Anstelle einer Einleitung: Sozioanalyse
Bevor ich mich dem Marxismus im 21. Jahrhundert zuwende, ist es sinnvoll, Sozioanalyse im Sinne Bourdieus zu betreiben. Es geht mir um eine Positionierung im intellektuellen Kräftefeld, die erkennen lässt, wie ich mich der Marxschen Theorie nähere. Als Schüler und Student war ich glühender Sozialist. Bombenteppiche auf Hanoi und der Putsch gegen die Regierung Salvador Allendes waren Anlass, mich politisch zu engagieren. Der Marxismus, so wie ich ihn verstand, war auch eine soziale Identität. Er versprach nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis, er war ein Glaube – der Glaube daran, dass sich der Kampf für eine Welt ohne Ausbeutung und Krieg lohnen würde. Dieser identitätsbildende Glaube erodierte im Laufe der 1980er Jahre. Auf der Suche nach Erklärungen für gesellschaftliche Umbrüche, neue soziale Bewegungen und nicht zuletzt für Ausbeutung und repressive Herrschaft im real existierenden Sozialismus wurde ich vom Marxisten zum empirisch interessierten Sozialwissenschaftler.
Bin ich heute noch Marxist? Ich habe mir diese Frage lange nicht gestellt. Das hat andere nicht daran gehindert, sie stellvertretend für mich zu beantworten. Für einige meiner Kollegen bin ich das sperrige Überbleibsel eines Arbeiterbewegungsmarxismus, wie ihn Wolfgang Abendroth und seine Schüler im Rahmen ihrer „Marburger Schule“ begründet haben. Andere sehen (oder sahen) in mir einen engstirnigen Arbeitssoziologen, dem mit dem Göttinger Empirismus auch die kapitalismuskritische Perspektive abhandengekommen ist (war). Linksradikale Kritiker machen aus mir einen traditionalistischen Gewerkschaftsfreund, der sich mit ein wenig Sozialkritik und einigen reformerischen Korrekturen am Kapitalismus zufrieden gibt. Manchen Anhängern eines außerakademischen Marxismus gelte ich als Luxemburgist, Einfach-Marxist und Popularisator verstaubter Theoriefragmente.
Bin ich also Marxist? In der Debatte, die das gemeinsam mit Stephan Lessenich und Hartmut Rosa verfasste Bändchen „Soziologie-Kapitalismus-Kritik“ umfasst (Dörre et. al. 2009), habe ich mich, wohl hinreichend offensiv, auf Marx bezogen. In der Außenwahrnehmung gelte ich seither vielen als der Neo-Marxist innerhalb des Autorentriumvirats (Mikl-Horke et. al. 2011). Die Zweifel im Feld des außerakademischen Marxismus, ob ich die Ehre einer solchen Zuschreibung überhaupt verdiene (Bischoff/Lieber 2013: 45), hindern weder Studierende noch Kolleginnen und Kollegen an der Aufforderung, den einmal in die Welt gesetzten Anspruch in einer Theorie kapitalistischer Landnahmen einzulösen.
Auch deshalb ist die Frage, wie es um den Marxismus im 21. Jahrhundert bestellt ist, für mich relevant. Mein Versuch, eine vorläufige Antwort zu formulieren, beschränkt sich auf einige fragmentarische Überlegungen. In einem Punkt bin ich mir jedoch sicher. Die Marxismen des 21. Jahrhunderts bieten vielleicht einen Kompass, um die soziale Welt besser zu verstehen und wirksam zu kritisieren. Identitätsbildend sind diese Marxismen für mich aber nicht. Das vorausgeschickt, möchte ich meine Überlegungen zu Marxismus und Soziologie in acht Thesen zusammenfassen.
These 1: Es gibt nicht den Marxismus, sondern eine gewisse Pluralität von Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf die Marxsche Theorie beziehen.
Diese Pluralität ist im – unabgeschlossenen – Marxschen Werk selbst angelegt. Es gibt keinen homogenen, in sich stimmigen Marx. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten im Marxschen Denken. Dies zu ignorieren hieße, einen „faulen Marxismus“ zu fördern (Hall 1989: 12). Im Rahmen des DFG-Kollegs „Postwachstumsgesellschaften“, auf Auslandsreisen und insbesondere in Südafrika habe ich das Gegenteil eines „faulen Marxismus“ kennenlernen dürfen. Das gilt vor allem für einen Sociological Marxism (Burawoy 2003, 2013), der in Deutschland, anders als in der angelsächsischen Welt, weder über eine akademische Tradition noch über eine institutionelle Verankerung verfügt. Mein eigenes Theorieverständnis entspricht in vielerlei Hinsicht der Grundidee dieses Sociological Marxism. Seine Anhänger verstehen sich als „marxian“, nicht als „marxist“. Sie plädieren für eine – niemals abgeschlossene – Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum „pragmatischen Realismus“ (Wright 2009: 101) so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken und mit neuem Inhalt zu füllen, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren.
Landnahme ist ein solcher Begriff. Die Kategorie ist für Theorien zentral, welche den Kapitalismus als expansives System analysieren und kritisieren. Gemeinsam ist diesen durchaus heterogenen Konzepten die Annahme, dass kapitalistische Gesellschaften sich nicht ausschließlich aus sich selbst heraus reproduzieren. Die Akkumulation des Kapitals bleibt beständig an „nichtkapitalistische Milieus“ gebunden (Luxemburg 1975[1913]: 303, 314). Kapitalistische Dynamik speist sich daher aus einer komplexen Innen-Außen-Bewegung. Stets beinhaltet sie die Internalisierung von Externem, die Okkupation eines nicht kapitalistischen oder nicht marktförmigen Anderen. Ein reiner Kapitalismus, d.h. ein generalisierter Warentausch mit Zwei-Klassen-System, wie ihn Marx auf einer bestimmten Abstraktionsstufe in seinen Reproduktionsschemata unterstellt (Marx 1977[1885]: 391-520), ist nicht überlebensfähig, jedenfalls ist er nirgendwo existent. Stattdessen kommt es zu einem fortwährenden Austausch, den Bereiche, die unmittelbar unter Verwertungszwecke subsumiert sind, mit noch nicht kommodifizierten Sektoren der Gesellschaft pflegen.
Über einen längeren Zeitraum fast vergessen, hat dieser Grundgedanke in der Auseinandersetzung mit Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus eine überraschende Renaissance erfahren. Wohl ein wenig voreilig wird ihm bereits ein ähnlicher Status zugeschrieben, wie ihn zeitweilig die Regulationstheorie bei der Analyse des Fordismus innehatte (Backhouse et. al. 2013: 11). Versuche, kapitalistische Entwicklung als „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2005: 137ff.) zu analysieren, konzentrieren sich überwiegend auf den finanzkapitalistischen Modus Operandi in Staat und Wirtschaft, die Veränderungen nicht nur der Erwerbsarbeit, sondern vor allem auch der Reproduktionstätigkeiten werden hingegen kaum oder gar nicht in den Blick genommen. Diesen Schwachpunkt monieren feministische Wissenschaftlerinnen (Federici 2013: 38-50, Aulenbacher 2013: 105-126; Feministische Autorinnengruppe 2013: 99-118), die den Entzug von Ressourcen für die soziale Reproduktion als Zentrum der neuen Landnahme betrachten.
Das von mir favorisierte Landnahmekonzept teilt die Annahme einer fortwährenden ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. In der Auseinandersetzung mit gängigen zeitgenössischen Interpretationen hatte Marx den Übergang zum Industriekapitalismus als „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet (Marx 1973 [1867]: 741-802). Zumindest im vorindustriellen England, das Marx als wichtigsten Fall analysierte, beruhte dieser Prozess auf gewaltsamer Aneignung von Besitz, der Zerstörung tradierter Produktions- und Lebensformen sowie einer auf außerökonomische Zwänge gegründeten Disziplinierung von Arbeitskräften (Kößler 2013: 18-37). Während Marx Gewalt und außerökonomischen Zwang jedoch als Übergangsphänomen betrachtete, das sich mit der Eingewöhnung in die kapitalistische Produktionsweise von selbst erledigen würde, haben Rosa Luxemburg und an sie anknüpfend so unterschiedliche Interpreten wie Hannah Arendt, Maria Mies, Burkart Lutz oder in jüngster Zeit David Harvey die Notwendigkeit einer fortwährenden ursprünglichen Akkumulation begründet. Dabei ist nicht die offene Gewaltträchtigkeit ursprünglicher Akkumulation der entscheidende Punkt. Die fordistische Landnahme des traditional-handwerklichen Sektors in den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismen erfolgte weitgehend friedlich. Dennoch kann diese innere Landnahme in ihrer Konsequenz für den traditionalen Sektor und seine Produktions- und Lebensweisen „durchaus in Analogie zur ‚äußeren Landnahme’ des Imperialismus gesehen werden“ (Lutz 1984: 213).
Mit Blick auf die Entwicklung ab Mitte der 1970er Jahre halte ich es für aussichtsreich, die Restrukturierung in den kapitalistischen Zentren als finanz- und wettbewerbsgetriebene Landnahme des Sozialen zu analysieren. Das Landnahmetheorem enthält ein Set an Wenn-Dann-Beziehungen, das als Forschungs-Heuristik an den Gegenwartskapitalismus herangetragen werden kann: Wenn (1) industriekapitalistische Gesellschaften prosperieren, dann speist sich diese Prosperität aus der Okkupation nichtkapitalistischer Milieus. Wenn (2) kapitalistische Prosperität auf der Okkupation nichtkapitalistischer Milieus beruht, sind Wachstumsschübe endlich, weil die Etablierung kapitalistischer Tausch- und Verkehrsformen unweigerlich mit einer Zerstörung vereinnahmter Milieus verbunden ist. Ein neuer Prosperitätsschub wird nur einsetzen, wenn (3) neues Land außerhalb der etablierten Produktion für die Kapitalakkumulation erschlossen werden kann. Wenn jedoch (4) alle nichtkapitalistischen Milieus in den kapitalistischen Warentausch und den Akkumulationsprozess des Kapitals integriert sind, dann gelangt kapitalistische Entwicklung an ihr Ende. Dieses Ende lässt sich jedoch in die Zukunft verschieben, wenn (5) ein nicht-kapitalistisches Anderes aktiv, d.h. mit ökonomischen und politischen Mitteln neu hergestellt werden kann. Eine solche Forschungsheuristik bezieht ihr Anregungspotential aus der Marxschen Theorie und deren kritischer Bearbeitung – etwa durch Rosa Luxemburg. Es geht aber primär darum, das Landnahmetheorem auf die Kapitalismen des 21. Jahrhunderts zu beziehen und seine Leistungsfähigkeit anhand von Gegenwartsphänomenen zu prüfen. Analytische Tragfähigkeit bedeutet zugleich Kritik von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen. Das führt mich zu einer zweiten These.
These 2: Die Marxsche Theorie ist eine Kapitalismuskritik – „die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art“ (Eagleton 2012: 14).
Und, so sei hinzugefügt, sie ist zugleich diejenige Theorie, die „große Regionen der Erde umgestaltet hat“ (ebd.). Damit hat die Marxsche Theorie jedoch ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein, d.h. sie muss ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis entwickeln. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Soziologie auch als Reaktion auf die Herausforderung der Marxschen Theorie entstanden ist. Hat sich die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und haben sich die von ihr inspirierten Marxismen zunächst als interne theoretische Ansätze sozialistischer Arbeiterbewegungen entwickelt, so entstand die Soziologie von Beginn an als akademisches Fach. Ihre Entwicklung verlief zunächst völlig anders als die der Marxschen Theorie. Zumindest implizit erfolgte die Entwicklung der akademisch institutionalisierten Disziplin aber doch in Auseinandersetzung mit dem außerakademischen Marxismus.
Im wissenschaftlichen Feld ist der gemeinsame Bezugspunkt von interner Marxscher Theorie und externer akademischer Soziologie ein Kampf um Wahrheit. Deutungsmacht beruht letztendlich auf dem Ringen um Erkenntnis. Aus diesem Grund konnte es überhaupt zu einer spannungsgeladenen wechselseitigen Durchdringung von Marxscher Theorie und akademischen Sozialwissenschaften kommen. Die Marxsche Theorie adaptierte – wenngleich oftmals zögerlich und selektiv – soziologische Methoden und Analysen; die Soziologie übernahm ihrerseits Elemente des Marxschen Denkens. Auch weil die Suche nach Wahrheit in vielerlei Hinsicht an Methoden und theoretischen Überlegungen der akademischen Soziologie anknüpfen kann und muss, darf sich das Selbstverständnis, die Identität einer Soziologin oder eines Soziologen niemals ausschließlich auf Marxismus gründen. Das gilt umso mehr, als die diversen Marxismen ihren Charakter als interne Theorien sozialistischer Arbeiterbewegungen mit wenigen Ausnahmen längst verloren haben. In den staatssozialistischen Ländern zur Legitimationsideologie einer bürokratischen Elitenherrschaft mutiert, entstand in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ein westlicher Marxismus, der, wenngleich überwiegend marginal, auf unterschiedliche Weise auch im Wissenschaftssystem institutionalisiert wurde. Die Frankfurter Schule ist dafür ein prominentes Beispiel.
Trotz des kurzen Frühlings Marxscher Theorie, der angesichts einer überraschenden Wiederkehr der Arbeitermilitanz nach 1968 einsetzte, sind solche Institutionalisierungen besonders in Deutschland stets fragil geblieben. Das ist bedauerlich, weil sich z. B. mit dem Sociological Marxism ein spezifischer Erkenntnisanspruch verbindet, der, so mein Vorschlag, allerdings etwas weiter gefasst werden muss, als Michael Burawoy (2013) ihn formuliert. In Burawoys Überlegungen ist „das Soziale“, die Zivilgesellschaft jenseits von Wirtschaft und Kernstaat, das zentrale Feld eines zeitgemäßen soziologischen Marxismus. Soziologen, auch diejenigen, die einem soziologischen Marxismus verpflichtet sind, agieren als „guardians of humanity, defending society against the tyranny of markets and the terrorism of states“ (Burawoy 2008: 354). Die Politische Ökonomie und der Akkumulationsprozess des Kapitals sind hingegen als analytisches Feld von untergeordneter Bedeutung. Demgegenüber zielen meine Überlegungen auf eine disziplinäre Ausrichtung, die nach den Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen fragt, die sich gleichsam unter der Oberfläche des kapitalistischen Waren- und Äquivalententauschs verbergen.
Was dies bedeutet, lässt sich wiederum anhand des Landnahmetheorems zeigen. Am ägyptischen Fall hat Rosa Luxemburg eindringlich beschrieben, was unter fortgesetzter ursprünglicher Akkumulation zu verstehen ist. Die neue Landnahme (Luxemburg verwendet den Begriff nicht, sie spricht stattdessen von Kolonisation) setzte mit der Verwandlung einer ursprünglich auf Subsistenzproduktion ausgerichteten Bauernwirtschaft in eine Geldökonomie ein. Diese Geldwirtschaft wurde genutzt, um große Modernisierungsprojekte wie den Suezkanal sowie die erforderliche Infrastruktur (Eisenbahn) zu schaffen. Zur Finanzierung diverser Programme jagte eine Staatsanleihe die andere, die Staatsverschuldung Ägyptens stieg. Davon profitierte in erster Linie das europäische Anlagekapital (ebd.: 380f.), und das auf Kosten der ägyptischen Fellachen, die mit unfreiwilliger Arbeit zur Zinstilgung beitragen mussten. Anlagekapital, dessen Ansprüche auf maximalen Gewinn befriedigt werden, indem Grund und Boden okkupiert und unfreie, prekarisierte Arbeit einem System einverleibt wird, das auf systematischer Überausbeutung beruht – das ist nach Rosa Luxemburg der Modus Operandi imperialistischer Landnahme ihrer Zeit. Die Nähe dieses sozialen Mechanismus zu aktuellen Phänomenen springt sofort ins Auge. Finanzkapitalistisch getriebene Landnahme und exorbitante Renditeerwartungen auf der einen Seite, Prekarisierung und Übernutzung von natürlichen Ressourcen auf der anderen Seite sind ein Strukturmerkmal neuer Landnahmen, die sich seit den 1970er Jahren ereignet haben. Allerdings folgt die neue Landnahme nicht den altbekannten imperialen Mustern. Der Expansionsdrang, der dem Kapital immanent ist, drängt nicht zu Kolonialpolitik und Unterwerfung des globalen Südens. Eher sind es einige der ehemaligen Kolonialstaaten, deren Aufholprozess die frühindustrialisierten Länder herausfordert. Und selbstverständlich sind es heute nicht Fellachen oder andere Fronarbeiter, die Rendite- oder Gewinnansprüche von Unternehmen und Finanzmarktakteuren bedienen, wenngleich es ähnliche Phänomene noch immer gibt. Landnahme bedeutet in der Gegenwart, zumindest in den kapitalistischen Zentren, Freisetzung von Lohnabhängigen aus wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen, die in der fordistischen Ära für eine partielle Abkopplung der Lohnarbeit von Marktrisiken sorgten, bilden nun das neue Außen, welches es im Namen einer flexiblen Akkumulation zu okkupieren gilt. Eine selektive Enteignung von ‚Sozialeigentum‘ soll den Warencharakter von Lohnarbeit für einen Teil der Arbeitskräfte möglichst umfassend wiederherstellen. An die Stelle von präkapitalistischen treten post-wohlfahrtsstaatliche Formen prekärer Arbeit und Beschäftigung, deren Expansion die kontinentaleuropäischen Arbeitsgesellschaften auf unterschiedlichen Achsen der Ungleichheit und Ausbeutung verändern.
These 3: Ein pluraler, demokratischer Marxismus des 21. Jahrhunderts muss der Realität unterschiedlicher Herrschafts- und Ausbeutungsformen Rechnung tragen.
Auch diese Anforderung wird im Landnahmekonzept reflektiert. Die Abhängigkeit der Kapitalakkumulation von äußeren nicht-kapitalistischen Märkten strukturiert nicht nur die Wechselbeziehungen zwischen Lohnarbeit und anderen Tätigkeitsformen, sie impliziert zugleich eine begrenzte Pluralität von Ausbeutungsverhältnissen. In einer allgemeinen Verwendung benennt die Kategorie der Ausbeutung eine Kausalbeziehung zwischen „dem Glück der Starken […] und der Not der Schwachen […]“ (Boltanski/Chiapello 2003: 398). Man müsse, so das Argument Dubets, „die marxistische Auffassung von Wert und Mehrwert nicht teilen, um die Macht des Gefühls der Ausbeutung in der Industriegesellschaft zu begreifen“ (2008: 119).
In Erweiterung der Luxemburgschen Akkumulationstheorie hatten Autorinnen im Kontext des Bielefelder Hausfrauisierungs-Ansatzes ähnlich argumentiert: „Ausbeutung heißt Beute machen, sich etwas durch Gewalt aneignen, was nicht durch eigene Arbeit geschaffen wurde, sich etwas nehmen, ohne Gleichwertiges zurückzugeben“ (Mies 1983: 120). Mit der Gewaltträchtigkeit von Ausbeutungsbeziehungen, die auf Subsistenzarbeit Anwendung findet, wird so ein formationsunspezifischer Mechanismus für allgemeingültig und grundlegend erklärt, der gerade nicht dem Prinzip des kapitalistischen Äquivalententauschs entspricht. Ausbeutung in ihrer grundlegenden, der Ausbeutung in der Mehrwertproduktion vorgelagerten Version, gilt als machtgestützte Übervorteilung, als „Raub“. Demgegenüber will die Marxsche Theorie erklären, weshalb Ausbeutung trotz des auf dem Arbeitsmarkt herrschenden Prinzips der Vertragsgleichheit möglich ist. Dieses Prinzip kann im kapitalistischen Unternehmen realisiert und zugleich in verdeckter Weise durchbrochen werden, weil die Lohnabhängigen das Äquivalent für ihre Arbeitskraft, nicht aber für das Wertprodukt erhalten, das sie herstellen. Zwar bedarf es nach Luxemburg des Klassenkampfs, um dem Äquivalententausch am Arbeitsmarkt überhaupt Geltung zu verschaffen, doch dieses Tauschverhältnis lässt sich, was weder Marx noch Luxemburg voraussehen konnten, ‚pazifizieren‘ (Habermas 1987: 512). Ausbeutung kann mittels Steigerung des Lebensstandards der Ausgebeuteten abgemildert und subjektiv in „gerechte“, weil für legitim befundene Ungleichheit umgedeutet werden.
Die Institutionalisierung von Lohnabhängigenmacht im Wohlfahrtstaat, im Arbeitsrecht und in kollektiven Vertragsbeziehungen wirkt marktbildend, indem sie dem Prinzip des Äquivalententauschs zumindest formal zur Gültigkeit verhilft. Ich schlage vor, diesen Fall als primäre, weil für die kapitalistische Formation exklusive Ausbeutungsform zu bezeichnen. Von kapitalistisch formbestimmten primären lassen sich nicht spezifisch kapitalistische sekundäre Ausbeutungsmechanismen unterscheiden. Während primäre Ausbeutungsbeziehungen in formelle oder informelle Vertragsbeziehungen eingebettet sind, die das Prinzip des Äquivalententauschs (Arbeitskraft gegen angemessene Entlohnung) festschreiben und daher im Idealfall auch ohne außerökonomische Disziplinierung auskommen, stiften sekundäre Ausbeutungsformen Äquivalenzbeziehungen anderen Typs. Von sekundärer Ausbeutung kann immer dann gesprochen werden, wenn symbolisch-kulturelle oder staatlich und politisch legitimierte Disziplinierungsmechanismen eingesetzt werden, um Innen-Außen-Differenzen mit dem Ziel zu konservieren, die Arbeitskraft oder den Lebensstandard sozialer Gruppen, etwa mittels rassistischer oder sexistischer Abwertung, deutlich unter das allgemeine, wohlfahrtsstaatlich abgesicherte Lohn- und Reproduktionsniveau zu drücken, oder auch, um Tätigkeiten innerhalb wie außerhalb der Erwerbssphäre als unbezahlte Gratisressource nutzen zu können.
Lassen es die äußeren Rahmenbedingungen und die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu, so ist die Intensivierung sekundärer Ausbeutung eine potenzielle Option, mit der ökonomische und politische Eliten auf Stockungen der Kapitalakkumulation reagieren können. Insofern existieren primäre und sekundäre Ausbeutungsmechanismen nicht unabhängig voneinander. Der Äquivalententausch in der Mehrwertproduktion und seine institutionellen Garantien konstituieren den Maßstab, von dem Austauschbeziehungen abweichen, die auf außerökonomischer Dominanz beruhen, die eine eigene, vom Kapitalismus unabhängige Geschichte haben (Rassismus, Sexismus) und die teilweise außerhalb des kapitalistischen Unternehmens und der Produktionssphäre stattfinden. Nimmt z.B. die gesellschaftliche Abhängigkeit von nicht oder nur schwer rationalisierbaren Humandienstleistungen und Care-Tätigkeiten im Reproduktionsprozess zu, können außerökonomische Disziplinierungsmechanismen eingesetzt werden, um den Preis dieser Tätigkeit künstlich niedrig zu halten oder um sie den Nachfragern weiterhin als Gratisressource zur Verfügung zu stellen.
Das zeigt sich exemplarisch im Feld der Sorgearbeiten (vgl. hierzu auch den Beitrag von Silvia Kontos in diesem Band). Eine weite Definition versteht unter Sorgearbeit ein großes Spektrum an Tätigkeiten, mit deren Hilfe jene menschlichen Akteure überhaupt erst erzeugt werden, „die das System in Gang setzen und in Schwung halten“ (Klinger 2013: 87). Der besondere Status von Sorgearbeit im Kapitalismus ergibt sich nach Ellen Meiksins Wood (2010) aus zwei Trennungen – der Ablösung einer privaten Wirtschaft von Staat, politischem System und Demokratie sowie der vom Feminismus thematisierten Trennung des Öffentlichem vom Privatem als Bedingung für die Anwendung von Lohnarbeit. In feudalen Gesellschaften beruhte die Aneignung eines Mehrprodukts auf der Nutzung von Arbeit, die in bäuerlichen Haushalten kollektiv geleistet wurde. Sie war durch außerökonomische Herrschaft begründet und über die Ausweitung rechtlicher, militärischer oder politischer Befugnisse unmittelbar zu beeinflussen (ebd.: 279ff.). Anders im Kapitalismus. Hier sind Arbeits- und Tauschverhältnisse Beziehungen zwischen formal freien und gleichen Individuen. Der Aneignungsprozess vollzieht sich privatwirtschaftlich und in formaler Distanz zu Staat und Demokratie. Das hat Auswirkungen auf die Verteilung außerökonomischer Güter. Während die politischen Güter in vorkapitalistischen Gesellschaften knapp gehalten werden mussten, weil sich eine Ausweitung unmittelbar auf die Aneignungsmacht auswirkte, ist in der „rein politischen Demokratie“ (ebd.: 278) kapitalistischer Gesellschaften prinzipiell eine viel breitere Streuung v.a. der an den Bürgerstatus gebundenen Rechte möglich. Die herrschaftliche „Verknappung“ politischer Güter lässt sich überwinden, zugleich wird jedoch die „Währung“ entwertet, in der diese Güter gehandelt werden, weil eine Ausweitung von Rechten z.B. für Frauen und Migranten den Kern des kapitalistischen Aneignungsverhältnisses unberührt lässt (ebd.).
Wie sich anhand der Trennung von Öffentlichem und Privatem zeigt, gibt es jedoch keinen Demokratisierungs-Automatismus. Zwar relativiert eine breitere Streuung außerökonomischer Güter die totale Unterordnung von Lohnabhängigen unter die Erwerbsarbeit (Castel 2011: 60), der damit verbundene soziale Progress fordert jedoch einen hohen Preis, weil ein Großteil der Sorgearbeiten als unbezahlte Tätigkeit und überwiegend von Frauen im Haushalt geleistet wird. Die Ausübung männlicher Dominanz, die bereits die Haushaltsproduktion der feudalen Ordnung prägte, verschwindet nicht; sie wird für die kapitalistische Produktionsweise funktionalisiert und mit der Trennung von Öffentlichem und Privatem auf neue Weise organisiert. Das zeigt sich an der Tendenz zur Abwertung reproduktiver Tätigkeiten, ihrer fortbestehenden ‚Verbannung‘ in die Sphäre des Privaten, Persönlichen und vor allem ‚des Weiblichen‘.
Dem entspricht eine kapitalzentrierte Perspektive, der ausschließlich Mehrwert erzeugende Lohnarbeit als produktiv gilt. Sie begründet ein Interesse von Wirtschaft und Staat, die Kosten für vermeintlich unproduktive, weil nicht direkt verwertbare Sorgearbeiten möglichst niedrig zu halten. Feministische Autorinnen attackieren mit guten Argumenten die Absolutheit dieser Tauschwertperspektive und heben die elementare Bedeutung reproduktiver Tätigkeiten für jede menschliche Aktivität hervor. Die Plausibilität einer an der konkreten Nützlichkeit von Sorgearbeit orientierten Kritik ändert jedoch nichts daran, dass die Definitionsmacht über die Produktivitätsmaßstäbe und die Bezahlung von Arbeit bei kapitalistischen Unternehmen und Staat liegt. Akkumulation und Freisetzung zur Lohnarbeit für das Kapital bedeuten daher immer auch Kampf um die Legitimation von Produktivitätsmaßstäben, ständiges Ringen um eine Auf- oder Abwertung bezahlter wie unbezahlter Reproduktionsarbeiten (Becker-Schmidt 2007; Dörre et. al. 2014b). Diese Feststellung ist auch für die Frage nach der Konstruktion und Wirksamkeit antikapitalistischer sozialer Kräfte bedeutsam.
These 4: Von anderen Konzepten unterscheiden sich marxistische Kritiken dadurch, dass sie den analytischen Blick für Wirkungsmöglichkeiten einer subdominanten politischen Ökonomie der Arbeit und der sozialen Reproduktion schärfen.
Diese These bezieht sich auf Möglichkeiten zu einer ‚Rückeroberung von Land‘. Sollen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse umfassend in den Blick genommen werden, muss systematisch zwischen Arbeitskraft und Arbeitsvermögen unterschieden werden. Bezahlte Erwerbsarbeit, unbezahlte Sorgearbeiten, Eigenarbeit und frei gewählte Tätigkeiten, die ausschließlich der Selbstentfaltung dienen, repräsentieren je eigene Arbeits- bzw. Tätigkeitsvermögen. Diese werden über Steuerungsarbeit miteinander verbunden (Negt/Kluge 1993: 107). Einzelne Personen sind nicht in der Lage, die durch flexible Produktionsweisen und Lebensformen erzeugte ‚Inbalance‘ der Arbeitsvermögen grundlegend zu korrigieren. Deshalb erfassen Zwänge, wie sie im zeitgenössischen Kapitalismus vor allem im Exportsektor und über flexible Zeitregimes erzeugt werden, nicht nur die bezahlte Erwerbsarbeit, sie okkupieren auch sukzessive alle anderen Arbeitsvermögen und Tätigkeitspotenziale. Negt und Kluge sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Balance-Imperialismus“, der über den „Abzug von Steuerungsenergien“ (Negt/Kluge 1993:106) wirkt. Die Anforderungen flexibler Produktion und Reproduktion laufen darauf hinaus, dass immer mehr Aktivität darauf verwandt werden muss, Lebensbereiche und Tätigkeiten zu koordinieren. Daraus erwächst eine Ausbeutungsproblematik, die über die private Aneignung von unbezahlter Arbeitszeit im kapitalistischen Produktionsprozess hinausgeht. Die in flexiblen Produktionsweisen und ihren Zeitregimes erzeugten Zwänge vereinnahmen und privatisieren unbezahlte Steuerungsarbeit, die individuell auch deshalb vermehrt geleistet werden muss, weil institutionell abgesicherte gesellschaftliche Steuerungsleistungen wegbrechen, die eine längerfristige Lebensplanung ermöglichen würden.
Hier wäre der Stachel zeitgenössischer Kapitalismuskritik anzusetzen. Auch und gerade bei den noch relativ geschützten sozialen Gruppen (Stammbeschäftigte) in prosperierenden Exportsektoren schließt das Streben nach einem guten Leben subjektiv eine Wachstumskritik ein, die sich am wettbewerbsgetriebenen Kapitalismus entzündet. Die ökologische Krise gilt vielen Befragten als Konsequenz jenes ‚Immer mehr und nie genug!‘, das sie aus dem Betrieb, aber auch aus anderen Lebensbereichen kennen. Als Treiber wird ein verselbstständigtes Wettbewerbsprinzip identifiziert, dessen zerstörerische Wirkung in unterschiedlichen Kontexten erlebt wird. Dieses expansive Wettbewerbsprinzip ist aus dem betrieblichen Alltag bekannt und wird in zahlreichen Variationen beschrieben und kritisiert.
Eine einschneidende Erfahrung ist, dass jeder ‚Sieg‘ im Wettbewerb nur ein vorläufiger ist. Kaum ist ein Konkurrenzvorteil erreicht, legt der Konzern bereits das nächste Rationalisierungsprogramm auf, schon geht es wieder darum, die Wettbewerbsposition des Unternehmens zu verbessern, und wieder bedeutet das, noch schneller, noch effizienter arbeiten zu müssen. Die Unersättlichkeit des Wettbewerbs durchdringt alle Poren der Gesellschaft und wirkt selbst auf die Lebenswelt von Kindern und Heranwachsenden ein. Die Gesellschaft scheint zu einer Ansammlung von Wettkämpfen degeneriert, und das Wettbewerbsprinzip ist unersättlich. Es erzeugt permanent Gewinner und Verlierer. Es wirkt in mehr oder minder allen gesellschaftlichen Erfahrungsräumen und es schränkt die Lebensqualität in der Wahrnehmung selbst von Führungskräften teilweise bis zur Unerträglichkeit ein.
Die Kritik am Wettkampf aus Prinzip stellt möglicherweise eine Brücke zwischen individuellen Erfahrungen und den subjektiven Gesellschaftsbildern her. Und diese kognitive Brücke vermittelt zwischen den Erfahrungen in der ‚kleinen Welt‘ des Betriebs, der privaten Welt der Familie und den Haltungen gegenüber der ‚großen Gesellschaftswelt‘ (vgl. Dörre et. al. 2014a: 543-550). Daran wird exemplarisch deutlich: Ausbeutung wie auch Entfremdung schlagen sich in Ungerechtigkeitserfahrungen nieder. Sie erzeugen einen „Rohstoff“ (Negt/Kluge 1993: 83) an Problemwahrnehmungen, der Individuen und Gruppen zu eigensinnigen Reaktionen motiviert. Gerade weil sich die kapitalistische Indienstnahme der Arbeitsvermögen niemals vollständig durchsetzen kann, erzeugen Okkupationsversuche Reibungen, welche Gegenbewegungen, Kämpfe um die ‚Rückeroberung von Land‘ auslösen können. Landpreisgabe wird in solchen Konflikten zu einem Ziel, das kollektive soziale Akteure mehr oder minder bewusst anstreben. Rosa Luxemburg hat sich in ihrer politischen Soziologie auf Gegenbewegungen Marxschen Typs, auf sozialistische Arbeiterbewegungen konzentriert. Sie gewichtet Erfahrungen, Spontanität und demokratische Meinungsfreiheit innerhalb dieser Bewegungen aber deutlich höher als die marxistische Orthodoxie und besonders der Leninismus ihrer Zeit. Die Anerkennung des Eigenwerts nicht-kapitalistischer Produktionsweisen und Lebensformen enthält zudem die Annäherung an ein plurales Verständnis sozialer Antagonismen und antikapitalistischer Bewegungen. Wenn ein reiner Kapitalismus nicht existiert, so lassen sich auch die Gegenbewegungen nicht auf organisierte sozialistische oder gewerkschaftliche Arbeiterbewegungen reduzieren. Stattdessen gelten Luxemburg spontane Massenbewegungen und damit auch klassenunspezifische Bewegungen Polanyischen Typs, die sich dem „Mahlstrom“ nivellierender Marktmacht widersetzen (Silver 2005: 41; Wright 2000: 957-1002), als wichtige soziale Akteure. Von autoritären, fundamentalistischen und neofaschistischen Bewegungen unterscheiden sich diese sozialen Kräfte, weil sie in der einen oder anderen Form mit dem Prinzip einer „rebellischen Demokratie“ verbunden sind, das als gemeinsames Projekt einer in sich vielfältigen Mosaiklinken (Urban 2013: 269) geeignet sein könnte, die kapitalistischen Eliten herauszufordern.
These 5: Als radikale Kritik kapitalistischer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse ist die Marxsche Theorie ein „provisorisches Projekt“ (Eagleton 2012: 14), das sich mit den Metamorphosen des Kapitalismus verändert und mit der Überwindung des Kapitalismus erledigt hat.
Auf der ‚Suche nach Wahrheit‘ können Marxismen des 21. Jahrhunderts an Methoden und theoretische Überlegungen der akademischen Soziologie (Sozialwissenschaften) anknüpfen. Für zeitgenössische Marxismen ist eine Grundproblematik konstitutiv, wie sie jede Spielart kritischer Theorie aufweist. Soziologische Theorien, die eine herrschaftskritische Absicht verfolgen, kommen nicht umhin, eine ganzheitliche Vorstellung von Gesellschaft zu entwickeln. Bekanntermaßen beinhaltet jede ganzheitliche Sicht auf Gesellschaft aber ein gravierendes erkenntnistheoretisches Problem. Empirisch beobachtbar sind „einzig Machtverhältnisse“ (Boltanski 2010: 15) oder soziale Lagen, Akteure und Institutionen, die diese Machtverhältnisse beeinflussen. Herrschaft und Ausbeutung wirken hingegen verschleiert. Deshalb kommen herrschafts- und ausbeutungskritische Theorien nicht umhin, zunächst ein heuristisches Modell von Gesellschaft und ihren basalen Mechanismen zu konstruieren, um Widersprüche oder Paradoxien zu identifizieren und sie vom lediglich Disparaten unterscheiden zu können. Dementsprechend agieren herrschaftskritische soziologische Theorien letztendlich immer auch als Metatheorien. Das unterscheidet sie von deskriptiven Sozialwissenschaften, die soziale Ungleichheiten ebenso wie divergente Machtformen analysieren können, ohne diese über die Identifikationen eines Wirkungsmechanismus aufeinander beziehen zu müssen. Insofern kommen herrschafts- und ausbeutungskritische Theorien niemals umhin, soziale Realität von der Außenposition eines theoretischen Modells aus analysieren zu müssen. Erst eine solche Außenposition beinhaltet die Möglichkeit, eine herrschaftskritische Perspektive einzunehmen.
Die Pointe einer aus der Perspektive des Landnahmekonzepts formulierten Herrschafts- und Ausbeutungskritik besteht darin, dass sie wesentlich auf die expansionistische Dynamik des (Industrie-)Kapitalismus wie auch verwandter Typen moderner Gesellschaften zielt. Konstitutiv ist die Vorstellung eines Gesellschaftssystems, das sich über längere Zeiträume hinweg nur zu stabilisieren vermag, indem es die fortwährende Einverleibung eines – teilweise endlichen, vor allem aber nicht marktförmigen – Anderen betreibt. Die Einverleibung sozialer und natürlicher Ressourcen kann sich jedoch niemals widerspruchsfrei vollziehen. Der expansive Charakter kapitalistischer Entwicklung muss auf die spezifischen Regeln und Ressourcen sozialer Felder übertragen, in ständigen Machtproben von je besonderen Akteurskonstellationen durchgesetzt und über hegemoniale Rechtfertigungsordnungen legitimiert werden.
Solche Prozesse können nur über empirische Forschungen rekonstruiert werden, die dem Neutralitätsgebot folgen, um Tatsachen und Wertungen auseinander zu halten (Boltanski 2010: 19). Empirischen Einzelstudien bleiben Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen analytisch unzugänglich. Empirisch identifizierbar sind allein Kräfte- und Verteilungsverhältnisse, Machtkonflikte und Wertigkeitsprüfungen in sozialen Feldern, also die Äquivalenzbeziehungen, Machtkämpfe und Wertungen, die Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete miteinander verbinden. Präziser: Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sind in gesellschaftliche Bewährungsproben eingebettet, deren Machtkonflikte (Kraftproben) und Wertigkeitsprüfungen sich empirisch beobachten lassen.
Im Kontext des Landnahmetheorems dient das Bewährungsprobenkonzept vor allem dazu, die spannungsreiche Durchsetzung von Kommodifizierungspolitiken auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen aus der Akteursperspektive zu beleuchten. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis bedeutet Kommodifizierung, dass dominante soziale Akteure neue, feldspezifische Bewährungsproben schaffen oder zumindest die Formate bereits institutionalisierter Wettkampfsysteme verändern. Bewährungsproben umfassen dabei stets beides: die machtgeleitete Auseinandersetzung (Kraftprobe) einerseits und die in Gerechtigkeitskonzepte eingebettete Wertigkeitsprüfung andererseits (Boltanski/Chiapello 2003: 526). Individuen oder Klassen von Individuen müssen sich in Bewährungsproben qualifizieren, um Zugang zu bestimmten sozialen Positionen zu erlangen. Neue oder zumindest neu formatierte Bewährungsproben leisten komplexe Mikro-Makrovermittlungen; sie ermöglichen Übergänge und Wechselwirkungen zwischen heterogenen sozialen Feldern und wirken so als Transfermechanismen, in denen die Basisregel historisch einmaliger Landnahmeprozesse transportiert wird.
These 6: Zwischen Alltagskritik und wissenschaftlicher Kritik besteht eine – im besten Falle produktive – Wahlverwandtschaft.
Marxistische Kapitalismuskritik unterscheidet sich auch methodologisch von sozialtheoretischen Versuchen, die auf eine normative Letztbegründung soziologischer oder sozialwissenschaftlicher Gesellschaftskritik zielen. Ohne die Bedeutung solcher Vorhaben in irgendeiner Weise in Abrede zu stellen, geht es marxistisch inspirierter Kritik um etwas anderes. Kritik, soweit sie mit einem wissenschaftlichen Anspruch agiert, entsteht aus der möglichst präzisen Beschreibung und Analyse sozialer Verhältnisse, der ihnen inhärenten Bewegungsform und der durch sie produzierten Verwerfungen und Krisen. Wie schon angesprochen, produzieren die ideologischen Selbstlegitimationen des Kapitalismus beständig Ansprüche, Erwartungen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der sozialen Realität nicht erfüllt werden. Solche Diskrepanzen sind eine erste, wenngleich nicht die einzige Quelle soziologischer Gesellschaftskritik. Die Maßstäbe für Kritik finden sich im jeweils hegemonialen „Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2003: 35), in den Rechtfertigungsregimes, die mit sozialen Feldern korrespondieren. Sie finden sich aber auch in den Dysfunktionalitäten, den Widersprüchen, Pathologien, Verwerfungen und Konflikten, die kapitalistischen Landnahmen antreiben und verursachen. Um es provokant zu formulieren: Wenn eine kapitalistische Gesellschaft, die sich selbst als soziale Marktwirtschaft beschreibt, relevante Teile der Bevölkerung prekären Arbeits- und Lebensformen überantwortet, so kann dieser Preis vermeintlicher Vollerwerbstätigkeit nicht nur benannt, sondern auch kritisiert werden, ohne dass normative Letztbegründungen einer solchen Kritik zwingend nötig wären. Deutungskämpfe im Wissenschaftssystem beziehen sich in einem solchen Fall in erster Linie auf Erklärungen und Ursachenzuschreibungen, weniger auf das moralische Fundament von Gesellschaftskritik.
Damit ist nicht gesagt, dass normative Maßstäbe für Kritik völlig ausgespart werden müssen. Jede Spielart wissenschaftlich begründeter Kritik findet in den Wertigkeitsprüfungen des gesellschaftlichen Wettkampfsystems, vor allem aber in der Alltagskritik beherrschter sozialer Gruppen und Akteure eine wichtige und durchaus auch moralische Quelle. Um sich der Frustrationen sozialer Akteure annehmen und sie wissenschaftlich reflektieren zu können, sind soziologische Stilisierungen sozialer Phänomene auf einen Austausch mit lebendiger Alltagskritik angewiesen. Denn die „Vorstellung einer nicht an der Erfahrung eines Kollektivs angelehnten, gleichsam für sich, will heißen: für niemanden bestehenden kritischen Theorie ist haltlos“ (Boltanski 2010: 21). Vielmehr gilt es, die deskriptiv-empirische Analyse im Sinne einer Hermeneutik des Alltagswissens zu nutzen, um so den Übergang von einer „einfachen“ zur einer „komplexen Außenposition“ (ebd.: 25) zu vollziehen. Das Spannungsverhältnis zwischen empirisch fundierter und theoretisch konstruierter Perspektive lässt sich letztendlich aber nicht auflösen. Die Möglichkeit zu innovativer sozialwissenschaftlicher Erkenntnis muss dieser Spannung immer wieder neu „abgerungen“ werden (ebd.: 28).
Allerdings existiert zwischen wissenschaftlicher Gesellschaftskritik und der Alltagskritik sozialer Gruppen und Akteure eine Wahlverwandtschaft. Wissenschaftliche Gesellschaftskritik vermag Diskursräume zu öffnen, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren genutzt werden können. Luc Boltanski und Eve Chiapello haben dies am Beispiel des Verhältnisses von wissenschaftlicher Sozialkritik (Ausbeutungskritik) und französischer Gewerkschaftsbewegung illustriert. Die Erosion der Organisationsmacht von Gewerkschaften hat der wissenschaftlichen Sozialkritik eine wesentliche Quelle genommen. Die Schwäche der Gewerkschaften ist demnach Symptom wie Ursache der Krise, in der sich die Sozialkritik befindet. Zwar sorgen die Umbrüche in der Arbeitswelt, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten für Klagen, ja für Empörung, doch es fehlt nicht nur an zivilgesellschaftlichen Akteuren, die in der Lage wären, dieser Alltagskritik in den gesellschaftlichen Öffentlichkeiten eine Stimme zu geben. Auch die wissenschaftliche Sozialkritik verstummt. Ohne eine zivilgesellschaftliche Stimme, mit der sie korrespondiert, schwindet der Spielraum für wissenschaftliche „Gegenexpertise“ (Boltanski/Chiapello 2003: 210). Findet die Marginalisierung radikaler Kapitalismuskritik im öffentlichen Raum innerhalb von Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Entsprechung, gehen mit den Diskursspielräumen letztendlich auch Machtressourcen und Handlungsfähigkeit der potenziellen Träger alltäglicher Sozialkritik verloren (Urban 2013: 269). Für die wissenschaftliche Künstlerkritik (Entfremdungskritik) und ihr Verhältnis zu Neuen Sozialen Bewegungen, die stärker in der gesellschaftlichen Reproduktionssphäre verankert sind, ließe sich diese Wahlverwandtschaft in ähnlicher Weise begründen.
These 7: Im 21. Jahrhundert beinhaltet marxistisch inspirierte Kapitalismuskritik notwendig ein konservierendes Moment, das mit Zukunfts- und Fortschrittsgewissheit bricht.
Wissenschaftlich fundierte Kapitalismuskritik, die am Expansionismus dieses Systems ansetzt, muss sich einem vordergründigen Modernisierungsideal verweigern. Was das bedeutet, kann mit Antonio Gramsci begründet werden. Dessen vielzitierte Bemerkung, der zufolge die Hegemonie „in der Fabrik“ entspringt (Gramsci 1991: 132), kritisierte die technisch-organisatorische Rückständigkeit Italiens und Europas. Gerade das Fehlen des „Bleimantels“ der Tradition prädestinierte Amerika in Gramscis Augen dafür, die überlegene fordistische Produktionsweise einzuführen. Demnach ist es sedimentierte Geschichte, die in Italien und Europa einen Modernisierungsrückstand bewirkt; umgekehrt ermöglicht das Fehlen des „Bleimantels“ der Tradition Amerika eine „gewaltige Akkumulation von Kapitalien obgleich der Lebensstandard in den Volksklassen höher als der europäische ist“ (Gramsci 1999: 22). Tradition in ihren „parasitären“ europäischen Ausprägungen erscheint hier als Haupthindernis für die Durchsetzung einer neuen, effizienteren Produktionsweise.
In der Gegenwart verhalten sich Tradition und Effizienz in gewisser Weise spiegelverkehrt. Das Soziale am einstmals sozialen Kapitalismus hat die Subjektivitäten von Lohnabhängigen und ihren Familien derart geprägt, dass es, im Alltagsbewusstsein angelagert und somit sedimentierte Geschichte, sowohl als Rationalisierungsressource als auch als Inspirationsquelle alltäglicher Gesellschaftskritik wirken kann (Dörre et. al. 2013). Eine solche Kritik per se als „rückwärtsgewandt“ (Lessenich 2009: 224) zu attackieren, halte ich für verfehlt. Wie sollen sich Arbeiter und Angestellte produktiv mit einer wissenschaftlichen Kritik auseinandersetzen, die ihnen doch nur bescheinigt, dass sie hinter den Aktivierungs- und Flexibilisierungszwängen des zeitgenössischen Kapitalismus zurückbleiben? Eine subjektorientierte Analyse, die diesen Namen verdient, muss zunächst einmal die Ansprüche und Alltagskritiken möglichst prägnant beschreiben, die sie empirisch vorfindet, ohne sich auf diese zu beschränken. Nur über einen wechselseitigen Austausch, der das Alltagsbewusstsein in seiner Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit ernst nimmt, kann überhaupt so etwas wie Veränderungsbereitschaft entstehen.
In diesem Zusammenhang gilt es in Rechnung zu stellen, dass der vermeintliche Konservatismus gewöhnlicher Lohnabhängiger und ihrer Familien durchaus vernünftige Gründe haben kann. Terry Eagleton hat die daraus resultierende Problematik für gesellschaftsverändernde Praktiken mit folgenden Worten beschrieben: „Es ist […] darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Apathie durchaus vernünftig ist. Solange ein Gesellschaftssystem seinen Bürgern ein mageres Auskommen einbringt, ist es nicht unvernünftig, dass sie an dem festhalten, was sie haben, statt waghalsig in eine ungewisse Zukunft zu springen. Es gibt keinen Anlass, über einen solche Konservatismus zu spotten“. (Eagleton 2012: 225). Die ‚schlechte Nachricht‘ für kritische Theorie mit gesellschaftsverändernder Absicht lautet daher, „dass es Menschen außerordentlich widerstrebt, ihre Situation zu verändern, solange sie von dieser Situation noch etwas erwarten können“ (ebd.: 224).
These 8: Als interne Theorie sozialistischer Arbeiterbewegungen hat der Marxismus seine Daseinsberechtigung verloren. Ein Democratic Marxism des 21. Jahrhunderts muss sich auf den spannungsvollen Austausch mit akademischen Fachdisziplinen einlassen. Er kann dies, indem er als öffentliche Sozialwissenschaft betrieben wird.
Die überraschende Wiederkehr der Arbeiterinnenmilitanz und die neuen sozialen Bewegungen Ende der 1960er Jahre bewirkten ein Doppeltes: Von radikalisierten Mittelschichtengruppen getragen, kam es zu einer Revitalisierung oder Neubildung diverser Marxismen als interne Theorien von in Westdeutschland allerdings minoritären politischen und gewerkschaftlichen Strömungen. Zugleich wurden diese „Schulen“ aber auch als externe Theorien an den Hochschulen institutionalisiert (am Beispiel der „Marburger Schule“: Peter 2013; vgl. auch den Beitrag von Frank Deppe in diesem Band). Das galt für die Politikwissenschaften, weniger für die Ökonomik, die Soziologie, die Philosophie oder anderen Geisteswissenschaften. Der Frühling Marxscher Theorie, der mit der 1968er Bewegung einsetzte, blieb ein kurzer, weil die neuen Zentren einer an Marx orientierten Soziologie (Sozialwissenschaft) die Spielregeln des wissenschaftlichen Feldes zu wenig beachtet haben. Das Verhältnis von Marxismus und Fachdisziplin wurde häufig gar nicht thematisiert. Die Kommunikation mit dem Fach blieb schwach oder fand gar nicht mehr statt. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund ist – im Unterschied zum angelsächsischen Sprachraum – die Institutionalisierung eines akademischen Marxismus nicht gelungen. Einen „soziologischen Marxismus“, wie ihn Michael Burawoy (2003: 193) paradigmatisch begründet hat, gibt es im deutschen Sprachraum nicht. Selbst unter Marxistinnen sind die entsprechenden Arbeiten hierzulande kaum bekannt.
Die 1980er Jahre brachten nicht nur einen intellektuellen „Abschied vom Proletariat“ und damit zugleich einen Bedeutungsverlust Marxscher Theorie, sie waren auch ein Jahrzehnt theoretischer Innovation. Die diversen Marxismen wurden von „außen“ herausgefordert: vom Feminismus, von ökologischen Bewegungen, durch oppositionelle Gruppen in Osteuropa etc. Die kritische Auseinandersetzung mit Ökonomismus, Klassenreduktionismus, Androzentrismus und staatssozialistische Herrschaftspraktiken beinhalteten theoretische Innovationen, hinter die eine Marx orientierte kritische Soziologie/Sozialwissenschaft nicht mehr zurückfallen darf. Die beiden Jahrzehnte vor und nach der Jahrtausendwende waren, auch in Deutschland, keineswegs ausschließlich Jahre des Niedergangs und der Entakademisierung „des Marxismus“. Es waren auch Jahre beeindruckender wissenschaftlicher Arbeiten. Der Zugang zu akademischen Positionen erfolgte aber nicht über „den Marxismus“, sondern über fachwissenschaftliche Expertise. Individuell bedeutete und bedeutet dies häufig, das Spannungsverhältnis zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Fachlichkeit zugunsten Letzterer zu interpretieren.
Auch daran wird sichtbar: Wissenschaftliche Gesellschafts- und Kapitalismuskritik vermag den Praxisanspruch, wie ihn die Marxsche Theorie ursprünglich formuliert hat, nicht mehr einzulösen. Ernst Bloch (1973 [1959]: 677) hatte diesen hohen Anspruch in Das Prinzip Hoffnung zustimmend in folgende Worte gekleidet: „Marxismus ist Anweisung zum Handeln; wird er aber ebenso subjektlos wie zielfremd, dann entsteht fatalistischer Antimarxismus, degeneriert zur Rechtfertigung dafür, daß man nicht gehandelt hat“.
Aber was genau ist heute das Ziel? Kritik am Kapitalismus ist inflationär geworden. Selbst der Papst spricht von einer Wirtschaft, die tötet. Doch durch was wäre die kapitalistische Wirtschaft, wäre die kapitalistische Gesellschaft zu ersetzen? Auf diese Frage gibt es in der Gegenwart allenfalls vage Antworten. Deshalb ist „das Pathos des Grundziels“ (ebd.), von dem Ernst Bloch spricht, nicht mehr existent. Ein soziologischer Marxismus kann daher nur experimentell verfahren. Überbordenden Praxisansprüchen wird er sich aus guten Gründen verweigern müssen, denn zumeist wissen die Praktiker über ihre Praxisfelder mehr als ihre wissenschaftlichen Beobachter. Dennoch gibt es keinen Grund, dass sich Soziologinnen und Soziologen, Sozialwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen mit marxistischem Selbstverständnis in ihren Elfenbeinturm zurückziehen, zumal dieser vermeintliche Rückzugsraum längst zum Landnahmeobjekt geworden ist.
Für eine marxistisch inspirierte Sozialwissenschaft, die sich als öffentliche versteht, sind die Chancen auch im akademischen Feld keineswegs gering. Spätestens seit der Krise von 2008/2009 ist radikale Kapitalismuskritik – auch in Deutschland – wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Diskurse zurückgekehrt. In einem solchen diskursiven Kontext steigen längerfristig auch Chancen für eine Re-Institutionalisierung kritischer (marxistischer) Soziologie/Sozialwissenschaft im Wissenschaftssystem und an den Hochschulen. Dafür gibt es – und das ist besonders wichtig – ein Potential an jüngeren marxistisch orientierten WissenschaftlerInnen, die inzwischen durchaus eigenständig Theoriebildung betreiben (als ein Beispiel: Backhouse et. al. 2013). Um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, ist es sinnvoll, die Wechselbeziehungen zwischen außerakademischen Netzen und Zentren kritischer (marxistischer) Sozialwissenschaft und ihren institutionalisierten Stützpunkten an den Hochschulen auf eine neue methodologische Grundlage zu stellen. Dafür bieten Michael Burawoys Überlegungen zu einer Public Sociology einen geeigneten Rahmen.
Die wettbewerbsgetriebene Landnahme der Hochschulen und Universitäten (Dörre/Neis 2010), oder, wie Michael Burawoy sie bezeichnet, „a third wave of marketization“, hat den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft irreversibel zerstört (Burawoy 2008: 359). „Die Universität als Zentrum, von Kritik, von Nachfragen, von Reflexion, von generellen und fundamentalen Fragen“ sei „fast tot“, möglicherweise werde es in zwanzig Jahren „in Großbritannien keine Geisteswissenschaften mehr geben“, prognostiziert der Kulturwissenschaftler Terry Eagleton (2014: 12).
In Deutschland mag die Situation der Sozial- und Geisteswissenschaften etwas weniger prekär sein; der Trend zur „unternehmerischen Universität“ ist jedoch auch hierzulande unübersehbar. An dieser Problematik setzt das Konzept einer öffentlichen Soziologie an. Wenn von Konzept die Rede ist, so darf allerdings nicht übersehen werden, dass es sich um ein Label handelt, hinter dem sich unterschiedliche Forschungen und Formen der Wissensproduktion und des Wissenstransfers versammeln.
Öffentliche Soziologie beinhaltet, kurz gesagt, eine neue Beziehung zu gesellschaftlichen Gruppen, die sich der Verwettbewerblichung widersetzen. Dabei entsteht Deutungsmacht erst durch die soziale Nähe zu transformativem Wissen, das bei zivilgesellschaftlichen Akteuren latent immer schon vorhanden ist. Wissenschaftler nutzen jedoch die Alltagskritik als Quelle und Fundament wissenschaftlicher Gesellschaftskritik, und diese Kritik lässt sich umso überzeugender formulieren, als sie auf zuvor unentdeckte kritische Wissensbestände zurückgreifen kann. In einem solchen Rahmen könnten marxistische Theorie und Soziologie/sozialwissenschaftliche Fachdisziplinen in fruchtbaren Austausch treten. Dass dergleichen ohne Kontroversen und Dispute nicht zu haben ist, liegt auf der Hand. Doch wären Aufregung und ein wenig Skandal nicht allemal besser, als die allseits grassierende Langeweile kompetitiver Fachdisziplinen ins Unendliche zu verlängern?
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* Dieser Artikel ist dem Diskussionsband Was ist der „Stand des Marxismus“? Soziale und epistemologische Bedingungen der kritischen Theorie heute entnommen, herausgegeben von Alex Demirovic, Sebastian Klauke und Etienne Schneider, Westfälisches Dampfboot, Münster 2015.