Yves Kramer über FelS: Für eine linke Strömung

Ein politisches oder philosophisches Buch, das mein Denken und Handeln geprägt hat? Ich ziehe einige aus dem Regal, stöbere darin, stelle sie wieder zurück. Der Funke will nicht springen. Überall taucht ein „Ja, aber“ auf, das den Rest überstrahlt. Ich komme ins Grübeln. Gerne würde ich der Anfrage nachkommen und über ein Buch schreiben. Aber nein, es würde aufgesetzt wirken, ich müsste etwas konstruieren – so lief das nicht bei mir.

Als Dürrenmatt 1990 die Schweiz ein Gefängnis nannte, war ich 16 und mir ging es mit meinem kleinen Dorf am nördlichen Rand des Landes ähnlich. Nach und nach geriet meine kleine Welt aus den Fugen – und nahm Fahrt auf. Die Frisur wurde wild, die Kleider schwarz, die Schuhe klobig. Die Musik von Bands wie Fugazi, New Model Army oder Joy Division traf meinen Lebensnerv, der sich zwischen Aufbegehren und Verzweiflung spannte. In der Stadt entdeckte ich die WOZ, die man damals in Schaffhausen noch auf der Strasse kaufen konnte. Und im fernen Zürich verkündete bald ein grosses Graffiti beim Hauptbahnhof „alles wird gut“.

Auch Bücher begann ich zu verschlingen, allerdings keine mit theoretischen Inhalten. Eher zog ich mit Steppenwolf durch die Nacht, war mit Kerouac unterwegs und verfolgte Stillers Werdegang ebenso wie Zündels Abgang. Dabei unterstrich ich Sätze wie diesen von Markus Werner im Roman „Bis bald“: „Ich nehme, wie jeder Mensch, am liebsten wahr, was mich bestätigt, das ist fatal, […] eine Erfahrung aber müsste etwas sein, was uns widerlegt, was uns zumindest stutzig macht und das heisst weiterbringt und dehnt.“ Lust zu empfinden, wenn sich die Welt so gibt, wie man sie sieht, sei erbärmlich, lässt Werner seinen Ich-Erzähler weiter schwadronieren, es sei die Lust des Spiessers, „der sich vom Leib hält, was ihm fremd und neu erscheint“.

Anfang der 1990er-Jahre, fast zeitgleich zur Wohlgroth-Besetzung in Zürich, ärgerten sich in Berlin einige Autonome über diese Lust der Spiesser in ihren Reihen und holten zum Rundumschlag gegen das Elend der eigenen Szene aus. Schonungslos führten sie in der sogenannten „Heinz-Schenk-Debatte“ den Ghettocharakter der autonomen Bewegung und die Bedeutungslosigkeit der radikalen Linken vor. Sie kritisierten die subkulturelle Selbstbezogenheit und die Selbstmarginalisierung im „eigenen Biotop“ und beklagten die geringe Verbindlichkeit, informelle Hierarchien und verbissene Humorlosigkeit, die in der Szene umgegriffen hatten. Auch am hochtourigen Aktionismus der Autonomen liessen sie kein gutes Haar. Dieser gleiche dem eines „aufgeschreckten Hühnerhaufens“, der kopflos von Kampagne zu Kampagne hetze und den Militanzfetisch vor sich her trage, heisst es beispielsweise im Text mit dem bezeichnenden Titel „Die Autonomen machen keine Fehler, sie sind der Fehler“. Die Szene sei theoriefeindlich, verfüge über kein „kollektives Gedächtnis“ und müsse deshalb immer wieder bei null beginnen. Die Folge sei ein Treten an Ort, dem die Perspektiven abhanden gekommen sei.

Diese Debatte erreichte mich mit ein paar Jahren Verzögerung. Ich fand zu ihr über die linksradikale Berliner Initiative Für eine linke Strömung (FelS) und deren Zeitschrift arranca!. Meine erste arranca! – was soviel bedeutet wie „Leg los!“ – stöberte ich im Zürcher Infoladen Kasama auf, als ich für den St. Galler Antirassismus-Treff CaBi Mitte der 1990er-Jahre Demoplakate abholte. Inzwischen ist die 48. Ausgabe der Zeitschrift in Planung. Sie wird sich mit Organisierungsfragen der radikalen Linken beschäftigen – einem Steckenpferd der Gruppe FelS, die vor knapp 25 Jahren mit dem Anspruch antrat, sich als Linksradikale neu zu organisieren und revolutionäre Politik anders zu denken.

Die AktivistInnen, die FelS im Nachgang zur Heinz-Schenk-Debatte 1991 gründeten, wollten dem autonomen Elend entfliehen, ohne gleich alle Ideen der Autonomen über Bord zu werfen. „Der Gedanke der Emanzipation von unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen oder die Form der basisdemokratischen Organisierung blieben zentrale Eckpfeiler“, heisst es im Selbstverständnis von FelS. Nach wie vor gehe es um „emanzipatorische Theorie und Praxis, die an der Vorstellung einer grundsätzlich anders organisierten Gesellschaft festhält. Einer Gesellschaft, in der Herrschaftscharaktere und Unterdrückungsverhältnisse in Klasse, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und Bildungsstand aufgehoben sind, in der ein wirklich solidarisches Miteinander möglich ist.“

FelS setzt auf Offenheit und Kontinuität. In verlässlichen basisdemokratischen Strukturen soll kollektives Lernen möglich werden und die je eigenen Konflikte, Widersprüche und Wünsche einen gemeinsamen politischen Ausdruck finden können. „Es ist uns wichtig, keine Spezialisierung von (meist männlichen) ‚Vordenkern‘ zuzulassen und eine personelle Trennung in TheoretikerInnen und PraktikerInnen zu vermeiden.“ Inhaltlich wird bei FelS, wie andernorts auch, zu Antifaschismus, internationaler Solidarität, Queerfeminismus, sozialen Kämpfen und Klima gearbeitet. „Wir wollen mit unseren Argumenten sichtbar sein und sind überzeugt, dass Offenheit unter dem Strich ein besserer Schutz für linke Politik ist als eine defensive Abschottung.“ Seit 2005 ist FelS Teil der „Interventionistischen Linken“ (IL), die ihr Debüt auf der politischen Bühne 2007 in Heiligendamm mit Blockaden des G8-Sitzungsortes gab.

Es sei Unsinn, heisst es im Selbstverständnis der Gruppe weiter, jeden Tag den Sturm auf die Bastille auszurufen, wenn niemand da ist, der mitmacht. „Am Anfangen hindern sollte uns das jedoch nicht. Wer Veränderung will, muss sie selber machen.“ Neben subversiven Grenzüberschreitungen und Regelverstössen gehören zum Repertoire von FelS insbesondere Aktionsformen und Ansätze, „die Sichtachsen in eine andere Gesellschaft“ ermöglichen und auch Menschen ausserhalb des linksradikalen Mikrokosmos erreichen. In „Richtungsforderungen“ wie z.B. Globale Soziale Rechte, Existenzgeld, Bewegungsfreiheit oder Öffentliche Güter für alle sehen sie solche.

Ihren theoretischen Hintergrund beschreibt die Gruppe folgendermassen: „Viele unserer theoretischen Debatten waren und sind durch das weite Feld des heutigen kritischen Marxismus und Operaismus inspiriert. Wir halten es für fruchtbar, sich mit den verschiedenen Ideen und Versuchen der Befreiung des Menschen zu beschäftigen, um Fehler zu reflektieren und daraus zu lernen. Es war uns immer wichtig, gesellschaftliche Widersprüche nicht auf die Ökonomie oder gar nur auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu reduzieren. So hat speziell die Auseinandersetzung mit Gramscis Theorien von Zivilgesellschaft und Kämpfen um (kulturelle) Hegemonie viele unserer Debatten geprägt. Selbiges gilt für die antirassistischen und feministischen Beiträge zur Gesellschaftsanalyse der 1980er-Jahre, deren Weiterentwicklungen sich heute in Diskussionen über Genderpolitiken, Globale Soziale Rechte oder Überlegungen zur weltweiten Klassen-Neuzusammensetzung finden lassen. Die Erkenntnis der Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist uns ebenso wichtig wie die Identifikation der jeweils eigenen Position und die sich daraus ergebenden Interessen und Handlungsoptionen.“

Dem (Lese-)Stoff, der diese Auseinandersetzung, vermittelt über die arranca! und später auch übers Internet, abwirft, konnte ich viel abgewinnen. Die – wenn man so will – „autonome Intellektualität“, die darin Ausdruck findet, öffnete mein Denken, überforderte es bisweilen auch, und weitete mein Wissen, indem sie mir vielfältige Zugänge zu linker (Theorie-)Geschichte und aktuellen Debatten bot, die ich in dieser Form andernorts nicht finden konnte. Mit Markus Werners Ich-Erzähler könnte man von (Lektüre-)Erfahrungen sprechen, die im besten Sinne stutzig machten, Fragen aufwarfen – und auch manches widerlegten, was ich mir im Laufe der Jahre zwischen Volksküche und Infoveranstaltung, zwischen kein mensch ist illegal und reclaim the streets, zwischen Davos und Genua zurechtgelegt hatte.

Bei FelS ist man überzeugt, dank arranca! habe die Gruppe „ein theoretisches Profil innerhalb der Linken gewonnen und Theoriebildungsprozesse beeinflusst“. Das mag vollmundig klingen, für mich aber stimmt es so. Ob ich trotz oder gerade wegen der kritischen Reflexion linker Theoriebildung und Szenegewohnheiten, wie sie FelS betreibt, ein Aussenseiter in wechselnden Zusammenhängen blieb, der nirgends richtig Fuss fasste? Ich weiss es nicht. Dass meine Bezüge zu den Debatten in der arranca! in letzter Zeit loser geworden sind, hat jedenfalls mehr mit mir zu tun, als mit FelS.

„Wenn man das Unmögliche nicht verlangt, wird das Mögliche immer kleiner“, hat der Dramatiker Heiner Müller einmal gesagt. Damit dies nicht passiert, braucht es eine starke linke Strömung, die sich mit dem Gegebenen nicht abfindet – in diesem Sinne gilt nach wie vor: arranca!


Yves Kramer, geb. 1974, arbeitet Teilzeit als subalterner Angestellter, gelegentlich auch als Journalist, ist Hausmann und Vater von 3 Kindern. Er lebt in einer Genossenschaft in Zürich, hinkt seinen politischen Ansprüchen mal mehr, mal weniger hinterher, mag zeitgenössische Literatur, sammelt Schallplatten, geht oft ins Theater und regelmässig ins Fussballstadion.




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