Nach 33 Jahren journalistischer Tätigkeit in Lateinamerika bin ich 2002 in die Schweiz zurückgekehrt. Seither versuche ich, den Fokus der Beobachtung des politischen Geschehens Schritt für Schritt zu erweitern, ohne meinen früheren Lebensraum aus den Augen zu verlieren.
Bei dieser Suche stiess ich auf die «Humane Wirtschaftsdemokratie» von Ota Sik, der 1968, in den Zeiten des Prager Frühlings, grundlegende Reformen in der kommunistischen Tschechoslowakei unter Parteichef Alexander Dubcek eingeleitet hatte. Dieses Buch sollte sich zwar nicht als der Weisheit letzter Schluss erweisen, aber für mich doch als wichtige Station auf der Suche nach einer menschenwürdigeren Gesellschaft. Zu neuen Erkenntnissen haben mich darüber hinaus unter anderem Werke des Wirtschaftsethikers Peter Ulrich («Transformation der ökonomischen Vernunft – Fortschrittsperspektiven», «Integrative Wirtschaftsethik – Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie») sowie Nachforschungen von Ulrich Gärtner und Peter Luder, seinerzeit Assistenten Siks an der Hochschule St. Gallen, über «Ziele und Wege einer Demokratisierung der Wirtschaft» geführt.
Demokratisierung und Humanisierung der Wirtschaft sind als Anliegen so alt wie die Linke, die ja ihrerseits etwa gleich alt ist wie der Kapitalismus und gewissermassen anlässlich der Französischen Revolution aus der Taufe gehoben wurde. Noch wesentlich älter sind sie im Leben und Wirken der schweizerischen Eidgenossenschaft. In ihr haben die Ideale der Kooperation und Solidarität in Wirtschaft und Infrastruktur schon lange zuvor einen viel höheren Rang eingenommen, als es manche Bürgerliche und Unternehmensmagnaten wahrhaben möchten.
Das Postulat menschenwürdiger Verhältnisse in der Arbeitswelt hat in den Überlegungen linksgerichteter Kreise in der Schweiz besonders seit den 1970er Jahren neuen Raum gefunden. Derselbe Trend zeichnet sich in manchen europäischen und lateinamerikanischen Staaten ab – gerade auf EU-Ebene mit einigen bemerkenswerten Ergebnissen. Wenn jetzt das Thema in unserem Land ebenfalls konkretere politische Formen annimmt, dann scheinen vorderhand vor allem technische Fragen im Vordergrund zu stehen: Welche Formen soll Mitbestimmung in den Betrieben annehmen? Welche Bereiche, Kategorien und Grössen von Unternehmen sollen davon betroffen sein? Es werden Überlegungen über Anzahl Mandate der Belegschaft im Betriebsrat und über Prozentanteile am Kapital etc. gemacht.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass solche Initiativen wie Speerspitzen in das Fleisch der bürgerlichen Gesellschaft eindringen werden. Die Reaktionen darauf werden umfassend, höchst aggressiv und auch verzerrend ausfallen. Darum scheint es mir richtig, wenn sich die Linke rechtzeitig und geduldig mit allen möglichen Einwänden seitens der Rechten befasst. Man sollte sich insbesondere genau überlegen, welche Argumente und Appelle, die den lebensphilosophischen Hintergrund einer derartigen Initiative betreffen sollten, den Stimmberechtigten einleuchten können.
Nämlich zum Beispiel: Wollen wir uns weitertreiben lassen in einem wirtschaftlichen Wachstumsdenken, das nur dem Profitstreben entspringt und viel wichtigere Bedürfnisse beiseite lässt, die im Rahmen einer solidarisch orientierten Wirtschaft entschieden stärker berücksichtigt würden? Wie weit wollen wir den Irrsinn der Wegwerfgesellschaft und Umweltzerstörung noch treiben, anstatt uns an grundlegenden Bedürfnissen zu orientieren? Wie extrem einseitig soll der Reichtum, Ergebnis der im Kapitalismus neoliberaler Prägung herrschenden Machtverhältnisse, noch weiter kumuliert werden, wo doch in der Steuer- und Sozialpolitik wegen des anhaltenden Steuerbetrugs überall auf der Erde immer grössere Löcher klaffen? In welchen Bereichen der Wirtschaft hat privates (oder auch staatliches) Profitdenken nichts zu suchen, sondern einzig und allein (wenn auch durchaus effizient) den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu dienen? Wie lange dürfen wir noch zuschauen, wie die Arbeitsverhältnisse für wachsende Bevölkerungskreise immer prekärer werden und mühsam eroberte Rechte geschleift werden? Dürfen Verwaltungsräte und Manager von Konzernen und Banken weiterhin einsame Beschlüsse fassen und die Kosten allfälliger – in den letzten Jahren immer häufiger aufgetretener – Fehlentscheide der Allgemeinheit aufbürden? Oder braucht es viel eher kooperative und solidarische, somit echt demokratische Mechanismen, um den Gang der Wirtschaft in vernünftigere Bahnen zu leiten?
Die Debatte über die Demokratisierung der Wirtschaft sollte also beide Ebenen, den praktisch-technischen Ablauf der Mitbestimmung, wie auch den gedanklichen Hintergrund umfassen, wenn die Attacken des bürgerlichen Lagers einleuchtend und wirksam gekontert werden sollen. Das setzt eine gründliche, wohlüberlegte Strategie der Initianten voraus. Nichts könnte der Sache mehr schaden als Schnellschüsse und fehlende Munition wie etwa im Falle der wiederholten Krankenkassen-Initiativen, bei denen schlagende Beispiele für erfolgreiche, kostensparende Grundversicherungen in so gut organisierten, friedlich und harmonisch funktionierenden Gesellschaften wie Schweden, Dänemark und Kanada kaum Erwähnung fanden.
Sik, Ota: «Humane Wirtschaftsdemokratie – Ein dritter Weg». Knaus Verlag. Hamburg 1979.
Ulrich, Peter: «Integrative Wirtschaftsethik». Haupt Verlag. Bern 1997.
Ulrich, Peter: «Transformation der ökonomischen Vernunft». Haupt Verlag. Bern 1993.
Gärtner, Ulrich / Luder, Peter: «Ziele und Wege einer Demokratisierung der Wirtschaft». Rüegger Verlag. Diessenhofen 1979.
Mit dem Diskussionsbeitrag «Wer von Entscheidungen betroffen wird, soll mitbestimmen können» nimmt Willy Spieler auf diesen Artikel Bezug.
Damian Bugmann
Die stinkreichen Händler und Spekulanten werden ihre diktatorische Macht nicht durch eine Abstimmung aus den Händen geben. Das ist auch nicht nötig, solange eine Mehrheit des Stimmvolks glaubt (Verinnerlichung von Ideologie, schöne neue Religion), diese seien Ehrenmänner und Wohltäter, Abzocker seien die Ausnahme.
Esther Gisler Fischer
Da fehlt noch eine Publikation einer Frau: https://www.boell.de/de/2015/02/19/wirtschaft-ist-care-oder-die-wiederentdeckung-des-selbstverstaendlichen
Raymond Saner
Lieber Romeo,
Ich lese Deine Kolumne im Infosperber regelmässig, vielen Dank für die regelmässigen Ueberblicke auf Südamerika. habe auch Dein Buch gekauft “Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jh bis Gegenwart”, feue mich auf die Lektürer,
ich war Leiter eines 2-jährigen Projektes in Bolivien um 2000, war BAWI finanziert, bin seitdem in Kontakt geblieben mit Kollenge in Bolivien- https://www.csend.org/projectsamples/bolivia, wünsche gute Osterzeiten, Raymond