Axel Honneth will in seinem Buch „Die Idee des Sozialismus“ eben diesen erneuern. Kritische Anmerkungen zu seinem Geschichts- und Gesellschaftsverständnis.
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Die Diskussion über Sozialismus und Kommunismus als vorläufiges Ziel der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung ist auch nach dem Ende des staatssozialistischen Projekts keineswegs an ein Ende gekommen. Wie sollte das auch der Fall sein? Diese intellektuell-politische Strömung gehört zur modernen, bürgerlichen Gesellschaft, auch wenn sie mitunter stark marginalisiert sein kann. Eine militante, sozialistisch-kommunistische Arbeiterbewegung gibt es heute in Deutschland kaum. In den Gewerkschaften und ihrem Umfeld finden sich allenfalls kleine Gruppen. Die SPD hält an dem Wert des demokratischen Sozialismus fest. Von der Partei „Die Linke“ wird der Anspruch auf einen Sozialismus 2.0 erhoben, doch mobilisierend und politikbestimmend wirkt das gegenwärtig nur in geringem Maß. Daneben gibt es zahlreiche kleine sozialistische, kommunistische und anarchistische Gruppierungen, deren Aktivitäten darauf zielen, eine Form postkapitalistischer Vergesellschaftung zu erreichen. Gelegentlich haben sie Mobilisierungserfolge in Einzelfragen. Doch sind sie weit entfernt von einer globalen Strategie; und nicht allen möchte man angesichts dessen, was sie im Einzelnen vertreten und welche Haltungen sie praktizieren, Erfolg wünschen – das Niveau der Einsichten in die autoritären Dynamiken auch linker Positionen ist gering.
Am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit und in subkulturellen Zusammenhängen gibt es eine teilweise intensiv geführte Diskussion über Kommunismus und Sozialismus, in zahlreichen Publikationen wird an einer Neufassung des Verständnisses gearbeitet. Dafür stehen international bekannte AutorInnen wie Antonio Negri und Michael Hardt, Alain Badiou, Slavoj Žižek oder Jodi Dean mit einer eher kommunistischen Ausrichtung, Ernesto Laclau mit einer revidierten Konzeption des Sozialismus, die mit ihren Veröffentlichungen und Veranstaltungen auch außerhalb akademischer Zusammenhänge eine erhebliche Resonanz erwarten können. Hinzu kommen die zahlreichen Überlagerungen der Diskussionen mit denen über eine radikale Demokratie, einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie er insbesondere in einigen lateinamerikanischen Ländern verfolgt wurde und teilweise noch wird, über Post-Wachstum und Post-Extraktivismus, über queere Demokratie, über Commons und Commoning (vgl. dazu Brangsch, Brie 2016). In weiteren Diskussionen wie denen über Intersektionalität oder Postkolonialität wird über Zusammenhänge verschiedener Emanzipationsperspektiven nachgedacht.
Wenn Alain Badiou sich an der Aktualisierung eines post-marxistischen Kommunismus versucht, dann bemüht er sich um eine Analyse jener Erfahrungen, die die kommunistische Bewegung im 20. Jahrhundert gemacht hat. Er bezieht sich auf jenen Ausgangspunkt des Anspruchs der Gleichheit, wie er vom linken Flügel der französischen Revolutionäre erhoben wurde. Auch Mimmi Porcaro (2015) nimmt in seinen Überlegungen zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts Bezug auf die kommunistische und sozialistische Tradition. Ebenso wie Badiou oder Negri bemüht sich Porcaro sowohl methodisch als auch in der konkreten Analyse, seine Überlegungen aus den Erfahrungen der sozialistischen Bewegung heraus zu entwickeln. Methodisch und historisch entspricht dies der Überlegung von Marx, daß es ja nicht ausreicht, den Prozessen der sozialen Wirklichkeit gute Absichten, Argumente oder moralische Normen entgegenzuhalten. Den Vorzug der von ihm vertretenen Richtung erblickt er darin, daß „wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.“ (MEW 1, 344)
Viele Stellen in dem Buch von Honneth lesen sich durchaus so, als wollte er dieses Urteil von Marx bestätigen und sich als Erfinder betätigen, also am Pult einen Sozialismus kreieren. Ob ein solcher Sozialismus selbst Teil eines gesellschaftlichen Prozesses ist, scheint ihn gar nicht weiter zu interessieren.
Marx weiter: „Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder!“ (MEW 1, 345) Diese „Welt“ besteht aus mehr als einer Welt, sie ist in sich gespalten und bestimmt von unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Bestrebungen und Perspektiven auf die zukünftige Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen und in ihrem Verhältnis zur Natur. Die Theorien gehören diesen sozialen Tendenzen an und tragen mehr oder weniger elaboriert zum Selbstverständnis der sozialen Akteure bei, die diese Tendenzen verkörpern und tragen. Für die sozialistische Theorie und Politik stellt es eine große Herausforderung dar, wenn soziale Gruppen, deren Arbeitsvermögen durch Kapitaleigentümer in welcher Form auch immer angeeignet wird, dies passiv hinnehmen oder vielleicht sogar aktiv bejahen. Dann lässt sich wohl sagen, dass die kommunistischen und sozialistischen Ziele, Haltungen, Engagements, Theorien zwar weiterhin existieren und sich damit als ein immanentes Moment der historischen Entwicklung erweisen. Sie bleiben, auch wenn sie gegenwärtig schwach sind, eine Tendenz in dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Quälend daran ist nicht nur, dass diese Tendenz tatsächlich schwach und ihr organisierendes und mobilisierendes Potenzial, ihr intellektueller Einfluss gering sind; quälend ist vor allem, dass, da die Freiheit nicht in Anspruch genommen wird, alternative Wege zu gehen, Festlegungen mit langfristigen und teilweise irreversiblen Folgen stattfinden: ökologische Krisendynamik, Verarmungsprozesse oder Zunahme der Ausbeutung. Dass Freiheit blockiert ist, lässt sich erklären durch die gesellschaftlichen Entwicklungen selbst, durch die enorm gewachsenen Möglichkeiten der Sozialtechniken der Menschenführung, der Kontrolle und Repression und durch Niederlagen der Linken.
Gegen den Zweifel, dass Sozialismus ein überholtes Projekt sein könnte, stellt sich auch Axel Honneth mit seinem Buch „Die Idee des Sozialismus“ (2015). Er befreit sich allerdings von der methodischen Last, eine realgeschichtliche Tendenz, eine konkrete Bewegung des Sozialismus zu eruieren, indem er vorschlägt, die Idee des Sozialismus hermeneutisch angemessen zu rekonstruieren, um diese Idee zu aktualisieren und ihr zu neuer Stärke zu verhelfen. Seine Überlegungen beginnen mit der zeitdiagnostischen Feststellung einer überraschenden Schwäche des Sozialismus. Es sei eine neue Erfahrung in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie keinen über sich hinausweisenden Erwartungshorizont mehr mit sich führe, der das Handeln der Individuen motiviere. Honneth erklärt diesen Verlust weniger mit historischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern vor allem mit einer Schwäche der Idee des Sozialismus selbst. Diese Schwäche sei die Folge davon, dass die Idee des Sozialismus (immer noch) in ein Denkgehäuse verkapselt sei, das seine Grundlage im frühen Industrialismus habe. Honneth versteht sein Buch als einen Beitrag dazu, die Idee des Sozialismus zeitgemäß zu reformulieren und ihr die Kraft einer Utopie wiederzugewinnen, die überzeugt, die Verhältnisse mit kollektiven Anstrengungen zugunsten eines Besseren zu verändern. Sie sei von Frühsozialisten im Anschluss an die Französische Revolution formuliert worden, doch in einer Weise, die erheblich dazu beigetragen habe, die Geltung dieser Idee selbst zu schwächen. Deswegen will Honneth sie aus den historischen Beschränkungen des Frühsozialismus herauslösen, sie von den Schlacken seines im 19. Jahrhundert wurzelnden Denkgehäuses befreien und auf einer abstrakteren und höheren Ebene reformulieren, so dass sie formaler ist, auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge übertragen werden und die moralischen Antriebskräfte wiederbeleben kann (vgl. 146).
Glutkern des Frühsozialismus
Was kennzeichnet die Idee des Sozialismus? Was ist jener lebendige Funke und Glutkern des Frühsozialismus, auf den sich Honneth bei seinem Versuch beruft, zur Erneuerung des Sozialismus beizutragen? Honneth sieht als Kern die drei großen Normen, die von der Französischen Revolution ins Zentrum der modernen bürgerlichen Selbstverständnisses gerückt wurden: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er vertritt die Ansicht, dass der Sozialismus den Liberalismus von innen heraus fortentwickelt, also eine Art reflexiver Kritikmechanismus ist, der auf eine weitere Verwirklichung des in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Normen immer schon bestehenden Emanzipationspotentials drängt. „So gesehen stellt der Sozialismus von Anfang an eine Bewegung der immanenten Kritik der modernen, kapitalistisch verfassten Gesellschaftsordnung dar, akzeptiert werden deren normative Legitimationsgrundlagen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ (33) Die von Marx angestellte Überlegung, daß diese Normen objektive Denkformen sind, die notwendigerweise mit der Herausbildung der kapitalistischen Lohnarbeit und freien Privatrechtssubjekte verbunden sind, und deswegen der Sozialismus sich nicht auf diese Normen berufen sollte, weil sie nicht über den Kapitalismus hinausführen, sondern Alternativen entwickeln muss, zieht Honneth nicht in Betracht. Bei der Frage des Sozialismus geht es aus seiner Sicht nicht vorrangig darum, durch eine Neuorganisation der ökonomischen Sphäre diese wieder an die gesellschaftliche Willensbildung zu binden und der durch den Staat repräsentierten Verfügungsmacht der Gesellschaft zu unterstellen (27, 32), ebenso wenig um eine gerechtere Verteilung von Ressourcen (29, 33) oder eine Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum (30). Solche Maßnahmen wären nur Voraussetzungen, um moralische Forderungen verwirklichen zu können.
Mit dieser Überlegung verschiebt Honneth von vornherein die Frage nach dem Sozialismus von materialen hin zu moralphilosophischen Fragen. Gerade die besondere theoretische und praktische Innovation der sozialistischen Bewegung, nämlich zu entdecken, daß allein ein Handeln auf der politischen Ebene entsprechend der Verwirklichung der Normen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unzulänglich bleibt, keine dauerhaften Veränderungen in der Lebenslage der Menschen mit sich bringen kann und aus innerer Dynamik Rückfälle in autoritäre Politikmuster mit sich bringt und deswegen allein die Dynamik einer materiellen Veränderung in den realen Prozessen des Zusammenlebens selbst die Demokratie herstellen und sichern kann, wird nicht nur zur Seite geschoben, sondern von Honneth sogar abgewertet, wie noch deutlich werden wird.
Im Zentrum des Frühsozialismus stehen also, Honneth zufolge, die normativen Prinzipien, die mit der Französischen Revolution zur Geltung gelangten. Die Frühsozialisten kritisierten ihre unzulängliche Verwirklichung. Denn ein liberales, besitzindividualistisches und privatrechtliches Verständnis von Freiheit – also die wirtschaftliche Freiheits- und Nutzenverfolgung im Rahmen allgemeiner Gesetze – musste zwangsläufig mit der Norm der Solidarität kollidieren. Der Begriff der Freiheit wurde entsprechend erweitert und „stärker in Richtung eines intersubjektiven Vollzugs“ gedacht, um mit der Norm des brüderlichen Füreinandereinstehens zusammengehen zu können. Im Kraftzentrum einer sozialistischen Gesellschaft, in der Wirtschaft, sollte Freiheit nicht mehr als private Interessenverfolgung gefasst, sondern als solidarisches Sich-Ergänzen etabliert werden. Die revolutionär proklamierte Freiheit soll „in der neuen Form einer ungezwungenen Kooperation mit dem anderen Revolutionsversprechen der Brüderlichkeit vereinbar“ gemacht werden (33). Der negative liberale Begriff der Freiheit begrenzt die Freiheit der Individuen und macht aus ihr ein Nullsummenspiel: die Freiheit des einen geht dann zu Lasten des anderen – und allein das allgemeine Gesetz kann dann negativ und wie von außen die Freiheitssphäre der Einzelnen davor schützen, von anderen belästigt und übervorteilt zu werden.
Demgegenüber wird von der sozialistischen Tradition ein positiver Freiheitsbegriff in Anspruch genommen. Honneth beruft sich dabei insbesondere auf Proudhons Formulierung, wonach die Freiheit eines jeden nicht als eine Schranke, sondern als eine Hilfe für die Freiheit aller anderen zu begreifen sei. Freiheit und Solidarität fallen hier zusammen.
Honneth legt zwei weitere Aspekte dar, um einen differenzierten Begriff von sozialer Freiheit zu gewinnen. Es soll zum einen nicht angenommen werden, dass die Freiheit der Individuen bereits vor der Gemeinschaft bestehe und sie jeweils für sich zu fertigen Entschlüssen gelangten. Vielmehr sei die Gemeinschaft als die soziale Bedingung zu denken, „unter der die Mitglieder überhaupt erst dadurch vollends zur Freiheit gelangen, dass sie ihre noch unabgeschlossenen Handlungspläne wechselseitig ergänzen können“ (35). Zum zweiten seien die Einzelnen nicht länger allein durch das bloß anonyme und von außen kommende Ineinandergreifen ihrer jeweils privaten Zwecke aufeinander bezogen, sondern teilen untereinander die Besorgnis um die „Selbstentfaltung“ (34) und „Selbstverwirklichung aller anderen“ (39). Die vom Einzelnen verfolgten Zwecke seien zugleich als Bedingungen der Realisierung der Zwecke des jeweils anderen zu denken. Die gemeinsam geteilten Zwecke der Einzelnen überlappten sich nicht aufgrund einer zufälligen Interessenkonstellation, vielmehr werde ein solcher gemeinsamer Zweck auch zum Inhalt der individuellen Zwecksetzung. Die Individuen sind füreinander tätig und um die Bedürftigkeit des jeweils anderen besorgt (53).
In Honneths Bezug auf die Französische Revolution und in seiner Rekonstruktion der sozialistischen Idee spielt die Norm der Gleichheit keine besondere Rolle oder wird dem Begriff der Freiheit als gleiche Freiheit untergeordnet. Das ist eigenwillig und eher liberal gedacht. Tatsächlich finden sich im Prozess der Revolution – im Manifest und der Verschwörung der Gleichen – die ersten Grundlagen des Frühsozialismus, der in Anspruch nimmt, Gleichheit als soziale Gleichheit zu verwirklichen. Freiheit und Demokratie lassen sich nicht erlangen ohne eine andere, nämlich gleiche Verteilungsstruktur. Allerdings hat die sozialistische Bewegung durch den Bezug auf Gleichheit den Begriff der Freiheit stark vernachlässigt. Dadurch hat sie sich nicht nur von der Seite des Liberalismus aus angreifbar gemacht, mehr noch hat die Geringschätzung der freiheitlichen Dimension zu tragischen Fehlverständnissen von Sozialismus bei seinen AnhängerInnen beigetragen.
Der Hauptstrom der sozialistischen Diskussion war geprägt von rousseauistischen und hegelianischen Annahmen, die das Ganze, den Allgemeinwillen des Volkssouveräns und den Staat als Verkörperung der Vernunft ins Zentrum der Argumentation und gegen die vermeintlich bloß partikularen Interessen der Einzelnen stellten (vgl. hierzu Brangsch, Brie 2016, 227ff). Für die Vermittlung des Ganzen durch das Individuum oder gar für einen Vorrang individueller Freiheit vor dem Ganzen war da wenig Platz – wie die ältere Kritische Theorie immer wieder in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Kant und Hegel gezeigt hat, um gegen das Primat des Allgemeinen Stellung zu beziehen, dem die Einzelnen ein- und untergeordnet werden. Genau an diesem entscheidenden Punkt sollte deswegen ihrer Ansicht nach die Emanzipation mit der bürgerlichen Gesellschaft brechen, die immer noch die Zwänge der Naturgeschichte und damit das Allgemeine in verschiedenen Formen als Ordnung, als Staat, als Überleben der Rasse vor das Leben der Einzelnen stellte.
Zentrale Bedeutung individueller Freiheit
Wenn Honneth den Gedanken der Freiheit für den Sozialismus erschließen will, setzt er nicht nur diese Kritik fort, sondern trägt zu einer bedeutsamen Korrektur im Verständnis von Sozialismus bei. Er betont die zentrale Bedeutung individueller Freiheit und geht über ein liberales, negatives Verständnis von Freiheit hinaus, wenn er betont, dass die individuelle Freiheit durch die Freiheit der anderen gesteigert wird. Diesen Gedanken einer positiven Freiheit entfaltet er unter Bezug auf ein Exzerpt von Marx aus John Stuart Mills Politischer Ökonomie, nicht jedoch mit Hinweis auf den bekannten Satz aus dem „Kommunistischen Manifest“, in dem Marx und Engels schreiben, dass die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4, 482). Marx und Engels sprechen hier nicht von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Individuen, also davon, dass etwas, was in ihnen schon enthalten ist, sich nur durch ihnen entgegenkommende andere Individuen entfalten und Wirklichkeit werden könnte. Auch ist wohl nicht gemeint, dass Individuen in ihre jeweiligen Lebenspläne die Pläne der anderen jeweils schon vorwegnehmend aufnehmen und entsprechend handeln. Das wäre allenfalls in einem engen Umfeld von Personen möglich. Zudem stellte sich dann nachdrücklich die Frage, was jeweils ihre eigenen Absichten, Ziele, Wünsche sind, wenn sie sich fürsorglich immer schon auf andere eingestellt haben und ihre eigenen Interessen immer nur aus dem Blickwinkel der anderen sehen. Erlangen die Individuen also überhaupt die Möglichkeit der freien Entwicklung? Setzt diese nicht auch Autonomie voraus, also die Möglichkeit, sich von dem Bezug auf diese konkreten Anderen frei zu machen und erst einmal herauszufinden, was man oder frau selbst will, wünscht, begehrt? Gehört zu dieser Autonomie nicht auch noch die Freiheit von sich und der eigenen Identität?
Honneth bewegt sich mit seinen Überlegungen auf dem Niveau eines geschlossenen Spiegelstadiums intersubjektiver Verhältnisse; und weil alle derart in Projektionen verstrickt sind, könnte die entsprechende Form des Zusammenlebens sich durchaus problematisch entwickeln. Sein Konzept von sozialer Freiheit ist kommunitär und tendiert zur sanften Repression der Intimität. Weder das Individuum mit seinen heterogenen und nuancierten Bedürfnissen und Wünschen kommt in den Blick noch umfassendere Lebenszusammenhänge, in denen die Einzelnen oder Gruppen sich bewegen, ohne jeweils die Lebenspläne aller dieser vielen Menschen jeweils antizipierend in ihr eigenes Handeln einbeziehen zu können.
Honneth bestreitet zwar, dass seine Konzeption nur für kleine Gemeinschaften tauge, und behauptet, dass schon ausreiche, wenn sich Individuen mit Blick auf gemeinsame Zielsetzungen als gleichgesinnt verstehen (53). Doch hatte er ja gerade dieses Argument selbst für unzulänglich erklärt, wenn er betonte, dass gemeinsame Zielsetzungen noch keine ineinandergreifenden Zwecke und wechselseitigen Besorgnisse um die Bedürftigkeit der jeweils anderen sind. Zudem ist sein Hinweis auf große imaginäre Gemeinschaften wie Nation oder politische Bewegung als Veranschaulichung seines Gedankens denkbar ungeeignet, wenn nicht besorgniserregend. Denn Nation trägt zu einer solchen wechselseitigen Fürsorge und sozialen Freiheit nicht nur nicht bei und bleibt imaginär – allenfalls kommt es zu einem staatlich vermittelten, autoritären Interessenausgleich –, sondern schließt Menschen auch ausdrücklich und sehr häufig feindselig aus. Politische Bewegungen können vielleicht eine freie Solidarität befördern, doch bleiben sie kurzlebig; und vor allem ist zu erwarten, dass ihre Erfolgsorientierung den Spielraum für soziale Freiheit eher gering hält. Solche Überlegungen entsprechen nicht der Zielsetzung der kritischen Theorie der Gesellschaft, die auf eine freie, assoziierte Menschheit zielt. Das Individuum, wie es gerade jetzt und hier existiert, kann nicht der Maßstab von Freiheit sein – Honneth sagt dies ja selbst: die Freiheit hängt von der Form des Zusammenlebens ab. Denn nach welchen Kriterien beurteilen wir die Pläne der anderen? Was ist, wenn es sich um Rassismus als Solidarität handelt? Welche Bedürftigkeit von anderen beurteilen wir derart, dass wir sie frei und solidarisch in unsere eigenen Pläne integrieren?
Auch die Ausrichtung am psychologischen Modell der Individualität ist nur bedingt geeignet. Ein positiver Begriff von sozialer Freiheit zielt nicht primär auf ein intersubjektives Füreinander von individuellen Lebensplänen, sondern darauf, jene Verhältnisse frei wählen und gestalten zu können, unter denen die Menschen miteinander leben und sich zu mehr oder weniger nuancierten Individuen bilden können. Dies bedeutet, dass die Menschen Verhältnisse suchen, gestalten und festlegen, unter denen sie in einer Weise leben können, die ihre eigene Freiheit vergrößert und damit auch die Freiheit der anderen, also deren Möglichkeiten, sich gleichfalls an den das gemeinsame Zusammenleben gestaltenden Entscheidungen zu beteiligen, um ihre Lebensformen, Pläne und Wünsche einzubringen. Das sollte dann nicht von einer besonderen ethischen Tugend, einer Haltung oder moralischen Norm abhängig sein (53), in der sich Individuen von vornherein auf andere einstellen, sondern von Verhältnissen, unter denen die Individuen für sich in den Genuss kommen, frei entscheiden zu können und damit die Möglichkeiten freier Entscheidungen für die anderen vergrößern. Dies schließt ein wesentliches Merkmal für Freiheit in der sozialistischen Tradition ein: die Freiheit von materiellen Abhängigkeiten und Zwängen, also von all dem, was zum Reich der Notwendigkeit gehört, und das heißt vor allem: von der Lohnarbeit, von der Arbeit in all ihren Formen überhaupt, von den Zwängen, die die sachlichen Abhängigkeiten der Ökonomie, der Politik oder der Kultur mit sich bringen. Diese Fragen der konkreten Freiheit interessieren Honneth allerdings kaum.
Kritik am Frühsozialismus
Sein Begriff positiver Freiheit, also soziale Freiheit, Honneth räumt dies selbst ein, ist eine von ihm entwickelte normative Konstruktion, die sich in dieser Form bei den Frühsozialisten gar nicht findet, die er sich aber erlaubt, mit einer wohlmeinenden Hermeneutik in ihren Texten freizulegen. Dies könne dann durchaus dazu führen, dass aufgrund der „Revision“, die Honneth vornimmt, der „Sozialismus eine Gestalt annimmt, in der die Mehrzahl seiner vormaligen Anhänger kaum mehr werden wiedererkennen können, was sie einmal als dessen eigentliches Anliegen und theoretischen Impuls wahrgenommen haben“ (163). Das stimmt – doch an dieser Stelle ist etwas anderes entscheidend. Erklärungsbedürftig ist, warum gerade diese „Idee“, deren Elemente Honneth ja bei Proudhon und Marx, aber dann auch bei Luxemburg, Gramsci oder Adorno findet, sich so wenig hat zur Geltung bringen können. Honneth thematisiert dies nicht als ein Problem der fraktionellen Auseinandersetzungen innerhalb der sozialistischen Tradition, ebenso wenig als Ergebnis der sozialen Kämpfe mit dem bürgerlichen Lager, in denen sich ja zwangsläufig Forderungen und Kampfformen bilden, die selten frei gewählt sind. Vielmehr argumentiert er, daß diese Idee der sozialen Freiheit eingekapselt war in ein zweifelhaftes Denkgehäuse des frühen Sozialismus. Es zeichnet sich durch drei Merkmale aus.
1) Die frühen Sozialisten nehmen einseitig an, dass die Freiheit ihren Ort in der ökonomischen Sphäre habe. Sie müssen deswegen annehmen, dass eine freiheitlich-solidarische Reorganisation der Gesellschaft sich allein in einer kommunitären Umgestaltung der Wirtschaft vollziehen könne. Damit ist ihnen dann allerdings „plötzlich und ohne es recht zu bemerken die Chance genommen, das neue Regime einer demokratischen Aushandlung gemeinsamer Ziele ebenfalls in Kategorien der Freiheit zu denken“ (58). Honneth hat empirisch und theoretisch Unrecht, die Demokratie wurde keineswegs vernachlässigt. In der sozialistischen Tradition gab es kontinuierlich die Forderung nach Demokratie und dem allgemeinen-gleichen Wahlrecht. Die Frage nach dem Verhältnis zum Staat war durchaus strittig, ein großer Teil der sozialistischen Tradition unterstützte eher naiv die Forderung nach einem parlamentarisch-repräsentativen Staat. Gerade diese Naivität stellte eines der Probleme dar. Denn es wurde angenommen, dass die arbeitende Klasse, weil sie die große Mehrheit des Staatsvolks darstellt, auch den Allgemeinwillen verkörpert. Angenommen wurde, daß in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie sich dieser Wille der arbeitenden Bevölkerung – vermittelt über die sozialdemokratische Partei – als Allgemeinwille durchsetzen könnte. Tatsächlich wurde die Stärke der bürgerlichen Minderheit bei der Nutzung der parlamentarischen Instrumente selten bedacht; auch wurden die Vermittlungsprobleme nicht angemessen wahrgenommen, die sich daraus ergaben, dass die arbeitende Klasse in sich keineswegs homogen war und nicht alle Teile des „Staatsvolks“ zur Arbeiterklasse gehörten. Marx war mit diesen Annahmen unzufrieden, weil er die Trennung von Bourgeois und Citoyen überwinden wollte, die Trennung von egoistischen Privatrechtssubjekten auf der einen Seite und politischen Bürgern, die ihr partikulares Interesse für ein allgemeines hielten. Nicht in der Ökonomie als solcher soll die Sphäre der Freiheit geschaffen werden, sondern die umfassende Kooperation sollte sich als Gemeinwesen konstituieren, so dass die gesellschaftlich relevanten Entscheidungen nicht diktatorisch von wenigen vermögenden Privateigentümern getroffen wurden, sondern von allen, die an der Kooperation beteiligt sind.
2) Die zweite Prämisse des traditionellen sozialistischen Denkgehäuses habe in der Unterstellung bestanden, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft bereits eine Oppositionskraft vorhanden sei, die von den frühen Sozialisten und den von ihnen formulierten Idealen repräsentiert werde. Es habe sich nicht um eine empirisch offene Suche nach widerständigen Akteuren gehandelt, die die von den sozialistischen Theoretikern formulierten freiheitlichen Ideale einmal verwirklichen würden. Vielmehr sei die objektive Existenz solcher Kräfte apodiktisch vorausgesetzt worden. Dies habe dann dazu geführt, nicht mehr empirische Interessenlagen und faktische Begehrlichkeiten zu untersuchen, sondern Akteuren bestimmte Anliegen zuzuschreiben, die sie verfolgen müssten, hätten sie nur die richtige Einsicht in ihre Lage. Honneth beklagt die Selbstbezüglichkeit, also eine Art von Tautologie, durch die die sozialistischen Theoretiker ihre Ideale den sozialen Akteuren unterstellten, um sie dann innerhalb der sozialen Wirklichkeit durch ein „Kollektivsubjekt“ repräsentiert zu finden. Dieser selbstbezügliche Kreislauf konnte historisch dann keinen Bestand mehr haben, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Industriearbeiterschaft zur Minderheit in der Masse aller Lohnabhängigen geworden sei. Grundsätzlicher aber bringe eine solche Annahme den Sozialismus selbst in Gefahr, wenn dessen Existenzberechtigung an den Bezug auf eine konkrete soziale Bewegung geknüpft werde. Denn ohne eine gesellschaftliche Kraft, die darauf drängte, die sozialistischen Ideale zu verwirklichen, würde dann auch der Sozialismus wie „jede andere normative Theorie ein Ideal gegenüber einer uneinsichtigen Realität zur Geltung bringen“ (71). Umgekehrt gerät der Sozialismus allerdings auch in Gefahr, wenn er sich nicht mehr auf die Klasse der Lohnarbeitenden bezieht.
Gegen Honneth muss eingewendet werden, dass die Zusammenhänge empirisch und theoretisch komplizierter sind. Zu Zeiten, als die sozialistische oder kommunistische Orientierung in der ArbeiterInnenbewegung verbreitet war, war die IndustriearbeiterInnenklasse vielfach minoritär – und umgekehrt war sie keineswegs besonders sozialistisch, als sie in ihrer Hochphase in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg einen erheblichen Teil der lohnabhängigen Erwerbstätigen ausmachte (vgl. Therborn 2000, 83). Die ArbeiterInnenklasse war historisch immer sehr heterogen nach Geschlecht, beruflicher Qualifikation, regionaler Herkunft, Betriebsgröße, Organisationsformen oder Kampferfahrung. Ihre Formierung zu einem ökonomisch handlungsfähigen Akteur als Gewerkschaft und einem politischen Akteur als Partei war das Ergebnis komplexer Prozesse, die oftmals viele Jahre in Anspruch nahmen, aber keineswegs erfolgreich verlaufen mussten, denn die Widerstände des bürgerlichen Lagers waren und sind bis auf den heutigen Tag beachtlich (Behinderung, Abwertung, Verbot, Verfolgung von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien). Die sozialistischen Ideale oder Theorien erwuchsen vielfach aus diesen Prozessen der Herausbildung der Klasse – und die sozialistischen Intellektuellen trugen mit ihren Theorien wiederum zu diesen Formierungsprozessen der Klasse bei. Die Theorien waren also organisierende und mobilisierende Sprechakte; sie waren keine von Intellektuellen erfundenen Ideale, die von außen, willkürlich und auf der Suche nach einem Akteur, der sie verwirklichen könnte, an die Arbeiterbewegung herangetragen wurden. Die Selbstbezüglichkeit ist demnach nicht zu vermeiden. Vor allem ist sie auch überhaupt kein Problem, wenn sie sich herstellt, wenn also die Theorien und Ideale organisch werden und die Theorien das sagen, was die Menschen beschäftigt, wenn sie zur Aktivität übergehen.
Vielmehr handelt es sich um einen politischen und kulturellen Erfolg, der zwischen den Theorien und Organisationsaktivitäten der sozialistischen Intellektuellen und den Lohnabhängigen ein organisches Verhältnis herstellt und einen umfassenden Akteur mit einem bewussten Willen und Projekt konstituiert. Doch als berufsmäßige Intellektuelle sind diejenigen, die sozialistische Theorien oder Ideen entwickeln, vom Alltag der Lohnabhängigen zumeist getrennt – oder genauer: sie werden getrennt, denn sie werden in ihrer intellektuellen und organisierenden Praxis behindert, da sie ihre Tätigkeiten in eigenen Apparaten wie Parlament, Partei, Universität oder Tageszeitung ausüben. Damit werden sie durch einen eigenen zeitlichen Rhythmus, Ressourcen, spezifische Relevanzkriterien, Entscheidungsprozesse und Hierarchien, Wissen und Definitionsmacht bestimmt. Es entstehen dabei Auseinandersetzungen, die in der kapitalistischen Gesellschaft bis auf den heutigen Tag geführt werden: Welche Lehrmeinungen werden an den Hochschulen gelehrt? Welche politischen Positionen in den Talkshows vertreten? Welche Ereignisse und Erfahrungen in der Öffentlichkeit repräsentiert und nach welchen Kriterien diskutiert? In allen Fällen handelt es sich um Kräftekonstellationen, auf die Honneth nicht zu sprechen kommt.
Gleichwohl lässt sich ein wichtiger Aspekt von Honneths Überlegung festhalten, der jedoch bei vielen anderen AutorInnen ebenfalls zu finden ist: Die Veränderungen zum einen der ArbeiterInnenklasse, die sich globalisiert hat, die äußerst heterogen ist und in der sich einzelne Sektoren von Hochqualifizierten und akademisch Ausgebildeten finden; zum zweiten die Veränderungen der Intellektuellen, die in inter- und transnationalen, globalen akademischen oder Bewegungszusammenhängen bzw. Öffentlichkeiten auf der Basis neuer Technologien und im Kontext neuer Wissenspraktiken agieren, stellen an die Praxis der Formierung organischer und handlungsfähiger sozialistischer Akteure ganz neue Anforderungen. Anders als Honneth bin ich jedoch der Ansicht, daß auf den Begriff der Klasse für das Projekt des Sozialismus nicht verzichtet werden kann. Dieser Begriff der Klasse ist wie der der Freiheit neu zu durchdenken; er sollte nicht auf eine kleine soziale Gruppe reduziert, sondern als Universalie artikuliert werden. Erst auf diese Weise kommen die Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit – also auch der Haus- und Subsistenzarbeit – und des Produktionsapparats oder die Reorganisation der transnationalen Arbeitsteilung in den Blick; erst so ist es möglich, die zwanghaften gesellschaftlichen Formen der Aneignung der Natur und der gesellschaftlich bedingten Störungen des Stoffwechsels mit der Natur zu berücksichtigen oder den Sexismus und den Rassismus als Universalien von moderner bürgerlicher Herrschaft zur Geltung zu bringen. In diesem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, der sich seit dem 17. Jahrhundert herausgebildet hat und sich erweitert reproduziert und vielfältige Formen der Barbarei erzeugt, können sich diese Herrschaftspraktiken reproduzieren. Von den vielen Emanzipationspraktiken her ist der Kreislauf zu unterbrechen, aber nur wenn er die Akkumulationsdynamik kapitalistischer Reichtumserzeugung unterbricht, werden alle die Emanzipationsbestrebungen endgültig erfolgreich sein und die ständige Erneuerung von Sexismus, Rassismus oder ökologischen Krisen verhindern.
3) Als dritte Erblast bezeichnet Honneth die geschichtsmetaphysische Erwartung, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf gesetzmäßige Weise und vermittelt durch wissenschaftliche Aufklärung und technische Fortschritte in eine solidarische Wirtschaft übergehen würden. Unter neuen, sozialistischen Produktionsverhältnissen, so die Erwartung, würden sich dann die zuvor bestehenden Widersprüche auflösen (77). Damit wurde der Gedanke der Freiheit aber faktisch aufgegeben, denn die Vision einer Kooperationsgemeinschaft freier Produzenten ist ja deterministisch bereits in der inneren Fortschrittsdynamik der Geschichte angelegt. Es stellt sich aber auf diese Weise nicht nur die Frage nach dem freien Handeln der Individuen nicht mehr. Entscheidender noch, so Honneth kritisch, verhindert der Glaube an den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte eine Haltung der offenen, experimentellen Erkundung brachliegender Chancen und Spielräume. Die geschichtliche Entwicklung werde nicht als eine immer wieder neue Summe von Herausforderungen wahrgenommen, „deren Geeignetheit für soziale Verbesserungen jeweils erst durch experimentelle Erprobungen zu erkunden wäre“ (78), sondern in ein Schema der fixen Abfolge von Stadien gepresst. Auf den Markt müsse dann die zentrale Planwirtschaft folgen, anstatt die Möglichkeiten sozialer Freiheit in der Wirtschaftssphäre experimentell zu erkunden.
Es ist Honneth darin zuzustimmen, dass in der sozialistischen Tradition ein Wille zum Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Prozesse vorhanden ist. Honneth wird wohl kaum dagegen sein, denn das ist ja rational und dient der wissenschaftlichen Selbstaufklärung der Gesellschaft. Geschichte wird von den sozialistischen Theoretikern nicht als Ansammlung von Ereignissen verstanden. Ebenso wenig wird Geschichte als die empirische Erscheinungsform eines zugrundeliegenden evolutionären Prozesses gesehen, wie das in der sozialphilosophischen Tradition der Fall ist, aus der Honneth kommt. Sein akademischer Lehrer, Jürgen Habermas, verfolgt die Idee, dass die in menschliche Sprache eingelassene Logik des kommunikativ koordinierten Handelns nicht nur die Evolution menschlicher Gesellschaften bestimmt, sondern sich mit der Moderne endlich evolutionär Bahn bricht und die Gestalt der modernen Demokratie und Öffentlichkeit annimmt. Die konkrete Geschichte besteht aus dem Konflikt zwischen der Moderne und den möglichen Regressionen und Pathologien. Das Experiment besteht in diesem Zusammenhang lediglich darin, das evolutionär Mögliche voran zu bringen oder sich ihm entgegen zu stellen, hat also eigentlich keinen besonders bedeutsamen Status. Auch Honneth argumentiert derart, wenn er schreibt, daß der theoretische Rahmen des Sozialismus die normative Produktivkraft der Idee der sozialen Freiheit daran gehindert habe, das „ihr innewohnende Potential tatsächlich zu entfalten“ (85), ihre über die Zeit hinausweisenden Motive vollends fruchtbar zu machen oder der Gesellschaft bereits innewohnende Kräfte oder Potentiale zu entbinden (87). So betrachtet geht es bei Honneth gar nicht wirklich um einen offenen Experimentalismus, sondern nur um die Entfaltung von etwas, was im Prinzip und im Keim immer schon vorhanden ist. Geschichte findet eigentlich nicht statt. Alles ist gewissermaßen schon vorbereitet und muß nur noch vollzogen werden; gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit, in Freiheit zu handeln, da die möglichen Handlungen schon vorher bestimmt sind. Sowohl die Individuen als auch die Geschichte folgen entelechetisch dem in ihnen liegenden Telos: als Selbstverwirklichung und als Entgrenzung der Kommunikation.
Geschichtsdeterminismus
Anders gesagt: Honneth vertritt eine bestimmte, geschichtsphilosophische Annahme, der zufolge die Geschichte determiniert ist, nämlich von den Normen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und er hegt die Erwartung, dass die Geschichte das Potenzial dieser Normen weiter zur Entfaltung bringt. Diese Auffassung von Geschichte ist ein Problem. Die unterstellte Teleologie widerspricht nicht nur dem Gedanken des Experiments, das ja fallibilistisch organisiert sein muss, sondern es gibt sie nicht. Die ökonomische und politische Dynamik kann dazu beitragen, gerade die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit und Gleichheit zu untergraben – wie das historisch der Faschismus gemacht hat und wie das heute der Neoliberalismus macht (vgl. Brown 2015, 16, 131). Dies legt zweierlei nahe: Jene Normen müssen jeweils von neuem durchgesetzt werden, und sie werden dabei auch jeweils neu definiert. Vor allem aber stellen sich die Fragen, a) ob es wünschenswert ist, jene Normen zu verwirklichen und ob dies zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen führen würde als die, die wir haben; b) ob es angesichts der Aushöhlung und Infragestellung jener Normen richtig ist, die Idee des Sozialismus auf sie zu gründen, oder es nicht besser wäre, andere, neue Wege zu gehen. Ist es nicht gerade so, dass jene bürgerlichen Normen sich den emanzipatorischen Bewegungen immer wieder aufzwingen und dazu drängen, an die Französische Revolution anzuschließen, die von Marx zu Recht so scharf kritisiert worden ist. Marx hatte deswegen Zweifel an diesen Normen und suchte in den Kämpfen gegen die Praktiken der Knechtung, der Entwürdigung, der Unterwerfung andere Triebkräfte. Viele an ihn anschließende Bemühungen galten deswegen einem positiven Begriff von Freiheit, der Freiheit Wozu, einem Begriff der angstfreien Differenz und der freien, kooperierenden Individuen, einem Leben nach dem Prinzip: allen nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen.
Honneths Einwand trifft vor allem bestimmte sozialdemokratische und stalinistische Traditionslinien. Diese haben einen naturgesetzlichen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung unterstellt – und noch heute findet sich diese Art von vermeintlichem Realitätsprinzip in ökonomischen Analysen sozialdemokratischer Autoren. Demgegenüber werden gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten in der heterodoxen Tradition von Marx über Gramsci bis zur älteren Kritischen Theorie als Tendenzen verstanden, weil sie immer auch von gegenläufigen Prozessen überdeterminiert sind. Seit Marx gilt die Warnung vor dem bürgerlichen Missverständnis, das in der Ökonomie oder der Soziologie gepflegt wird, gesellschaftliche Gesetze ähnlich Naturgesetzen aufzufassen, die Gesellschaften als solche bestimmen. Vielmehr wird der Geltungsbereich der Gesetze historisch begrenzt auf die Regelmäßigkeiten und widersprüchlichen Bewegungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Gesellschaft und ihre Geschichte, davon war Marx überzeugt, wird von Menschen in aller Freiheit gemacht, aber nicht unter selbst gewählten Verhältnissen: Immer noch stehen die Menschen im Bann der Vorgeschichte, werden die Zwänge der Knappheit, die Gesetzmäßigkeit des Marktes, die Anthropologie des eigennützigen Menschen beschworen. Marx hatte vor der Geschichtsphilosophie gewarnt, vor der Suche nach einem Schlüssel für das Verständnis der Geschichte. Wenn er betont, daß die Klassenkämpfe – also die Konflikte um die Erzeugung und Aneignung des Mehrprodukts sowie damit verbunden die Unterwerfung der Frauen unter die Männer und die Trennung der Hand- von der Kopfarbeit –, den bisherigen Geschichtsverlauf bestimmt haben, dann rückt er die Kontingenz in den Mittelpunkt seiner Überlegung. Die Geschichte verläuft ohne Ziel, wenn die Menschen ihr keines geben. Doch so kontingent die Klassenkämpfe verlaufen, so lässt sich in ihnen eine Logik des Handelns, lassen sich Regelmäßigkeiten, bestimmte Verlaufsformen feststellen, die Kämpfe haben Ziele und werden in bestimmten Formen ausgetragen. Insofern sagt die Unterscheidung in Perioden etwas darüber aus, welche Menschen auf welche Weise und um welche Ziele miteinander kämpfen. Der Sozialismus lässt sich nicht unabhängig von solchen konkreten Auseinandersetzungen bestimmen.
Das markiert noch einmal die methodische Differenz von Honneth. Dieser betont zwar methodologisch, dass er den Sozialismus nicht von einer immanenten historischen Tendenz abhängig machen will, doch de facto tut er es. Genau genommen ist nicht klar, worin freies Handeln eigentlich besteht, denn es kann ja allenfalls zur Entfaltung bringen, was immer schon festgelegt ist – oder es eben unterlassen. Es handelt sich also nicht um eine historische Tendenz, die sich in den sozialen Kämpfen erst durchsetzt, sondern um eine Entwicklungslinie, die sich außer- und oberhalb der Kämpfe befindet. Honneth nimmt eine Art olympische Perspektive ein, die zum Gedanken des offenen, experimentellen Prozesses im Widerspruch steht. Der Unterschied dieser entelechischen Auffassung von Geschichte zu einem naturgesetzlich determinierten Verlauf erscheint mir minimal.
Honneths Ziel ist die Verwirklichung der Normen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Wenn er also für den offen suchenden, durch keine Geschichtsmetaphysik verstellten Experimentalismus argumentiert und sich dabei auf Dewey bezieht, so hat er doch eine sehr klare Vorstellung davon, dass die gesellschaftliche Entwicklung als eine Fortschrittsentwicklung stattfinden soll. Nicht jedes Experiment ist willkommen (96). Vielmehr sind es nur solche, die die Barrieren beseitigen, die die „ungezwungene Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder zum Zwecke der intelligenten Problemlösung“ blockieren und begrenzen (97). Zwanglos an der bedeutungsvermittelten Kommunikation teilnehmen zu können, sei ein Grundzug des Sozialen und innerhalb der Gesellschaft eine Kraft, die eine geschichtliche Tendenz hervorbringt. Denn jede von der gesellschaftlichen Kommunikation ausgeschlossene Gruppe wird mit der Zeit gegen ihren Ausschluss aus der übergreifenden Interaktion aufbegehren, „was innerhalb der menschlichen Geschichte dafür Sorge trägt, dass die allem Sozialen zugrundeliegende Struktur unbegrenzter Kommunikation innerhalb der gesellschaftlichen Lebenswelt dann auch Schritt für Schritt zur Wirklichkeit wird“ (99). Es handelt sich um ein zentrales Motiv der Sozialphilosophie von Jürgen Habermas: ein Evolutionsprozess, der angetrieben wird von der normativen Kraft alltäglicher Sprechakte und immer wieder Individuen und soziale Gruppen, die auf Kommunikationsbarrieren stoßen, veranlasst, diese wegzuräumen, indem eingelebte Gewohnheiten und Legitimationen in Frage gestellt und dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments ausgesetzt werden. In einem immer aufgeschobenen diskursiven Prozess, der niemals an ein Ende gelangen wird, setzt sich zunehmend eine Lebensform durch, die durch freie Kommunikation selbst bestimmt ist. Welche Bedeutungen können dann aber Experimente überhaupt noch haben? Eigentlich keine mehr. Denn sie dienen lediglich der immer neuen Entgrenzung der Kommunikation und helfen, brachliegende Potentiale wahrzunehmen und „bessere“, „stabilere“ Lösungen zu finden (99), die die von Problemen Betroffenen suchen.
Es handelt sich um einen Prozess der Emanzipation, in dem die aufeinander bezogenen Subjekte sich von ihnen auferlegten Abhängigkeiten und bloß äußerlichen Bestimmungen befreien und die Barrieren überwinden, die „einer zwanglosen Kommunikation der Mitglieder untereinander zum Zwecke einer möglichst vernünftigen Erkundung und Festlegung der Regeln ihres Zusammenlebens entgegenstehen“ (100). Geht es wirklich um bessere und stabilere Lösungen? Ist die Freiheit der Kommunikation dadurch gerechtfertigt, daß sie in pragmatischer Hinsicht zu besseren Lösungen führt? Doch was ist besser und stabiler, und wie wird darüber entschieden? Stellt das nicht einen Bias dar, wenn es überhaupt nur um Problemlösung geht – besteht Freiheit nicht darin, frei auch von Problemen und funktionalen Notwendigkeiten zu sein? Unterstellt Honneth, dass die kommunikative Freiheit und die soziale Freiheit identisch sind oder, wenn das nicht der Fall ist, doch in dieselbe Richtung wirken? Aber es dürfte auch Konflikte und Unvereinbarkeiten geben. Manchmal kann eine Kommunikationsbarriere die fürsorgliche Beziehung der Solidarität schützen, die soziale Freiheit verlangt deswegen nach Erhalt der Kommunikationsbarriere; und umgekehrt wird eine Kommunikationsbarriere niedergerissen und damit zugleich eine Solidaritätsbeziehungen verletzt. Dies kann, muss aber nicht mit Absicht erfolgen. Wie ist also das Verhältnis dieser verschiedenen Freiheitsdimensionen von Freiheit als Selbstverwirklichung und Freiheit der Kommunikation?
Die zwanglose Kommunikation zur vernünftigen Erkundung und Festlegung der Regeln des Zusammenlebens sei das geschichtliche Fundament und die Richtschnur eines sich experimentell verstehenden Sozialismus (101). Der historische Sozialismus wird von Honneth als ein Moment in diesem evolutionären Prozess des Kampfes um Anerkennung verstanden, der dazu beitrug, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zur Geltung zu bringen und ihnen entgegenstehende Kommunikationsbarrieren in der ökonomischen Sphäre einzureißen. Der Fehler des Sozialismus sei es jedoch gewesen, sich an jenen historischen Augenblick zu binden. Wolle er sich als reflexive Instanz verstehen, die in der modernen Gesellschaft „diejenige Kraft der sozialen Kommunikation zu Bewusstsein bringt, die die Menschheitsgeschichte durchzieht“, dann dürfe er dabei nicht stehen bleiben. Für immer wieder neu zusammengesetzte Gruppen würden sich stets wieder neue Barrieren auftun, so dass die jeweils Betroffenen sich erneut darum bemühten, Barrieren einzureißen. Mit diesen sich wandelnden Auseinandersetzungen hätte der Sozialismus „gleichsam mitwandern“ müssen, um sich den Betroffenen jeweils als Anwalt anzubieten (105).
Vier Probleme
Mit diesem Argument verändert Honneth sehr bewusst das Verständnis von Sozialismus. Sozialismus wird von ihm nun doch auch als „reflexive Instanz“ verstanden, allerdings reflektiert er auf etwas anderes als eine besondere soziale Gruppe. Denn Sozialismus wird nun als ein evolutionärer Prozeß verstanden, der intern mit den Bestrebungen verbunden ist, freie Kommunikation zu ermöglichen. Er ist demnach nicht mit einer besonderen sozialen Bewegung verbunden, die in einem historischen Augenblick diese Grundidee verkörpert. Im Gegenteil hält es Honneth sogar für falsch, nach Gruppen zu suchen, die in besonderer Weise für Sozialismus einstehen. Dies würde dem Flüchtigen und Kontingenten viel zu starkes Gewicht verleihen. Ein solches privilegiertes Repräsentationsverhältnis zu einer besonderen Gruppe und einer besonderen Unfreiheitserfahrung widerspräche geradezu dem grundsätzlichen Ziel, für jedes noch gar nicht artikulierte Interesse einzutreten. Honneth vertritt die Ansicht, dass als Adressaten des in experimenteller Haltung gewonnenen sozialistischen Wissens „alle Bürgerinnen und Bürger begriffen werden, insoweit sie davon zu überzeugen sind, dass sie ihre individuelle Freiheit in wesentlichen Bereichen ihres Lebens nur im solidarischen Zusammenwirken mit allen anderen verwirklichen können“ (118). Worauf es ankäme seien nicht soziale Bewegungen und aufbegehrende Subjektivitäten, sondern objektiv gewordene Verbesserungen, institutionelle Reformen und Errungenschaften, veränderte Rechtssetzungen und mentale Veränderungen. Vier Probleme möchte ich ansprechen:
1) Es wird nicht deutlich, in welchem Verhältnis die Normen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität und freier Kommunikation stehen. Warum ist es überhaupt erforderlich, sich auf jene Normen zu berufen, wenn doch historisch oder evolutionstheoretisch die Beseitigung von Kommunikationsbarrieren schon als Triebkraft wirkt? Handelt es sich bei jenen Normen um die konkrete historische Gestalt jener Dynamik? In welchen Formen brach sie sich in früheren Perioden Bahn, warum nahm sie die Gestalt jener drei Normen an? War also die Geschichte immer schon von einer sozialistischen Tendenz durchzogen? Warum gelangt sie erst in der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zur Geltung? Warum wird das Ziel freier Kommunikation überhaupt mit dem Namen ‚Sozialismus‘ verbunden?
2) Befremdlich ist, dass Honneth, um den traditionellen Sozialismus und seine Bindung an die Arbeiterbewegung zurückzuweisen, überhaupt die Verbindung zu sozialen Bewegungen so skeptisch beurteilt und sie als bloß flüchtig und kontingent abwertet. Gerade ein experimentelles Verständnis geschichtlicher Emanzipationsprozesse müsste solche Akteure in Suchprozessen begreifen. Durch diese hindurch, also die kontingenten Formen des Widerstands, Protests, des Aufbegehrens und Forderns, kommt es überhaupt erst zu jenen Prozessen der Beseitigung von Kommunikationsbarrieren, die Honneth so wichtig sind. Es spricht ja viel dafür, dass sich allein in der Kontingenz solcher Kämpfe Mentalitäten verändern und Institutionen reformiert werden – nicht zuletzt, weil die Gegenseite sich bemüht, Revolution in Evolution zu transformieren und damit ihre Interessensphäre zu behaupten. Honneths geringschätzige Betrachtung von sozialen Bewegungen tendiert also zu einem rechten Hegelianismus, der die Freiheit in den Institutionen und ihren Veränderungen verkörpert sieht und die Bewegungen allenfalls als ein Mittel zum Zweck institutionellen Fortschritts begreift, der aber in der Geschichte immer schon angelegt ist.
3) Es ist durchaus ein Widerspruch in Honneths Argumentation, wenn die Idee des Sozialismus einmal als Beseitigung von Kommunikationsbarrieren verstanden wird, dann aber der Fortschritt der Freiheit sich – ganz hegelianisch – an Rechtssetzungen und institutionellen Reformen bemisst. Prinzipiell stellt sich die Frage, ob freie Kommunikation und das Füreinander in reziproken Verhältnissen überhaupt von staatlichem Recht kodiert werden kann. Denn das Recht kann nur negativ Freiheiten schützen, muss also mit Verboten und Sanktionen operieren, während ein positives Freiheitsverständnis auf das Wozu des Handelns zielt.
Wenn Recht gesetzt wird, werden immer auch neue Begrenzungen eingezogen. Hinsichtlich dieser Doppelbewegung von Beseitigung und Setzung von Kommunikationsbarrieren bleibt Honneth auf der Ebene, die er vermutlich als normative bezeichnen würde, unklar. So zielt der Kapitalismus im Allgemeinen, seine neoliberale Form im Besonderen auf die Beseitigung von Kommunikations- und Reziprozitätsbarrieren, die durch staatliche Institutionen, Gesetze, Standards, durch Gewerkschaften gezogen werden. Verkörpert also der Neoliberalismus Honneths Ideal sozialer Freiheit – zumindest in der Dimension des Marktes? Und wie ist die Handlungsweise derer zu begreifen, die an bisherigen rechtlichen Regelungen und Rigiditäten, also Unfreiheiten festhalten wollen?
4) Honneths Appell an den Sozialismus, zeitgemäß mit den Forderungen nach Beseitigung von Kommunikationsbarrieren mitzuwandern, ist ambivalent. Der Sache nach berechtigt, hat er aber auch die Implikation eines gewissen Opportunismus: nämlich mit jeweils neuen Freiheitsforderungen mitzuwandern. Aber was ist mit den früheren Problemen, die noch gar nicht gelöst wurden? Tatsächlich gilt seit Marx, dass der Sozialismus bzw. Kommunismus weder abstrakte Norm noch geschichtsphilosophische Utopie ist, sondern eine Lösung für konkrete gesellschaftliche Probleme sein soll: eine andere Lebensweise, in der sich bestimmte Probleme gar nicht mehr stellen und deswegen bestimmte Lösungen nicht mehr erforderlich sind. Die Frage ist, ob jene Probleme für die Menschen heute noch fortbestehen, um welche es sich handelt, und ob der Sozialismus aufgrund historischer Erfahrungen in den vergangenen 200 Jahren von ihnen noch als geeignete Antwort verstanden wird, um jene Probleme zu überholen. Marx zufolge stellt der Sozialismus alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage, unter denen Menschen mit den verschiedensten Praktiken übermächtigt und geknechtet werden. Eines dieser Probleme, das trotz mancher sozialstaatlicher Regelungen bis auf den heutigen Tag nicht gelöst ist, ist die lohnabhängige Arbeit. Diese Art von Knechtung und Entwürdigung stellt für viele Menschen das Zentrum ihres alltäglichen Lebens dar, weil sie keine andere Möglichkeit der Subsistenz haben. Der Sozialismus hält also nicht, wie Honneth nahelegt, anwaltliche Distanz zu allen möglichen Klienten, die diese oder jene Kommunikationsbarriere beseitigen wollen, sondern ist mit einem oder mehreren spezifischen historischen Problemen verbunden, die fortexistieren und nicht allein durch Kommunikationsbarrieren aufrechterhalten werden. Selbstverständlich kann es sinnvoll sein, sich an freiheitsliebende Bürgerinnen und Bürger zu wenden. Doch leider haben nicht alle von ihnen das gleiche Interesse daran, diese besondere Kommunikations- und Freiheitsbarriere zu beseitigen – viele auch deswegen, weil sie davon Vorteile haben.
Es bedürfte also einer genaueren soziologischen Bestimmung derjenigen, die die soziale Freiheit lieben, denn sie tun dies ja offensichtlich nicht aufgrund ihres Status als BürgerInnen, sondern aufgrund anderer Determinanten. Das ist auch deswegen empirisch klärungsbedürftig, weil bedauerlicherweise viele derjenigen, die unter materiellen Bedingungen der Unfreiheit leben, offensichtlich nicht für die Beseitigung solcher Barrieren eintreten. Für den Sozialismus stellt dies eine besondere Herausforderung dar, die aber von Honneth nicht erörtert wird. Der Sozialismus nimmt in Anspruch, für universelle, menschliche Emanzipation einzutreten. Honneth deutet dies an, wenn er den Sozialismus mit der omnihistorischen Freiheitsdynamik der Kommunikation verbindet. Gleichzeitig aber ist die Menschheit bislang kein handlungsfähiges Subjekt. Allgemeine Emanzipation wird deswegen bislang nur durch partikulare Gruppen symbolisiert. Das ist ein politischer Akt: Marx hat ihn mit der Klasse des Proletariats verbunden, die dafür kämpft, sich selbst als die letzte beherrschte Klasse zu befreien und damit der allgemeinen, menschlichen Emanzipation den Weg bereitet. Honneth argumentiert insofern unpolitisch, als ihm entgeht, dass er selbst einen solchen politischen Akt vornimmt, wenn er sich nicht auf die Mitglieder einer bestimmten Gruppe, sondern auf freiheitsliebende Bürger und Bürgerinnen bezieht, die der Idee sozialer Freiheit und freier Kommunikation folgen (118). Dies unterstellt, als würde sich in der partikularen Gestalt des Bürgers und der Bürgerin schon die Menschheit als solche zur Geltung bringen. Doch die Menschheit zu adressieren, bedeutet keineswegs, dieses Problem von Singulärem und Universellem schon gelöst zu haben. Auch sie ist kein Erstes und Letztes, der Mensch konnte über lange Zeiträume ganz partikular verstanden werden.
Die Gliederung der Gesellschaft
Dieser zuletzt angeführte Einwand leitet über zu dem dritten Argument, das Honneth für eine Erneuerung der sozialistischen Idee vorbringt, zum Problem der Gliederung der Gesellschaft selbst – oder anders gesagt zu der Frage, welche gesellschaftliche Ordnung der Sozialismus anstreben sollte. Honneth argumentiert, dass die frühen Sozialisten die Ursache für Unfreiheit allein in den Verhaltenszwängen der kapitalistischen Marktgesellschaft gesehen hätten. Alle Erwartungen und Bemühungen hätten sich deswegen auf deren Überwindung konzentriert. Zur Idee der politischen Demokratie habe der Sozialismus nie einen produktiven Zugang gefunden, die Sphäre der liberalen Grundrechte sei dem Sozialismus von Anfang an verschlossen geblieben (128). Diese Behauptung ist verdreht, denn für den Sozialismus war ja der Ausgangs- und Bezugspunkt die demokratische Republik – und es war eine politische und theoretische Entdeckung von großer Reichweite, daß auf der politischen Ebene der Demokratie eine Lösung der Probleme der Armut und der Arbeitslosigkeit nicht zu finden ist, sondern neben den politischen Rechten auch der gleiche Zugang zu den Subsistenzmitteln gewährleistet sein muß. Von einem „tiefsitzenden Unvermögen“ (127), von einer „erstaunlichen Blindheit“ gegenüber der Demokratie kann nicht die Rede sein, und wenn die Kritik im Buch etliche Male wiederholt wird, so wird sie dadurch nicht wahrer.
Eher sollte man von einer erstaunlichen Naivität sprechen, da in der sozialistischen Tradition vielfach „Demokratie“ als ein Hochwertbegriff galt, über den nicht weiter nachgedacht werden mußte, so daß all die Fallstricke dieser politischen Form übersehen werden konnten. Wie oben schon betont, war die sozialistische Bewegung weit über hundert Jahre mit den Kämpfen um das allgemeine gleiche Wahlrecht und die Einführung der demokratischen Republik verbunden. Viele der Sozialisten mussten wegen ihres Engagements für die parlamentarische Demokratie ins Gefängnis oder ins Exil gehen. Weil sich die Lage der Lohnabhängigen unter den Bedingungen der politischen Demokratie über lange Zeit nicht verbesserten und substanzielle Reformen bis heute immer wieder bedroht sind, wurden in immer neuen Anläufen über die repräsentative Demokratie hinausgehende demokratietheoretische Vorschläge ausgearbeitet: Selbstverwaltung, Basis-, Wirtschafts- oder Rätedemokratie mit unterschiedlichen Eigentumsformen. Hier findet sich ein breites Spektrum experimenteller Vorschläge, für die es angesichts herrschender kapitalistischer Macht selten Gelegenheit gab, sie auszuprobieren.
Doch hier geht es um noch um etwas anderes, nämlich um das gesellschaftstheoretische Problem der Gliederung der Anordnung gesellschaftlicher Bereiche. Denn Honneths Einwand geht ja dahin, dass die Autonomie von unterschiedlichen Lebenspraktiken auf ökonomische Verhältnisse reduziert worden sei. Auch diesem Einwand muss man widersprechen, denn Honneth verkürzt die historische Diskussion unstatthaft. In einer langen Tradition der kritischen Theorie seit Marx wurde ja gerade kritisiert, dass die kapitalistische Akkumulationsdynamik alle sozialen Verhältnisse durchdringt und dem Kapitalverhältnis subsumiert (Luxemburg, Adorno, Harvey). Die sozialistische Tradition hat also die Differenzierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gegen usurpatorische Dynamiken verteidigt. Um die autonomen Sphären zu schützen, ging es im Wesentlichen darum, die ökonomischen „Naturgesetze“ selbst der Kontrolle durch alle Gesellschaftsmitglieder zu unterwerfen. Aus diesem Blickwinkel wurde die politische Demokratie geprüft, und in der sozialistischen Theorie (und nicht nur in ihr) bestand verbreitet die Ansicht, dass sie an die entscheidenden Mechanismen des Kapitalverhältnisses nicht heranreichen würde: Investitionsentscheidungen, Produkte und Herstellungsverfahren, Konkurrenzzwänge, Verfügungsmacht über die Produktionsmittel und die Lohnarbeitenden, Innovationen, Zinserwartungen und Verfügungsrecht über Gewinne. Ihre Freiheiten werden den KapitaleigentümerInnen durch die Verfassungen der politischen Demokratie garantiert, Gesetze schränken sie dann in vielen Einzelaspekten ein und machen Auflagen, ohne diese Freiheiten in der Substanz zu bedrohen. Dies rächt sich dann immer wieder mit der Aushöhlung des Rechtsstaats und der politischen Demokratie durch antidemokratische, rechte Tendenzen, die im Namen des Volkswillens und der Kritik ‚an denen da oben‘, an der ‚Schickeria‘, an der ‚politischen Klasse‘ für die plebiszitäre Diktatur eintreten – Tendenzen, die zur parlamentarischen Demokratie gehören, die Honneth aber gar nicht erwähnt.
Diese angesprochene gesellschaftstheoretische Tradition der Verteidigung der Gesellschaft gegenüber dem kolonisierenden Zugriff des kapitalistischen Wertgesetzes hat allerdings tatsächlich eine zentrale Schwäche. Sie thematisiert die gegebene Gliederung der Gesellschaft als solche nicht. Doch bilden sich solche autonomen Bereiche wie Recht, Politik, Kunst, Wissenschaft, Liebe und Ehe und ihre spezifische Autonomie selbst erst als Momente der kapitalistischen Produktionsweise heraus. Honneth begeht denselben Fehler wie viele andere Theoretiker, indem er Kapitalismus als Marktwirtschaft versteht, nicht jedoch als ein komplex gegliedertes Ganzes, in dem die Produktionsverhältnisse einen besonderen Stellenwert im Verhältnis zu Staat, Familie oder Kunst haben. Sie alle bilden in ihrer Artikulation die kapitalistische Produktionsweise.
Den in der sozialistischen Tradition aus seiner Sicht begangenen Fehler möchte Honneth „nachträglich korrigieren“ (122). Er argumentiert für einen Begriff sozialer Freiheit, der entsprechend der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft ebenfalls differenziert werden muss. Er meint also, dass die sozialistische Tradition die funktionale Differenzierung vielleicht zwar beobachtet, nicht jedoch normativ ernst genommen habe (126, 137). Doch sei es notwendig, „mit Blick auf die Zukunft die Wünschbarkeit einer solchen funktionalen Eigensinnigkeit verschiedener Sphären“ zu unterstreichen (126). Honneth schließt sich dabei Hegel und dessen Differenzierungskonzept an und unterscheidet – wie auch in anderen seiner Texte – die drei Sphären von Marktwirtschaft, Staat und Recht sowie Liebe, Ehe und Familie. Für alle drei Sphären sei eine spezifische Semantik sozialer Freiheit zu entwickeln (132): also eine jeweils gemeinsame Ermöglichung der Selbstverwirklichung der beteiligten Individuen (ebd.). Für die Sphäre der demokratischen Willensbildung heißt dies, dass die Teilnehmer ihre je „individuellen Meinungsäußerungen als sich ergänzende Beiträge zum gemeinsamen Projekt einer allgemeinen Willensfindung auffassen“ (139). Für den Bereich von Ehe und Familie akzentuiert Honneth die Emanzipation der Frau. Das entbehrt nicht des Paternalismus. Dem Sozialismus wirft er vor, sich vor allem um Gleichstellung beim Wahlrecht und auf dem Arbeitsmarkt bemüht zu haben, was ja, wie er selbst dann einräumt, angesichts von ökonomischer Abhängigkeit und politischer Benachteiligung nicht so verkehrt war (135). Doch hätte vor allem auf einen grundlegenden kulturellen Wandel gezielt werden sollen, der an den etablierten Sozialisationsbedingungen der Frauen hätte ansetzen müssen, damit sie „durch Befreiung von aufgenötigten Geschlechtsstereotypen zu einer eigenen Stimme überhaupt erst“ haben finden und zu „gleichberechtigten Partnerinnen in den auf Wechselseitigkeit hin angelegten Beziehungen werden“ können, in denen sich beide Seiten (also Mann und Frau!) zwanglos und reziprok einander zuwenden und mit emotionaler Unterstützung des jeweils anderen die Bedürfnisse und Wünsche artikulieren, „die sie als wirklichen Ausdruck ihres Selbstseins begreifen können“ (135). Aber es ist ja nicht so, dass Frauen darauf gewartet hätten. Seit Mary Wollstonecraft oder Olympe de Gouges haben mit und ohne Sozialismus zahllose Frauen in den verschiedenen Phasen der Frauenbewegung ihre Stimme erhoben – die allerdings vielfach und bis auf den heutigen Tag damit zu kämpfen haben, dass sie von den Männern nicht gehört werden, die mit Ressentiment auf die als Zumutung empfundene politische Korrektheit reagieren, Frauen oder Menschen anderer sexueller Orientierung gegenüber nicht geringschätzig oder gewalttätig zu sein. Es wäre also hinsichtlich der Emanzipation auch an die der Männer zu denken. Und zwar auch derart, dass die heterosexuelle Paarsymbiose, für die Honneth offenkundig eintritt, selbst einmal in Frage gestellt wird. Die Freiheitssemantik der Liebes- und Geschlechterverhältnisse wäre selbst kritisch zu überprüfen, weil sie – um mit Honneth zu sprechen – eine Kommunikationsbarriere darstellt.
Ein organizistisches Modell
Es ist erstaunlich, dass Honneth sich auf das frühbürgerliche Modell der funktionalen Differenzierung beschränkt, also auf drei Funktionsbereiche, während ja die soziologische Diskussion neben Wirtschaft, Politik und Familie weitere Funktionssysteme wie Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung, Sport oder Medien unterscheidet und zudem darüber streitet, welche Merkmale ein System definieren. Honneth jedenfalls legt nahe, dass für jedes dieser Systeme spezifische Wir-Perspektiven der wechselseitigen Ergänzung und des zwanglosen Ineinandergreifens eingenommen werden und alle Individuen sich wechselseitig darin unterstützen können, sich zu verwirklichen und ihr Selbstsein zu leben. Auch dieser Gedanke ist erstaunlich, denn üblicherweise schließt der Begriff des Systems gerade den Begriff der Freiheit aus: Systeme sichern intern durch selbstselektive Mechanismen Anschlusskommunikationen, aber diese machen sie gerade nicht von der freien Wahl der Individuen abhängig – menschenrechtlich verbürgte Freiheit heißt nicht mehr als die Sicherung der Möglichkeit, dass Individuen die den verschiedenen Systemen gemäßen Rollen wahrnehmen, nicht also an eine einzige Rolle gebunden werden. Der Bezug auf die Systemtheorie ist also auch in dieser Hinsicht von zweifelhaftem Wert. Doch nimmt Honneth sie in Anspruch, um einen Begriff für das Zusammenspiel der Systeme in der Gesellschaft zu entwickeln. Den Gedanken des Füreinander versucht er nämlich auch für die Gesellschaft als Ganze fruchtbar zu machen und damit vermittels der lokalen Freiheit jedes einzelnen Bereichs die Idee der sozialen Freiheit für das Ganze zu bestimmen. In diesem Sinn hält Honneth die funktionale Differenzierung für normativ geboten und betrachtet sie als eine für den Sozialismus spezifische Aufgabe. Um das freie Verhältnis der sozialen Bereiche zueinander zu bestimmen, beruft er sich zunächst auf die Organismus-Metapher bei Hegel. Demnach ergänzen sich die Funktionsbereiche wie die Organe eines Körpers, für den sie gemeinsam jeweils spezifische Leistungen erbringen und damit das übergreifende Ziel der Reproduktion der Gesellschaft erfüllen. Eine wohlgeordnete Gesellschaftsverfassung wäre eine solche, in der die Teilsysteme auf ungestörte Weise in arbeitsteiliger Interdependenz den übergreifenden Zweck der gesellschaftlichen Reproduktion gewährleisten (142f). Auf dem Stand der systemtheoretischen Diskussion seit Luhmanns Buch über „Soziale Systeme“ sind diese Ausführungen von Honneth ganz und gar nicht, denn eine organizistische Vorstellung von der Funktion der Teilsysteme wird hier ausdrücklich zurückgewiesen.
Aber hier stellt sich ja die Frage, ob ein solches organizistisches Modell sozialer Ordnung geeignet ist, der Idee des Sozialismus zu entsprechen. Das muß entschieden mit Nein beantwortet werden. In einem Organismus hat alles seine vorweg definierte arbeitsteilige Funktion; von Freiheit des Einzelnen kann keine Rede sein. Der Begriff der Freiheit wird ja geradezu verdreht, wenn er nun bedeutet: die höchste Freiheit ist als Selbstverwirklichung erreicht, wenn sich alle im Füreinander ihrer Funktionalität anerkennen: der Arbeiter und der Unternehmer, der Immobilienkäufer und der Hedgefondbesitzer.
Wenn also im Zentrum des Sozialismus die freie Entfaltung des Individuums steht, dann wird ein solcher ordnungspolitischer Harmonismus kaum geeignet sein, eine solche Freiheit zu gewährleisten. Denn die Freiheit wird dadurch begrenzt, dass die jeweiligen Bereiche sich in eine arbeitsteilige Interdependenz einfügen müssen, die zur harmonischen Reproduktion des Ganzen beiträgt. Dieses Ganze wird also der Maßstab der Freiheit der Einzelnen. Das entspricht der hegelianischen Tradition, die durchaus – worauf Adorno viele Male verwies – autoritäre Folgen hat, und steht in einem entschiedenen Widerspruch zu dem, was Marx dann als Assoziation freier Individuen vor Augen hatte. Honneth sieht das Moment von Freiheit offensichtlich darin, dass die drei Freiheitssphären „ihren nur je eigenen Normen“ folgen, sie aber im „ungezwungenen Zusammenspiel die beständige Reproduktion der übergeordneten Einheit der Gesamtgesellschaft bewirken“ (144). Die Frage stellt sich, was genau ein solches ungezwungenes Zusammenspiel bedeuten kann, wenn das Ganze ein derartiges Gewicht hat. Oder will Honneth sagen, dass das Ganze das kontingente Ergebnis von Freiheiten ist, die in den Bereichen praktiziert werden ungeachtet der Folgen für das Ganze? Folgt er hier der Überlegung von Jacques Rancière (2002, 36f), der ja bei seinen Überlegungen zur Demokratie ebenfalls – allerdings kritisch – auf die organizistische Metaphorik der Fabel von Menenius Agrippa eingeht, wonach die verschiedenen Bevölkerungsteile und ihre jeweiligen Tätigkeiten jeweils einem Körperbereich entsprechen? Rancière kommt zu der Schlussfolgerung, dass diejenigen, die in der bisherigen Anordnung keinen Anteil haben, einen solchen einfordern. Von einer solchen Forderung her aber wird die bisherige Anordnung, in der diese Gruppe ohne Anteil gar nicht existiert hat, ruiniert, überholt. Es bilden sich neue Institutionen und neue Grenzlinien.
Um seinen Begriff der sozialen Freiheit als ein Füreinander aufrechtzuerhalten, argumentiert Honneth in eine andere Richtung. Die spezifischen Freiheiten – und hier folgt Honneth der liberalen Tradition – werden begrenzt, indem die Grenzlinien zwischen den drei Sphären sozialer Freiheit so kunstvoll gezogen sein sollten, „dass sie sich wie die Organe eines Körpers in zwangloser Wechselseitigkeit bei der Reproduktion der übergeordneten Einheit einer Gesellschaft unterstützen“ (145). Das Bild des Körpers mit seinen Organen, die eine stetige und unveränderte Funktion wahrnehmen, legt nahe, dass die Grenzlinie nur einmal gezogen werden sollte – und zwar so, dass das Ganze gelingt. Es handelt sich dann um „ein organisches Ganzes unabhängiger, aber zweckgerichtet zusammenwirkender Funktionskreise, in denen ihrerseits die Mitglieder jeweils in sozialer Freiheit füreinander tätig sein können“ (146).
Honneth selbst scheint etwas mulmig zumute zu werden, denn er will eigentlich Unvereinbares zusammenzwingen. Unvereinbar – denn wo bleiben in diesem organischen, harmonischen, übergeordneten Ganzen, dem die Freiheit der Einzelnen unterworfen ist, eben diese Zwanglosigkeit, diese Freiheit und die Willensbildung? Wer definiert, was ein gelingender Reproduktionszusammenhang ist? Wie werden die Grenzlinien gezogen? Gibt es die Möglichkeit, die Systemgrenzen selbst als Kommunikationsbarrieren einzureißen? Welche Grenzlinien gibt es überhaupt oder soll es geben? Es scheint zunächst so, als wolle Honneth derart argumentieren, daß die Spannung zwischen der individuellen Freiheit und der Gesellschaft als Ganzer in allen Bereichen der Gesellschaft selbst ausgetragen werden soll. „‚Demokratie‘ heißt hier nicht nur, gleichberechtigt und ungezwungen an den Verfahren der politischen Willensbildung teilnehmen zu können; verstanden als eine ganze Lebensform ist damit vielmehr gemeint, an jeder zentralen Station der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft die Erfahrung einer egalitären Partizipation machen zu können, in der sich jeweils in der funktionalen Besonderheit einer einzigen Sphäre die allgemeine Struktur der demokratischen Teilhabe widerspiegelt.“ (144f.) Die Demokratie kommt also nicht von unten, sondern setzt sich als das Allgemeine und wird in den Funktionsbereichen widergespiegelt. Das ist aber auch nicht im direkten Sinn einer Beteiligung gemeint. Vielmehr soll ja in jedem Bereich eine spezifische Freiheitssemantik zur Geltung kommen. In der Wirtschaft würde die gleiche Beteiligung im Füreinander der marktvermittelten Kooperation bestehen, in der Liebe im Füreinander der wechselseitigen Unterstützung der Selbstverwirklichung. Schließlich die Politik selbst: Honneth argumentiert dafür – und damit ganz gegen die Systemtheorie, die die Möglichkeit von Steuerung in komplexen Gesellschaften bezweifelt –, daß ein Funktionssystem die Steuerungskompetenz hat, nämlich das politische System und insbesondere das institutionelle Organ der Öffentlichkeit, an der alle in zwangloser und ungehinderter Form teilnehmen und sich beraten können sollen. Sie bilde den Ort, „an dem Missstände aus jedem Winkel des gesellschaftlichen Zusammenlebens für alle hörbar artikuliert“, als gemeinsam zu bewältigende Aufgabe verhandelt und schließlich in entsprechende gesetzgeberische Lösungen umgesetzt werden können (151). Es ist zweifelhaft, ob die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ einer sozialistischen Lebensform angemessen ist.
Aus guten Gründen haben die Arbeiter- und die Frauenbewegung darauf bestanden, das Private sowohl des unternehmerischen Eigentums als auch des familiären Raums zu politisieren; und aus guten Gründen hat das Bürgertum auf die Privatheit unternehmerischen und familiären Entscheidens gedrängt. Aber viel wichtiger in gesellschaftstheoretischer und demokratietheoretischer Hinsicht ist Honneths auf Hans Joas zurückgehender Vorschlag, dass diese demokratische Steuerungsinstanz dann auch die Kompetenz haben soll, die funktionale Differenzierung selbst noch einmal der demokratischen Willensbildung zu unterwerfen. Das ist ein für jede Diskussion über Sozialismus wichtiger und weiterführender Vorschlag, der die systemtheoretische Apologie vermeintlich autopoietischer Funktionssysteme zurückweist. Doch Honneth verfolgt ihn nicht konsequent. Denn gerade aus dem Blickwinkel einer solchen Willensbildung dürfen eben die Bereiche und ihre spezifischen Freiheitsbegriffe ebenso wenig wie der politische Bereich und die Öffentlichkeit als gegeben oder gar als Norm betrachtet werden, ja, sie müssen als eine Herrschaftspraxis dechiffriert werden. Systemgrenzen sind Kommunikationsbarrieren und müssen ihrerseits zur Disposition stehen. Deswegen stellt eine Konzentration und Festlegung der gesellschaftsweiten Diskussion auf den politischen Bereich der Öffentlichkeit eine unplausible Begrenzung auf bestimmte Praktiken und Diskursformen dar, zu denen nicht alle Zugang haben. Vielmehr müsste konsequenterweise argumentiert werden, dass aus allen Lebenssphären heraus eine Beteiligung an der Diskussion über die Anordnung der Teile notwendig wird – und umso mehr, wenn es um die freie Entfaltung eines jeden Individuums geht. So betrachtet wird rückblickend auf Honneths gesamte Argumentation einmal mehr deutlich, wie sehr er Denker wie Marx missversteht. Denn dieser hatte schon sehr frühzeitig damit begonnen, sich die Frage danach zu stellen, wo und wie über die Gliederung des gesellschaftlichen Ganzen entschieden werden kann. Seine Antwort war: in der wirklichen Kooperation, also in den vielen Verhältnissen, die Menschen jeden Tag eingehen. Deswegen sollten alle, die kooperieren, auch mitentscheiden können.
Ein neuer Impuls?
Abschließend stellt sich die Frage, ob Honneth mit seinen Überlegungen dazu beiträgt, dem Sozialismus einen neuen Impuls zu geben. Ja, indirekt schon. Er spricht wichtige Themen an: den Begriff der Freiheit, die Auffassung von Geschichte, die Komplexität moderner Gesellschaften, die Akteure und ihre Motive. Wenn zudem ein Philosoph vom Rang Axel Honneths zum Thema des Sozialismus ein Buch vorlegt, bringt er diese Probleme in gesellschaftliche Bereiche ein, in denen es wohl erhebliche Vorbehalte geben dürfte, in der Frage des Sozialismus überhaupt einen theoriefähigen Gegenstand zu erkennen. Insofern machen die Überlegungen von Honneth deutlich, dass der Sozialismus Teil der heutigen Gesellschaft ist und Antworten auf ihre Herausforderungen geben kann. Gleichzeitig sind seine Vorschläge mehr als problematisch: sein methodisches Vorgehen ist philosophisch und idealistisch, dies lässt ihn die historischen Kontroversen und Einsichten verkennen. Die Folge ist, dass etliche seiner Einwände trivial und hinter dem Stand der Diskussion zurück bleiben. Der Freiheitsbegriff bleibt kommunitaristisch verkürzt und steht in einem widersprüchlichen Verhältnis zum affirmativen Bezug auf die Systemtheorie. Die Anleihen bei dieser sind oft unbeholfen.
Es gelingt Honneth nicht, ein experimentalistisches Geschichtsverständnis auszuarbeiten, dieses bleibt metaphysisch und evolutionstheoretisch. Die Übermacht des Ganzen des Systems steht im Widerspruch zur freien Entwicklung der Einzelnen. Die Argumentation verwickelt sich also in eine Reihe von Selbstwidersprüchen. Letztlich wird nicht ersichtlich, was Honneth anderes verwirklichen will als einen idealen Markt, ein ideales Verhältnis von Mann und Frau und eine ideale öffentliche Diskussion – und dies alles in einem harmonischen Ganzen, dem sich die Einzelnen in aller Freiheit einordnen. Damit dient das Buch einer Aktualisierung des Sozialismus schließlich nicht und fördert Missverständnisse. Denn Honneth nimmt eine klassische usurpatorische Redeposition ein – deren symbolische Gewalt er mit dem Begriff der „wohlmeinenden Hermeneutik“ etwas schönredet: im Unterschied zu den konkreten Menschen und ihren Kämpfen kennt er die untergründig wirkenden Prozesse der Geschichte und weiß, dass jene als Vollzugsorgane einer guten Ordnung kämpfen, in der ihre Anerkennung und Selbstverwirklichung gewährleistet ist. Das ist nicht Freiheit. Freiheit impliziert die freie Wahl, die Möglichkeit, neue Verhältnisse zu schaffen. Insofern ist Sozialismus eine konkrete freie Handlung. Nur dadurch, dass Menschen sie praktizieren, wird sie objektiv.
Es stellt sich die Frage, warum Honneth die Absicht verfolgt, die Idee des Sozialismus zu stärken, obwohl viele Gedanken einfach auch als radikaldemokratisch hätten bezeichnet werden können. Das Motiv wird von Honneth benannt. Es soll ein Erwartungshorizont geschaffen werden, der über den Kapitalismus hinausweist. Ich stelle die Vermutung an, dass dieses Buch ein Beitrag zur Erneuerung der Sozialdemokratie sein könnte, die sich in einer tiefen Krise befindet und mit den quasi-naturgesetzlichen Analysen, die ihr nahestehende Intellektuelle wie Colin Crouch oder Wolfgang Streeck vorlegen, keine Handlungsperspektive mehr entwickeln kann. Heinz Bude hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (14. Mai 2016) die Bausteine einer erneuerten Sozialdemokratie kurz umrissen: eine über den Status quo hinausgehende Zukunftserwartung – nicht radikale Kapitalismuskritik, sondern Bewusstsein für eine kollektive Zukunft; Emanzipation des Einzelnen in Verbindung mit der Solidarität füreinander; Systemvertrauen, das durch Systemskepsis wiedergewonnen wird. In Honneths Buch werden diese Elemente ausgearbeitet: das Plädoyer für eine Freiheit in Solidarität, die mit dem Kapitalismus deswegen vereinbar ist, weil sie sich auf der Ebene der Anerkennung bewegt. Eine Erneuerung der Sozialdemokratie, die mit dem neoliberalen Kurs von Politikern wie Clinton, Blair oder Schröder politisch und intellektuell enthauptet wurde, ist dringend geboten. Wenn das Buch von Honneth dazu beitragen könnte, wäre das gesellschaftspolitisch positiv. Die sozialistische Linke wird demgegenüber kritisch zu prüfen haben, was sie sich von seinen Kritiken und Vorschlägen tatsächlich zu eigen macht. Hier bleibt Skepsis geboten.
Brangsch, Lutz / Brie, Michael (Hrsg.) (2016): Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe, Hamburg
Brown, Wendy (2015). Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin
Honneth, Axel (2015): Die Idee des Sozialismus, Berlin
Porcaro, Mimmo (2015): Tendenzen des Sozialismus im 21. Jahrhundert, Hamburg
Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen, Frankfurt am Main
Therborn, Göran (2000): Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt/New York
Hans-Hermann Hirschelmann
Alex Demirović schreibt:
Das bringt ungewollt den zentralen Irrtum einer vornehmlich als Ideologiekritik konzipierten philosophischen Kapitalismuskritik auf den Punkt. Die tatsächlich bestehenden Abhängigkeiten der notwendigerweise lohn- und gehaltsabhängig Tätigen, deren Behauptungsbedingungen, die deren Rechtfertigungsverhältnisse zugrunde liegen, scheinen nicht der Rede wert. Die im Berufsphilosophen natürlich besonders ausgeprägte individualistische Freiheitsillusion wird mir nichts dir nichts auf die Situation der Lohn- und Gehaltsabhängigen übertragen, und es folgen ungeheure (meist vergebliche) Anstrengungen bei Versuchen, sich die “freiwillige Unterwerfung” zu erklären, mit fast immer dem gleichen Ergebnis, nämlich dem – meines Erachtens falschen – Gedanken, dass dies nur ein Produkt der Manipulation, der ausgefeilten Herrschaftstechniken usw. sein kann.
Nein, wenn wir individuelle, gesamtgesellschaftliche und ökologische Vernunft miteinander ins Benehmen bringen wollen, müssen wir uns mit den materiellen Behauptungsbedingungen der Menschen beschäftigen und uns fragen, was diese entschärfen und am Ende überwinden hilft.
Yac
Bezugnehmend auf vorangehenden Kommentar möchte ich anfügen, dass die Lebensbedingungen im Prekariat erbärmlich sind.
Nach 40-80 Stunden verdummender, oftmals sinnloser Arbeit bleibt weder Zeit noch Energie sich zu emanzipieren, trotz vorhandenem Willen.
Der Lohnsklave ist in einem Cocon der Dumpfheit gefangen und eben doch den Herrschaftsinstrumenten ausgesetzt.
Von Linker Seite gibt es hier keinerlei Unterstützung.
Oftmals wäre schon viel gewonnen würde der Betrieb in eine Genossenschaft umgewandelt.
Durch die Übereignung des mitunter exorbitanten Betriebsgewinns vom Unternehmer/Aktionär zum Arbeiter könnten erhebliche Freiräume in Form höherer Löhne oder mehr Freizeit geschaffen werden.
Auch gibt es keinerlei Aussteigerprojekte die das Verlassen der Lohnarbeit im Rahmen gemeinschaftlicher Lebensformen organisieren.
Dieses ist umso unverständlicher, als ein solcher Prozess sich exponentiell entwickeln würde.
Die Linke hat keinerlei Glaubwürdigkeit.