ist es einmal geschehen. Ernst Wendt hat es in seiner Rezension zur Premiere von Marat/Sade in London berichtet. Für einmal war das Theater tatsächlich der Ort, in dem die Toten sprechen, in dem wir mit den Toten sprechen können, – und gibt es etwas Beängstigenderes?
Angst – ein unrepräsentierbares Gefühl, das einzige Gefühl, dass nicht täuscht (sagt Sigmund Freud). Wenn also Wendt in der Aufführung von Marat/Sade Angst vor den Schauspielern in der Irrenanstalt des Theaters hatte, so ist das ein grosses Theaterereignis gewesen, so, wie Artaud es im Sinn hatte.
Den Lusitanischen Popanz habe ich im gleichen Jahr, 1974, im Freiherr von Stein Gymnasium in einer Schülervorstellung gesehen. Ich erinnere mich so gut wie gar nicht an den Stückinhalt, aber an die Theatersprache, die Energie auf der Bühne – sie war phantastisch, popanzisch. Es wurde mit viel zu grossen, überzeichneten Masken gespielt, Chöre traten auf, gaben Gesänge in einer viel zu schweren Sprache von sich, in der sich Anbetungslust, falscher Mythos, Unterwerfung unter die Ordnung, Opferung der Verwirrung, zugleich Vermischung von all dem abspielte. All das entsprach dem Stück, entsprach auch seiner Uneingelöstheit.
Es war weniger ein Theaterstück als ein wüster Polit-Diskurs-Reigen, der sich einer Dramatisierung widersetzte. Was bei den Schauspielenden zu einer grossen Spielfreude geführt hat. Der Widerstand des Stücks war, dass seine Sprache und seine Mittel nicht aufgingen, sie passten nicht zusammen. Und davon handelte das Stück.
Mir ist, nun so aus der Erinnerung, als hätte ich auf der Bühne eine Vorstellung von notwendig falschem Bewusstsein gesehen, dargestellt von theaterbegeisterten Schülern, halb verrückt, zumindest waren sie auf der Suche nach Verrückungen, und dafür bot das Stück Anlass, Material, Antrieb.
Es wurde in der Atmosphäre jenes dunklen Lichts gespielt, das keine Sonne löscht: Wir sassen in der Höhle, betrachteten Erscheinungen. Sie waren laut, unheimlich, schemenhaft, glitten hin und her. Dargestellt von den Schülern, die sich selbst spielten, oder etwas von ihrem Selbst, das ein hingeworfener Schein war. Sie wussten es, sie wollten es.
An diesem Abend, an den ich mich erinnern kann wie an ein unbändiges Gefühl, das sich im Raum bewegte, sich gegen Wände warf, spielte das Wahnsinnige des Poltischen mit, oder anders gesagt, das Politische war an diesem Abend wahnsinnig. Das war das beängstigende an dieser Dunkelheit, an dieser Vorstellung des Scheinhaften der Vorstellung selbst.
Ähnlich wie bei Marat/Sade – auch wenn die Stücke ganz unterschiedlich sind – öffnete sich das Stück auf diese unheimliche Verbindung von Politik und Wahnsinn, von Geschichte und der endlosen, ruhelosen Rückkehr ihrer negierten, vertriebenen, unaufgelösten Möglichkeiten.
Seit den tollen Stücken von Weiss, ihrer phantastischen Wirkung auf der Bühne, wo sie überbordeten, immer mehr waren als Analyse, auch der Widerstand dagegen, hat sich durch unsere Kultur eine ungeheure Psychologisierung von allem und jedem ausgebreitet, auch der Ästhetik, der Politik sowieso. Immer unter dem Schlachtruf der Individualisierung, wurde eine Verallgemeinerung des durchsichtigen, unwiderständigen, therapierbaren Menschen durchgesetzt, der allein ist, der nicht in Zusammenhängen sich sieht, höchstens denen von Papa und Mama.
Ich finde es bemerkenswert, wie wenig wir uns in anderen Rhythmen, Zeiten, Verhältnissen sehen und entwerfen können. Etwas, woran Weiss immer gearbeitet hat, im Kleinen, im Grossen, in waghalsigen Überfrachtungen.
Darum frage ich mich, ob wir den Wahnsinn als repräsentationslosen Ausdruck einer Verbindung mit anderen Mächten als denen, die beherrschen zu können wir unablässig behaupten, nicht nochmal und wieder zu denken hätten. Jedenfalls, wenn es um Ästhetik und Widerstand geht. Die Kräfte des Wahnsinns in ihrer Wirklichkeit, in ihrer phantastischen Wirkung zu denken – ihnen eine Sprache zu suchen –, denn sie widerstehen der Sprache – ist, was eine Ästhetik des Widerstands ausmacht: Sich der radikalen Sprachlosigkeit der Reste, des Unaufgelösten aussetzen und von da aus Sprache zu suchen, und zu sagen, was sich nicht gibt.
Was uns heute fehlt, ist ein Denken der Einheit von Denken und Leiden, der Einheit von Unvermögen und Vermögen, von Wahnsinn und Werk. Es ist ungeheuerlich, wie sehr wir dieses Denken aufgegeben haben, das uns erlauben könnte, uns in anderen Zusammenhängen wahrzunehmen, uns denkend auszusetzen den „Furien, deren Allerheiligstes viele Klafter unter Erziehung und Hirnwäsche vergraben liegt, sie haben den Frauen gesagt, dass sie zurückkehren werden, die Schicht der Furcht und der Scham durchbrechen und den Riss in der Zellentür: die Tollheit.“ Wie Leonora Carrington sagt.
So dass wir wieder uns zu fürchten lernten vor den Wahnsinnigen, die die Wahnsinnigen spielen in einem Stück der Revolution, was nur realistisch wäre.
Doch wir werden von einem viel fürchterlicheren Wahn bedrängt, das, was uns als real, als notwendig, als so ist es, als Demokratie, als Freiheit, als Sicherheit, als Kunst angetragen wird, tatsächlich als das anzunehmen, wirklich, da, notwendig.
Wir brauchten die Möglichkeit nein zu sagen – wir brauchten, den Tod wieder einzuführen in unser Denken von uns, den anderen, in unser Denken der Zeit und wie wir sie nie haben werden, die wir doch so dringend brauchen. Darin aber gibt es Zeit.
Peter Weiss ist diesem Projekt verpflichtet. An ihn anzuknüpfen, ihn fortzusetzen, seine Arbeit nicht verschwinden zu lassen, sondern an dem, was sich in ihr widersetzt anzusetzen, am Unerlösten, Ambivalenten, wo es nicht weitergeht, wo die Form sich nicht löst, nicht gibt, wo es sprachlos wird, da gilt es weiter zu arbeiten.
Das Unlösbare aus der Zeit der Zeit übergeben, einer zu kommenden, einer noch immer zukünftigen.
* Vortrag am Symposion aus Anlass des 100. Geburtstags von Peter Weiss, Universität Zürich, 28.10.16.