Ist die EU grundsätzlich undemokratisch und nicht mehr zu retten? Nun, ein Brexit wäre auf jeden Fall die falsche Reaktion.
«Unsere Regierung können wir ersetzen – die EU-Regierung in Brüssel nicht», meint der britische Ökonom und Publizist Paul Mason in einem Artikel über «Linke Argumente für einen Brexit» (Linke Argumente für einen Brexit). Oder zumindest ist er freundlicherweise in der WOZ so übersetzt worden. Im englischen Original im «Guardian» hat er nämlich ein bisschen forscher formuliert: «In Britain I can replace the government …» (The lewftwing case for Brexit). Worauf ein Leserbriefschreiber gefragt hat: «Wenn das stimmt, warum hast Du’s dann nicht getan?»
Das ist mehr als ein spöttischer Witz. Denn in Masons Artikel zeigt sich ein illusionärer linker Fundamentalismus. Gekoppelt mit ein bisschen englischem Nationalismus.
Zwar empfiehlt Mason nicht den sofortigen Austritt aus der EU, weil man damit den Rechten in die Hände arbeiten würde. Doch das will er als ein rein taktisches Argument verstanden wissen. Bezüglich der grundsätzlichen – in seinen Worten «strategischen» – Einschätzung ist für ihn klar: Wer wirkliche Demokratie will, muss aus der EU austreten. «Die EU ist keine Demokratie – und kann dies auch nicht werden.»
Ja, die Defizite der EU sind hinlänglich und schmerzhaft bekannt. Aber Masons Generalverdikt vergibt sich alle Eingriffsmöglichkeiten in widersprüchliche Prozesse. Die herrschende Austeritätspolitik der EU sei nicht verhandelbar, sagt er, und staatliche Unterstützung für angeschlagene Industriezweige sei verboten. Ja, es stimmt, der Lissabonner Vertrag generell und die Maastricht-Kriterien zu den Staatsfinanzen im Besonderen atmen rigorosen neoliberalen Geist. Aber letztere sind schon häufiger verletzt und diese Verletzungen sind kaum je sanktioniert worden. Ja, es stimmt, staatliche Beihilfen sind laut Paragraph 107 «mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen». Aber dann folgt eine Reihe von Ausnahmen zugunsten von VerbraucherInnen 615-544-4985 , zugunsten schwach entwickelter Gebiete, gesamteuropäischer Strukturaufgaben, der Kultur und sogar einzelner Wirtschaftsbereiche und Wirtschaftsgebiete … Kurzum, die EU-Realität ist zuweilen ein wenig uneindeutiger, als es Neoliberale und Anti-Neoliberale wahrhaben wollen.
Mason gerät selbst in einen Widerspruch. So räumt er ein, dass Britannien nach den jüngsten Verhandlungen schon jetzt die Möglichkeit besitzt, sich einigen sozialen Verpflichtungen des Lissabonner Vertrags zu entziehen. Aber er ist doch grundsätzlich gegen die hoffnungslos undemokratische EU? Warum jetzt plötzlich doch ein impliziter Rekurs darauf, dass ein paar EU-Dinge vielleicht doch ganz bewahrenswert wären? Mason hat Recht, jüngste Entscheide des Europäischen Gerichtshofs schränken die Rechte von Arbeitnehmenden in bedenklicher Weise ein. Der gleiche Gerichtshof hat freilich insbesondere in Fragen des Umwelt- und KonsumentInnenschutzes auch Entscheide gefällt, die fortschrittlicher als jede britische Gesetzgebung sind.
Zugegeben: Man sollte auch nicht in die Falle geraten, angesichts der Globalisierung den Nationalstaat schon als machtlos aufzugeben und sein Heil nur noch in der EU oder anderen transnationalen Konstruktionen zu suchen. Vielmehr geht es um eine genaue Diskussion dessen, welche Aufgaben auf welchen Ebenen zu bewältigen sind, wie was verhandelbar ist und wo welche Handlungsspielräume bestehen.
Doch die linken und rechten Unterstützer eines Brexit lassen vollkommen offen, was mit und nach einem Austritt geschehen soll. Bei den rechten hat diese Lücke Methode, bei den Linken ist sie eher beunruhigend. So gibt der Ökonom Mason keinerlei Hinweise darauf, wie sich denn die britische Wirtschaft global gesehen ausserhalb der EU verorten soll. Von den absurderen Konstruktionen, die von rechts angeboten werden, etwa die Efta wiederzubeleben, wollen wir mal absehen. Was solls denn sonst sein: innerhalb zweier Jahre achtzig bilaterale Freihandelsabkommen aushandeln? Autonomer Nachvollzug der EU-Regeln? Konzentration auf die Zusammenarbeit mit dem autoritären Staatskapitalismus Chinas? Und wie müsste eine linke britische Regierung dabei vorgehen? Re-Industrialisierung Britanniens gegen den Widerstand des Londoner Finanzplatzes? Mit den USA oder China fortschrittlichere bilaterale Abkommen aushandeln als sie mit TTIP drohen? Da scheint mir der Kampf innerhalb der EU gegen TTIP einiges erfolgversprechender.
Mason hat kürzlich in seinem viel diskutierten Buch «Postkapitalismus» einen eben solchen Postkapitalismus via Vernetzung des Prekariats, Sharing Economy und neuer technologischer Mittel skizziert. In seiner konkreten Stellungnahme zum Brexit kommen ihm alle diese schönen Vorstellungen abhanden.
«Diejenigen von uns, die den Brexit wollen, um die Demokratie wieder einzuführen, um soziale Gerechtigkeit zu fördern und um Firmen der Rechtsstaatlichkeit zu unterstellen …», verkündet er. Na klar, wir alle wollen eine gerechtere Gesellschaft, die viele Fehler der EU korrigiert. Aber wie soll das in einem Brexit-England, dem womöglich das sozial fortschrittlichere Schottland abhanden gekommen ist, besser möglich sein als innerhalb der EU? Mason pfeift da im dunkeln Wald ziemlich verzweifelt vor sich.
Seine Einschätzung ist praktisch illusionär und strategisch eine Bankrotterklärung, eine Preisgabe transnationaler Perspektiven. Nirgends im Text von Mason wird ein Gedanke daran verschwendet, was denn demokratische Bewegungen in anderen europäischen Ländern von einem Brexit halten. Nein, der Blick erfolgt ausschliesslich vom englischen Nabel her. «Der Umschwung nach rechts aussen [in Europa] wirft uns auf das grundlegende Dilemma zurück: Will ich ein Teil der gleichen Wählerschaft sein wie Millionen von verkappten Nazis auf dem europäischen Festland?» Das sind die Argumente eines englischen Isolationismus, inklusive ein paar snobistischer Fragwürdigkeiten über die «politisch unreife Wählerschaft Osteuropas». Mason könnte ja auch die Frage stellen: «Wie kann ich ein Teil jener demokratischen Bewegung in Europa sein, die sich für eine Demokratie von unten einsetzt?»
Gegenwärtig wirbt Yanis Varoufakis in London für einen Verbleib Britanniens in der EU. Man mag die von ihm mitgetragene Initiative DiEM25 auch für ein wenig illusionär halten, aber hier werden zumindest ein Konzept und ein Appell für europaweite Aktionen von unten zu entwickeln versucht. Das ist mehr als das Hoffen auf eine mythische selbstgenügsame nationale Linke.
Das Poster zu diesem Text stammt vom deutschen Fotografen Wolfgang Tillmans, der als erster Ausländer den britischen Turner-Preis gewonnen hat und mit 25 gratis verfügbaren Postern für einen Verbleib Britanniens in der EU wirbt; siehe Wolfgang Tillmans’ Website.