Auch wenn man eine kritische Theorie nicht in die letzten Verästelungen studiert hat, mag sie sich im eigenen Gedankengut sedimentiert haben. Robert Misik spürt dem nach, was die heutigen Linken gedanklich verbindet.
Michel Foucault gehört unzweifelhaft dazu. Auch Jürgen Habermas, obwohl er vielleicht ein bisschen als allzu sozialdemokratisch-betulich belächelt wird, und der zeitlich ein wenig in die Ferne gerückte Jean Baudrillard. Von Karl Marx müssen wir gar nicht erst reden. Dasselbe gilt für Antonio Gramsci, obwohl der nicht immer ganz bewusst und ausdrücklich präsent ist. Aber untergründig prägt der italienische Marxist zweifellos den Alltagsverstand links interessierter und links engagierter Menschen – tatsächlich ist Alltagsverstand ein Begriff von Gramsci, mit dem dieser zu fassen versuchte, wie Menschen unterschiedliche Erfahrungen und heterogene Ideen kohärent machen, um handeln zu können.
Der österreichische Publizist Robert Misik hat ein handliches, eingängig geschriebenes und vergnüglich lesbares Buch vorgelegt, in dem er skizziert, «was Linke denken». Obwohl es keinen Kanon linker KlassikerInnen oder keine akzeptierten geschlossenen Systeme mehr gebe, entfalteten, so Misiks These, linke Theorien doch weiterhin beträchtliche Wirkung. Selbst wenn bestimmte TheoretikerInnen und deren Werke nicht mehr umfassend studiert werden, haben sich entsprechende Ideen und Theoreme in einem linken Milieu sedimentiert.
Misik untersucht das an mehreren Themenbereichen, zu denen er jeweils die Positionen der wichtigsten und einflussreichsten ProtagonistInnen rekonstruiert. Geschichtstheorie und Fortschrittskonzepte. Macht, hegemoniales Denken und Zivilgesellschaft. Kulturkritik und postmoderne Diskurstheorie. Dekonstruktionen des Ichs und Zwangsregulierungen des Selbst. Postkolonialismus und (ein wenig) Gendertheorie. Entsprechende Grundannahmen bis hin zu einzelnen Versatzstücken werden aufgegriffen und «instinktiv» zu einem allgemeinen linken Gedankengut gefügt. Misik beschreibt dieses bei aller Eingängigkeit und feuilletonistischen Verknappung erfreulich genau. So ist sein Buch brauchbar als Einführung in einige der wichtigeren Theoriedebatten.
Wissenssoziologie
Durchaus konsequent erhebt Misik für sein Vorhaben den Anspruch, einen Beitrag zur Wissenssoziologie zu liefern, also zu beschreiben, wie Wissen sozial entsteht und wirkt. Da zeigen sich dann allerdings Grenzen seiner allzu unscharfen Kategorien. Dass das «linke Milieu» breit gefasst wird, «bunt und heterogen», dass er eine «Marmor- oder Mosaik-Linke» im Auge hat, ist nachvollziehbar, und die paar gemeinsamen (politischen) Grundannahmen, die er aufzählt, sind durchaus plausibel. Aber es ist auch ein wenig tautologisch: Im linken Milieu haben sich jene Ideen sedimentiert, die dieses Milieu bestimmen.
Denn Plausibilität ersetzt noch keine Analyse. So einleuchtend die Verweise auf Foucault, Adorno, Gramsci undsoweiter daherkommen, so ist nicht zu übersehen, dass Misik bei deren Auswahl ganz auf seinen eigenen Instinkt setzt.
Überraschenderweise hört seine Darstellung zeitlich bei der postmodernen, kulturtheoretischen Wende auf – obwohl ein post-postmoderner Theoretiker wie Slavoj Zizek als beiläufig in den Mix geworfener Name natürlich nicht fehlen darf. Wenn Misik meint, dass das ökonomische Denken auf der Linken unterbelichtet sei und sich auf einen halbgaren Neokeynesianismus beschränke, so hat er nicht ganz Unrecht, unterschlägt aber zugleich die ziemlich lebhafte Debatte um die Commons, die Gemeingüter – so wie denn überhaupt Theorien zur Umweltpolitik, zur Deindustrialisierung und zur Wachstumskritik nicht vorkommen.
Allmählich stellt sich der Verdacht ein, dieses Konglomerat von Theorien sei vielleicht doch ein klein bisschen nostalgisch gesehen, für circa Fünfzigjährige und Ältere, und da kaum Frauen vorkommen, sei es vielleicht auch eher im Hinblick auf eine männliche Linke gedacht.
Passive Sedimentierung
Für die Art und Weise, wie Theoreme sich durch- und festsetzen, greift Misik anlässlich eines Gramsci-Zitats auf den Begriff der Sedimentierung zurück, wonach Ideen in den Alltagsverstand absinken. «Auf diesen Sedimenten bilden sich wiederum andere Ablagerungen, bis sich Schicht für Schicht aufeinandertürmt.» Doch die naturwissenschaftliche Metapher ist zu passiv. In dem von Misik angeführten Zitat meint Gramsci nämlich gerade: «Der Alltagsverstand ist nichts Erstarrtes und Unbewegliches, sondern verändert sich fortwährend.» Bei Misik fehlt das aktive Moment sowohl bei der Produktion wie der Rezeption. Theorien erscheinen ja nicht naturwüchsig auf dem Kampfplatz der Ideen, sondern entspringen bestimmten Interessen und Konstellationen, werden aktiv befördert oder bekämpft. Und Ideen sinken nicht nur ab, sondern werden von den Rezipierenden aktiv umgearbeitet, verändert, angepasst.
Gramscis Ausgangspunkt war nicht einfach die interesselose Analyse des Alltagsverstands, sondern die eingreifende Arbeit daran. Bei Misik scheint es mit dem «instinktiven» Denken sein Bewenden zu haben – wie sich Denken und Handeln verschränken, gerät nicht in den Blick.
Mit seiner Auswahl arbeitet Misik selbstverständlich ebenfalls am linken Alltagsverstand. Sein Buch ist handlich, eingängig. Politisch ist es aber nur begrenzt nützlich.
Robert Misik: Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co. Picus Verlag. Wien 2015. 160 Seiten. 21.80 Fr.
* Diese Rezension erschien zuerst in der WOZ – Die Wochenzeitung Nr. 6/16 vom 11. Februar 2016.