Schon Gestaltung und Haptik des Buches kündeten 1981 von Erweiterung, Bruch und Transformation ineins: gediegener dunkelblauer Umschlag, Autorennamen und Buchtitel in Goldprägedruck, 1283 Dünndruckseiten, rosa-orange, an die Eleganz und Griffigkeit der Gazzetta dello Sport erinnernd. Die protestantisch-nüchterne MEW-Ausgabe der DDR wurde hier ernstgenommen und ironisch-subversiv unterlaufen: Lust auf Ökonomie, Bedürfnis/Wunsch und Ästhetik verkündete alleine schon die Aufmachung des Buchs. Zweifellos ist hier die Handschrift des Juristen, Kirchenmusikers, Filmemachers, Fernsehproduzenten und Autors Alexander Kluge zu erkennen.
Bereits die Aufmachung von Geschichte und Eigensinn machte also klar: Hier geht es um die mannigfaltigen Verwicklungen von gesellschaftlichen und persönlichen «Lebensläufen» – ökonomisch, politisch, kulturell. Es geht also ums grosse Ganze. Bloss, wie?
Für den Einstieg in die Lektüre, in die Aneignung des Buches ist man gut beraten, etwas zu tun, was man sonst eher vermeidet: Das Vorwort und die Nachbemerkung zuerst zu lesen.
Im Vorwort umreissen Oskar Negt und Alexander Kluge ihr Unterfangen: «Wir legen ein Gebrauchsbuch vor […]. Uns interessiert, was, in einer Welt, in der es offenkundig ist, dass Katastrophen eintreten, die stoffverändernde Arbeit leistet. Das sind die geschichtlichen Arbeitsvermögen: Entstanden aus Trennungsprozessen und bewaffnet mit Eigensinn, der sich gegen die Trennungen wehrt.» Und: «Wir vertrauen […] auf eine entspannte Aufmerksamkeit des Lesers.» Schliesslich endet das Vorwort mit dem beiläufig notierten Lesehinweis: «Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.»
Die Nachbemerkung beginnt mit «Dies Buch hat uns erschöpft. Es ist ein Fragment. In Einschätzung des Gegenstands, von dem wir handeln, wollen wir auch nichts anderes. Man muss die Lücken mitlesen.» Und endet mit einem Zitat aus Bertolt Brechts Buckower Elegien: «Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen. ‹Ginge da ein Wind / Könnte ich ein Segel stellen. / Wäre da kein Segel / Machte ich eines aus Stecken und Plane›.»
Zwischen Vorwort und Nachbemerkung türmen sich rund 1280 Seiten – wissenschaftliche und literarische Texte (eigene und fremde), Fotografien, Diagramme, Thesen, Illustrationen, Grafiken, Notizen, Tabellen, Kommentare, hervorgehobene Text- und Bildkästen (mitunter invertiert, helle Schrift auf schwarzem Grund). Kurz, ein Gewusel, ein Dickicht an montierten Fragmenten und Formaten. «Um Zusammenhang herzustellen, muss ich Zusammenhänge auseinanderreisen», ist ein Credo Alexander Kluges seit seinen frühesten Arbeiten.
Ihren Brecht – neben vielen anderen, marxistischen wie nicht-marxistischen Autoren – haben die beiden gut gelesen. Vor allem haben sie bei ihm gelernt, dass «Begriffe die Griffe sind, mit denen man Dinge bewegen kann». Vergleichbar Gilles Deleuze und Félix Guattari (dessen Werke die beiden kennen), wenn auch weniger radikal in der Neuschöpfung von Begriffen, haben Negt und Kluge eine Reihe von Begriffen stark und ihren Gebrauchswert plastisch gemacht, die auch für eine zeitgenössische Analyse gesellschaftlicher und individueller Konfigurationen äusserst brauchbar scheinen. Begriffe und Begriffskombinationen wie Nah- und Fernsinne, Arbeitsvermögen, Automaten, Gewalt des Zusammenhangs/Trennung, das Wirkliche, Unbestimmtheitsprinzip, Knochen-Gefässe-Körbe, Ehre-Würde-Eid, Gravitationsverhältnisse, Ungetüme der Erfahrung, Krieg als Arbeit, Beziehungsarbeit, Bedürfnis nach Orientierung, Enteignung der Sinne.
Der vielleicht bedeutsamste dieser Begriffe: Eigensinn. In einer luziden Interpretation des kürzesten aller von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten Märchen – es umfasst nur wenige Zeilen und heisst Das eigensinnige Kind – zeigen Kluge/Negt, was die Realität und das Potential dieses meist negativ konnotierten Begriffs sind: Sie haben den reichen Gehalt des Begriffs Eigensinn/Eigensinnigkeit – Wort und Motivkern existieren nur im deutschen bzw. nordischen Sprachraum – herausgearbeitet und ihn als erweiterten und transformierten Begriff zum strategischen Angelpunkt ihrer individual- und gattungsgeschichtlichen Entwicklungsanalytik gemacht. Eigensinn bestimmen sie 1. als Fokus, in dem sich Geschichte als Zentrum dialektischer Gravitationsverhältnisse begreifen lässt, 2. als Resultat bitterer Not, 3. als Reaktion auf die Gewalt des Zusammenhangs, 4. als den auf einen Punkt zusammengezogenen Protest gegen Enteignung der eigenen Sinne, die zur Aussenwelt führen, 5. als Weiterarbeit der aus der Gesellschaft verdrängten, abgezogenen Motive dort, wo sie am geschütztesten sind, im Subjekt.
Für Negt/Kluge verknoten sich im Eigensinn der Individuen zwei unterschiedliche Prozesse: Zum einen ist er der Ort der verdrängten, nicht gelebten Wünsche, die sich im Laufe eines individuellen und gesellschaftlichen Lebens anhäufen, ein Unabgegoltenes, das sich, weil nicht totzukriegen, hinterrücks immer wieder bemerkbar macht (die Hand des eigensinnigen Kindes bei den Grimms, die nach seinem Tod immer wieder aus dem Grabe kommt, weil das Kind keine Ruhe findet). Zum anderen ist er Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen und individuellen Prozesse: gesellschaftlicher Ausgangspunkt für jedes politische und kulturelle Projekt, individueller Ausgangspunkt für ein selbst-bestimmtes, eigen-sinniges Leben. «Eigen-Sinn, eigener Sinn, Eigentum an den fünf Sinnen, dadurch auch Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber allem, was in der Umwelt passiert» ist der, individualgeschichtlich immer wieder zu erarbeitende, Ort, von dem aus sich ein eigenes Leben – unter jeweils konkreten, gegebenen Bedingungen – entfalten kann bzw. muss. Im alltäglichen Leben erfüllen die Menschen nicht nur von aussen gesetzte Anforderungen, sondern sie verfolgen ihre eigenen Ziele, indem sie bald bewusst, bald unbewusst mit überraschenden, eigen-artigen und störrischen Haltungen den Dingen, die sie ökonomisch, politisch oder kulturell tun sollen, ausweichen, diese unterlaufen, ausser Acht lassen, sie durchqueren.
Es ist dieser eigene, manchmal bizarre und oft widersprüchliche Wille/Wunsch/Bedürfnis der Menschen, das zu tun, was sie selber tun wollen, unter welchen Bedingungen auch immer, ihre selbstbestimmten Handlungen, ihre Mentalitäten und ihre Widerborstigkeiten, und ihre sich immer wieder verquer äussernden Wünsche, die den Eigensinn von Individuen am besten umschreiben.
Für mein eigenes Arbeiten ist der Begriff des Eigensinns zu einem zentralen Begriff geworden, in dem Versuch, die einen und anderen Dinge (und Verhältnisse) in Bewegung zu bringen.
Oskar Negt/Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main 1981. Zweitausendeins, 1283 S.
Decker, Adeline Erika
Ich bin als 80-jährige dankbar für diesen Beitrag!
Lektüre “Dezember” hat mich veranlaßt, mehr über den Autor A. Kluge zu erfahren. Fünf Gesichtspunkte zu dem Begriff eigensinnig, Dank! AE D.